Wie kann man seine Mitte finden und mit sich ganz in Einklang kommen und sein? Eine spannende Frage.
Was bedeutet „seine Mitte finden“ überhaupt? Und vor allem: was ist die Mitte? In Büchern und natürlich auch im Internet lässt sich vieles darüber finden. An guten Ratschlägen fehlt es wahrlich nicht. Doch manchmal scheint man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen.
Wie fängt man damit an, wenn man seine Mitte finden möchte? Und wie könnte man vorgehen? Dieser Beitrag greift diese Fragen auf und gibt einen kurzen Überblick über die Thematik.
Was ist die „Mitte“?
„Mitte“ bedeutet für jeden Menschen etwas Anderes, etwas Individuelles. Es bedeutet, dass etwas ausbalanciert ist, sich im Gleichgewicht befindet. Mitte bedeutet, dass man für sich selbst „stimmig“ ist, in der jetzigen Lebenssituation. Das setzt voraus, dass man sich selbst annehmen, ja, selbst lieben kann, Stimmigkeit ist in erster Linie ein Gefühl, das aus dem Herzen kommt. Es ist das Gefühl, dass man mit sich im Einklang ist, dass man ausgeglichen ist. Körper, Seele und Geist harmonieren. Wenn man seine Mitte findet, findet man gewissermaßen sich selbst.
Die Mitte finden geschieht nicht im luftleeren Raum. Man nimmt sich immer wieder als einen Menschen wahr, der Fehler macht, der Schläge zu verkraften hat, der verletzt wird und selbst andere verletzt. Man ist eingebunden in ein Umfeld, hat tagtäglich mit Problemen zu kämpfen und verursacht auch selbst Probleme.
Weshalb sollte man seine Mitte finden?
Wenn man sich selbst kennengelernt hat und im Einklang mit sich selbst lebt, nimmt man das Leben intensiver wahr. Dann weiß man auch, was einem guttut und was einem schadet. Und man kann sich besser abgrenzen und dann auch konsequent „Nein“ sagen, wenn einem die innere Stimme es so sagt. Man muss keine Dinge (mehr) tun, die einem nicht wirklich zusagen, keine Ziele verfolgen, die für einen nicht wirklich erstrebenswert sind. Dadurch gewinnt man Freiheit und die Chance, dass man ein glückliches Leben führen kann und Lebensfreude erlebt, ist wesentlich größer.
Eine positive Auswirkung zeigt sich auch im Hinblick auf die Widerstandsfähigkeit gegenüber Gefühlsschwankungen. Man ist ausgeglichener und kann nicht so schnell „aus der Bahn geworfen“ werden. Man lässt sich nicht mehr so einfach aus meiner Mitte drängen, wenn man sie einmal gefunden hat. Zwar wird man immer wieder seine Mitte verlieren, aber es wird einem ziemlich schnell bewusst und man kann gegensteuern.
Darüber hinaus wird man mit seinen Mitmenschen anders umgehen, wenn man seine Mitte gefunden hat. Man wird beispielsweise seinen Unmut nicht an anderen auslassen, wenn man mit sich selbst gerade unzufrieden ist. Oder kurz ausgedrückt: Man wird andere nicht für etwas büßen lassen, wofür diese nichts können.
Schließlich wird man selbstbestimmter, weniger empfindlich gegenüber Botschaften, die mehr oder weniger verdeckt an einen appellieren, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten. Dazu zählen beispielsweise Werbebotschaften, die an das Besitzstreben appellieren. Wieso sollte man etwas kaufen, das man nicht wirklich braucht? Man braucht sich doch nicht indirekt Selbstbewusstsein zu „kaufen“, wenn man schon genügend davon hat!
Wann sollte man seine Mitte suchen?
Es gibt nicht den einen „richtigen“ Zeitpunkt. Gleichwohl ist es sicherlich sinnvoll, seine Mitte schon möglichst frühzeitig im Leben zu suchen. Der einfache Grund liegt darin, dass man dann noch, statistisch gesehen, viel wertvolle Lebenszeit vor sich hat. Doch es mag auch sein, dass man erst in späteren Jahren den Wunsch oder Drang verspürt, sich selbst zu finden. Ein „zu spät“ gibt es nicht.
