In der Krise kann man sich schnell in der Opferrolle sehen. Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Angst stellen sich ein. Wie kann man sich aus der Opferrolle lösen?
Die Coronavirus-Pandemie, die im Frühjahr 2020 ihren Anfang nahm, traf die gesamte Bevölkerung plötzlich, unvorbereitet und unverschuldet.
Innerhalb weniger Tage veränderte sich die Lage in allen Bereichen der Gesellschaft drastisch. Das Wirtschaftsleben war stark beeinträchtigt und dies hinterließ auch an den Finanzmärkten tiefe Spuren.
Schon nach relativ kurzer Zeit befanden sich viele Länder mitten in einem Krisenmodus und ein Ende schien nicht abzusehen. Es stellte sich die Frage: Wie kann man eine so schwere Krise wie diese bewältigen?
Die Coronavirus-Pandemie ist, so starke Auswirkungen sie auch mit sich brachte, doch nur eine Krise von vielen. In jeder Krise stehen Politik und Wirtschaft in der Verantwortung, auf ihren jeweiligen Gebieten Wege zur Krisenbewältigung zu finden, aufzuzeigen, verständlich zu machen und diese Wege kraftvoll zum Wohl der Gesellschaft umzusetzen.
Und dann ist in einer Krise jeder für sich auf ganz individuelle Weise betroffen. Vielleicht ist der Arbeitsplatz bedroht. Vielleicht fällt das Einkommen aufgrund von Kurzarbeit geringer aus. Vielleicht hat man auch gar keine Einnahmen. Die Ausprägungen der persönlichen Betroffenheit sind ganz unterschiedlich.
Wie geht man mit der Krise auf der persönlichen Ebene um? Wie kann man die Krise bewältigen? Wie kann man gut für sich selbst sorgen?
11 Tipps sollen Antworten auf diese Fragen geben und dabei unterstützen, möglichst gut durch eine tiefgreifende Krise zu kommen.
Dieser Tipp befasst sich mit der Frage, wie man sich in der Krise aus der Opferrolle lösen kann.
Tipp: Sich aus der Opferrolle lösen
Am 15. September 2008 verweigerte die US-Regierung die Rettung der Investmentbank Lehman Brothers, der viertgrößten Investmentbank an der New Yorker Wallstreet. Die Folgen dieser Entscheidung erschütterten das gesamte Bankensystem. Bedingt durch die finanziellen Abhängigkeiten der Banken untereinander gerieten die Finanzmärkte weltweit ins Wanken. Die größte Weltwirtschaftskrise seit Ende der 1920er Jahre zwang weltweit Notenbanken zu gigantischen Rettungsmaßnahmen.
Lehman Brothers musste am 15. September 2008 Insolvenz anmelden. Während die Investmentbank im Jahr 2007 weltweit 28.600 Angestellte beschäftigte, waren wenige Tage nach dem Zusammenbruch nur noch 170 Mitarbeiter für Lehman Brothers tätig. Rund 25.000 Mitarbeiter wurden Opfer der Insolvenz und erhielten vom Insolvenzverwalter die Kündigung. Die von Lehman Brothers ausgehende Kündigungswelle breitete sich um den gesamten Erdball aus.
Anfang des Jahres 2020 verbreitete sich das Coronavirus in Windeseile über nahezu alle Kontinente. Die Anzahl der Infektionen steigerte sich rasant, wodurch das Gesundheitssystem vor immense Herausforderungen stellt wurde. Regierungen sahen sich zu harten Einschnitten in das Wirtschaftsleben gezwungen, verbunden mit weitreichenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit ihrer Bürger. Innerhalb weniger Wochen wurden viele Arbeitskräfte in Kurzarbeit gezwungen oder verloren sogar ihre Arbeitsstelle. Vielen Unternehmen, beispielsweise Reiseveranstaltern, Hotelbetrieben und Fahrschulen, wurde die Ertragsgrundlage ganz oder großenteils entzogen.
Anders als bei der Weltwirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 verursachte die Coronavirus-Pandemie sehr schnell eine Angebots- wie Nachfrageknappheit. Die Angebotsknappheit entstand großenteils durch zusammenbrechende Lieferketten, die Nachfrageknappheit großenteils durch die den Bürgern und Unternehmen auferlegten Einschränkungen.
Unverschuldet in die Krise geraten
Ereignisse, die viele Menschen in einen Sog gesundheitlicher, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Probleme reißen, sind eine Tatsache der Menschheitsgeschichte. Immer wieder bringen Schadensereignisse Menschen unvermittelt und unverschuldet in Not. Existenzen sind gefährdet. Unternehmen, ob klein oder groß, geraten in Schwierigkeiten und müssen Insolvenz anmelden. Menschen verlieren ihre Arbeitsstelle, werden ihrer Gesundheit beraubt, aus ihrem sozialen Gefüge gerissen. Oder irgendeine andere Ursache ist dafür verantwortlich, dass nichts mehr ist, wie es war.
Wie kann man damit umgehen, wenn das Leben durch äußere Einwirkung und ohne eigenes Verschulden plötzlich „auf den Kopf gestellt“ wird? Die eigenen Pläne lassen sich auf einmal nicht mehr verwirklichen. Man muss um die Existenz kämpfen. Und man muss das Leben wieder neu in den Griff bekommen.
Gekämpft und doch verloren?
Vielleicht hat man gekämpft, hat alles gegeben. Man hat die Insolvenz kommen sehen. Oder man hat kommen sehen, dass man sein Haus, in das man so viel Geld und Kraft hineingesteckt hat, verkaufen muss oder dass es sogar zwangsversteigert wird. Oder man musste sich von etwas anderem trennen, was einem lieb und teuer war.
Man hat sich mit aller Kraft dagegengestemmt. Und vielleicht man hat es anderen gegenüber verheimlicht, wo immer es ging. Vielleicht hat man alles in sich „hineingefressen“ und mit niemandem über die Situation gesprochen. Am Ende hat man aber doch verloren.
„Andere sind schuld“
Ja, manchmal sind andere schuld. Man war oder ist selbst machtlos und konnte nichts abwenden. Liegt es nicht nahe, sich als Opfer zu sehen, was man ja auch ist, und aufzugeben? Wäre es nicht nur zu verständlich, zu sagen: „Es hat doch alles keinen Sinn mehr“?
Manchmal sind jedoch andere nicht oder zumindest nicht alleine schuld. Man hat selbst Fehler gemacht und sich in eine schlimme Situation hineinmanövriert. Doch man schiebt die Schuld anderen zu, schiebt damit Verantwortung auf sie ab und nimmt für sich in einer Krise die Opferrolle an.
Was sind denn die Konsequenzen, wenn man in der Krise die Opferrolle annimmt?
Macht über sich abgeben?
An der Situation selbst ändert sich nichts. Ob man die Situation nicht wahrhaben will oder ob man das, was gerade ist, akzeptiert – für die Sache ist dies unbedeutend. Man kann nur seine eigene Einstellung zu den Dingen ändern. Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl drückte es so aus: „Wenn wir eine Situation nicht mehr ändern können, müssen wir uns selbst ändern.“ Die Betonung liegt auf müssen.
Wenn man sich in der Krise in die Opferrolle fallenlässt, gibt man Macht und Kontrolle über sein Leben ab. Man begibt sich in eine passive Rolle und schiebt Verantwortung für sich ab. Gefühle der Ohnmacht der Hilflosigkeit oder der Angst sind eine psychisch belastende Folge davon.
Außerdem besteht die Gefahr, auf Menschen zu hören, die sich mit ihren Meinungen und Einschätzungen in das Leben drängen. Die sogenannten Besserwisser können einem ungefragt genau und detailliert aufzählen, was man ihrer Meinung nach alles falsch gemacht hat, was man alles übersehen hat und wie man es hätte besser machen können. Und es gibt die Schwarzseher, die einem zu verstehen geben, dass es ja von Anfang an nichts werden konnte.
Man befindet sich selbst schon in einer schlimmen Situation. Da helfen die Meinungen und Einschätzungen von Besserwissern und Schwarzsehern in keiner Weise. Sie können aus ihrer Perspektive heraus argumentieren, ohne die geringste Verantwortung übernehmen zu müssen. Da lässt es sich leicht argumentieren.
Auch deren Einschätzungen ändern nichts an der aktuellen Sachlage. Wenn man sich ihren Argumentationen hingibt, macht man sich von den Einschätzungen anderer abhängig. Auch dann gibt man Macht und Kontrolle über sich ab. Ist es dann nicht eine Art gesunder Selbstschutz, wenn man sich von Besserwissern und Schwarzsehern lieber fernhält?
Nicht der Vergangenheit nachtrauern
Die Vergangenheit, also alles was bis zum jetzigen Augenblick geschehen ist, lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Was kann es also bringen, der Vergangenheit nachzutrauern? Und was kann es bringen, sich selbst anzuklagen, wenn man eigene Fehler sieht? Das „ach hätte ich doch nur …“ kann einen definitiv nicht weiterbringen. Wenn man hätte, dann hätte man, aber man hat eben (leider) nicht.