Allerdings gibt es Zeiten, in denen man sich besser nicht auf die Suche machen sollte. Ein Beispiel dafür sind hektische Zeiten, wenn man durch äußerliche Zwänge bedingt nicht zur Ruhe kommen kann. Ein weiteres Beispiel sind belastende Erlebnisse. Vielleicht hat man gerade etwas (sehr) Unangenehmes erlebt, das man erst einmal verdauen muss. Oder manchmal möchte man sich selbst aus dem Weg gehen, denn man kann sich gerade selbst nicht ausstehen.
Man braucht genügend Zeit und eine gewisse innere Ruhe, um sich auf den Weg zu seiner Mitte zu machen. Die Erwartung, dass man seine Mitte in fünf freien Minuten finden kann, wird jedoch sicherlich enttäuscht.
Fällt es leicht, seine Mitte zu suchen?
Manchen Menschen wurde schon in ihrer Kindheit, bildlich ausgedrückt, eine Hypothek aufgeladen. Sie haben Schlimmes erlebt, haben von Mutter und/oder Vater Ablehnung erfahren. Dass ihre Selbstwertschätzung nur sehr gering ausgeprägt ist, ist nicht verwunderlich. Sie empfinden sich vielleicht sogar als wertlos. Und sie haben Glaubenssätze verinnerlicht, die sie in ihrer seelischen Entwicklung hemmen.
Der Gedanke, seine Mitte zu suchen, mag vielleicht sogar abwegig erscheinen. Und deshalb fällt es nicht leicht, sich, bildlich gesprochen, auf den Weg zu machen. Aber es wird sich lohnen, wenn man schließlich dazu bereit sein kann.
Wie kann man seine Mitte finden?
Wie aber kann man seine Mitte konkret finden? Wie kann man vorgehen? Gibt es ein fertiges Rezept oder eine Checkliste, die man einfach abarbeiten kann? In der Tat gibt es diverse Methoden, denen man folgen kann. Sie ergänzen sich gegenseitig, können einen dem Ziel näherbringen, die individuelle Mitte zu finden. Drei davon seien hier genannt.
Vorweggenommene Rückschau
Man begibt sich auf eine Gedankenreise an das Ende seines Lebens. Angesichts der Klarheit, dass das Leben zu Ende geht, hält man Rückschau auf das bisher gelebte Leben. Einige an sich selbst gestellte Fragen können bei der Klärung helfen, ob man seine Mitte schon gefunden hat, so beispielsweise:
- „Was hat mich zutiefst erfüllt?“
- „Welche Situationen waren es hauptsächlich?“
- „Welche Ereignisse haben diese Erfüllung ausgelöst?“
- „Wann war ich wirklich und ganz bei mir?“
- „Wann habe ich mich ganz bei mir zu Hause gefühlt?“
- „Wann habe ich mich selbst hören können?“
- „Habe ich mein Leben eher selbst oder fremdbestimmt gelebt?“
- „Wann habe ich selbstbestimmt gelebt?“
- „Wann habe ich fremdbestimmt gelebt?“
Vielleicht empfindet man bei dieser Rückschau Schmerz. Es lohnt ich jedoch, den Schmerz auszuhalten. Schließlich ist die Rückschau nicht das Ende, sondern der Beginn eines neuen Wegs. Das Bild der Geburtswehen scheint nicht ganz abwegig.
Reduktion auf das Wesentliche
Das Leben ist nicht kalkulierbar. Es mag sein, dass man im Leben ohne eigenes Verschulden in Not gerät. Naturkatastrophen können urplötzlich hereinbrechen und einen persönlich mit Hab und Gut betreffen. Geliebte Menschen, Eigentum und Besitz können genommen werden. Wer kann schon in die Zukunft schauen?
Kann man, wenn man tatsächlich betroffen ist und, bildlich gesprochen, nur noch das Hemd am Leib hat, noch in seiner Mitte sein? Sicherlich würde man kurzzeitig aus seiner Mitte gerissen, aber würde dies dann so bleiben?
„Was genau brauche ich unbedingt, um in meiner Mitte zu sein?“, wäre eine Leitfrage. Die Antwort gibt einen Hinweis darauf, ob man die Mitte tatsächlich in sich selbst finden kann und was die Mitte ausmacht. Vielleicht wird einem andererseits bewusst, dass es Güter oder Personen sind, die die (heimliche) Mitte ausmachen. Was wäre, wenn diese Güter oder Personen auf einmal nicht mehr da wären?
Selbstbeobachtung
Bewährt hat sich auch die Selbstbeobachtung. Man beobachtet sich, wie man auf Ereignisse reagiert., was sie mit einem „machen“. Manchmal reagiert man auf etwas besonders empfindlich. Es mag beispielweise sein, dass man sich kritisiert fühlt, es vom Anderen jedoch gar nicht so gemeint ist. Man interpretiert gewissermaßen eine Botschaft aus einem mit Schmerz besetzten Erfahrungshintergrund aus.
Wenn man in die Vergangenheit zurückschaut, können einen u. A. die folgenden Fragen weiterbringen:
- „In welchen Situationen reagiere ich regelmäßig besonders empfindlich?“
- „Was löst bei mir regelmäßig eine besonders starke negative Gefühlsreaktion aus?“
- „Was löst bei mir regelmäßig eine besonders starke positive Gefühlsreaktion aus?“
Weshalb reagierte man in der Vergangenheit so intensiv? Kann man die Gründe dafür benennen?
Vielleicht befindet man sich aktuell in einer Situation, die einen gefühlsmäßig aus dem Gleichgewicht bringt. „Was bringt mich dazu, jetzt gerade so zu reagieren?“ und „Weshalb reagiere ich jetzt gerade so intensiv?“, sind Fragen, die die Selbstbeobachtung konkretisieren.
Es hat sich als hilfreich erwiesen, Ereignisse bzw. Anlässe und Gefühle in einem Gefühlstagebuch niederzuschreiben, am besten handschriftlich. Wenn man seine Gefühle aufzeichnet, dann vergisst man nicht so schnell. Dann arbeitet man systematisch und kann sich selbst besser auf die Spur kommen. Man erkennt, wie man „tickt“.
Verändert sich die Mitte im Lauf des Lebens?
Bleibt die Mitte im Lauf des Lebens gleich? Sicherlich nicht! Man verändert sich, d. h. persönliche Einstellungen, Ziele, Prioritäten usw. verändern sich. Ständig macht man neue Erfahrungen. So wird man im Lauf des Lebens zu einem anderen Menschen. Wenn man sich beispielsweise zurückerinnert, was man vor etwa 20 Jahren gedacht hat, was beispielsweise damals die Ziele waren, dann wird man sicherlich Veränderung feststellen.
Wie kann man in der Mitte bleiben?
Hat Mitte eine Anziehungskraft, selbst wenn sie sich im Lauf des Lebens verlagert? Wirkt sie gewissermaßen wie ein Magnet? Kehrt man, wenn man seine Mitte einmal verloren hat, „automatisch“ wieder zu ihr zurück? Es wäre schön, wenn es so wäre. Man wird sie immer wieder verlieren, sei es, weil einen ein bestimmtes Ereignis überwältigt oder weil man nicht achtsam ist. Man muss Kurs halten und, wenn notwendig, gegensteuern, damit man seine Mitte wieder findet. Leider bedeutet dies: Wenn man seine Mitte gefunden hat, dann ist das eine Momentaufnahme.
Wie kann man Kurs halten? Dazu muss man ständig überprüfen, ob man noch auf Kurs ist. Eine Möglichkeit besteht darin, sich regelmäßig eine kurze Auszeit zu nehmen und sich die Frage zu stellen: „Bin ich noch in meiner Mitte?“. Sollte man dann wahrnehmen, dass man seine Mitte verloren hat, kann man sie normalerweise relativ schnell wieder finden.
Die Mitte finden oder wiederfinden – ist es Selbstheilung?
Wenn man seine Mitte gefunden hat, ist man zufrieden und ausgeglichen. Der chinesische Philosoph Laotse kleidete es in folgende Worte: „Wer zufrieden ist, ist reich. Wer seine Mitte nicht verliert, ist unüberwindlich.“.
Wie bereits erwähnt, harmonieren Körper, Seele und Geist. Hat man seine Mitte verloren, ist man zwar nicht seelisch krank, aber man leidet mehr oder weniger stark. Dann möchte etwas geheilt werden.
Wäre es gerechtfertigt, von Selbstheilung zu sprechen, wenn man seine Mitte findet oder wieder zu ihr zurückfindet? In der Tat heilt man sich selbst. Selbst wenn man professionelle Unterstützung in Anspruch nimmt, beispielsweise durch einen Psychotherapeuten, ist es eine Selbstheilung. Ein Therapeut kann mit seinem Wissen und seiner Erfahrung wirkungsvoll unterstützen, aber die Anregungen verstehen und umsetzen muss man letztlich selbst.