Bewusst machen, was im Leben wirklich wichtig ist
Ein einschneidendes Ereignis, wie beispielsweise eine Insolvenz oder eine Arbeitslosigkeit mit geringen Perspektiven, wieder eine adäquate Arbeitsstelle zu finden, erzwingt eine Zäsur im Leben. Wenn man eine Situation nicht mehr ändern kann, muss man sich selbst ändern, so formulierte es Frankl.
Wie kann diese Änderung aussehen? In welche Richtung könnte oder müsste man sich ändern?
Eine Frage zu Beginn der Neuorientierung könnte lauten: Was füllt das Leben wirklich aus? Wenn man gerade in der Krise steckt, hat man ja schon erfahren, wie unsicher, verletzlich und brüchig alles sein kann. Was bisher galt, gilt jetzt vielleicht nicht mehr. Was hat das Leben bisher ausgefüllt? Soll oder kann das auch in der Zukunft so bleiben oder muss ein neuer Kurs gesetzt werden?
Die Eingangsfrage führt zur Frage nach den eigenen Werten. Welche Werte hat man bisher gehabt? Was ist beispielweise Geld wirklich wert? Macht Geld wirklich glücklich? Was ist eine menschliche Beziehung wert? Und was ist sie wert, wenn sie von Liebe getragen ist? Fragen über Fragen. Es gibt so vieles, was zu überprüfen und wieder neu zu bewerten ist.
Dann stellt man vielleicht (wieder) fest, dass sich Zuneigung und Liebe eines Menschen mit keinem Geld der Welt kaufen lässt, während sie gleichzeitig nichts kosten. Dann ist eine geliebte Person das Wertvollste, was man hat. Und dann ist die Freundin oder der Freund, mit der bzw. dem einen eine sehr vertrauensvolle Beziehung verbindet, etwas ganz Wertvolles.
Den Kurs neu setzen
Wenn man sich in der Krise bewusst von der Opferrolle gelöst und verabschiedet hat, ist die Zeit gekommen, den Kurs neu zu setzen. Es fängt damit an, sich selbst als Gestalter der eigenen Gegenwart und Zukunft zu sehen und für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Die eigenen Werte, die einem für Gegenwart und Zukunft wichtig sind, die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen und das, wofür man sich zutiefst begeistert, bestimmen den Kurs.
Man kann sich vor seinem inneren Auge vorstellen, dass man als Kapitän die Kommandobrücke betritt. Man betritt sie nicht gebeugt und schlurfend, sondern kraftvoll und im Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen. Und man betritt sie im Bewusstsein seiner Wertigkeit und, nicht weniger wichtig, im Bewusstsein seiner Würde.
Das Besinnen auf die eigenen Ressourcen gibt Mut, sich Gegenwart und Zukunft zu stellen und hilft, Ängste zu überwinden. „Erst der Mut zu sich selbst wird den Menschen seine Angst überwinden lassen.“, so drückte es Viktor Frankl aus.
Wenn man auf der Kommandobrücke angekommen ist, könnte man seinen Kurs in Worte fassen, etwa so:
„Die Vergangenheit liegt hinter mir. Ich kann sie nicht mehr ändern. Jetzt schaue ich nach vorne. Ich bin Gestalter meines Lebens und meiner Zukunft. Ich habe ein Gehirn, mit dem ich meine Gedanken lenken kann. Ich habe die Macht, zu entscheiden, was und wie ich werde. Ich sehe mich nicht als Opfer, sondern nehme mein Leben in die Hand und übernehme Verantwortung. Für Selbstmitleid lasse ich mir keinen Raum.
Ich kann entscheiden, wie ich meine Fähigkeiten und Kompetenzen einsetze. Wenn es notwendig ist, kann ich mich verändern. Der Kapitän bin ich und den Kurs bestimme ich!“
Wenn man seinem Kurs folgt, wird man Entscheidungen treffen, die den Lebensweg positiv beeinflussen.
Das Leben ist mehr als die Krise
Das Leben ist mit der Krise nicht zu Ende. Es wäre schade, wenn man das Leben der Krise opfern würde. Das Leben ist mehr als die Krise.
Die Krise wird ein Ende haben. Man wird sie überstehen, vielleicht, bildlich gesprochen, sehr ramponiert und zerzaust. Vielleicht muss man wieder ganz von vorne anfangen. Aber man kann sich in der Krise auch entwickeln, Neues lernen und Erfahrungen sammeln, die für einen später einmal wieder wichtig werden können.