Sich bewusst Kraftgedanken zuwenden und erleben, dass sich die Perspektive auf ein Problem ändert. Erleben, dass das Leuchten am Horizont gesehen wird. Wer wünscht sich das nicht?
Mehr Sein als Scheinen – eine Überraschung
Vor einigen Jahren erregte ein Experiment der Zeitung „The Washington Post“ Aufmerksamkeit. Der weltberühmte Violinist Joshua Bell verkleidete sich als Straßenmusiker. Er spielte in einer zugigen Metro-Passage im Zentrum Washingtons, der Hauptstadt der USA.
Am 12. Januar 2007, kurz vor 8 Uhr, mitten im morgendlichen Berufsverkehr, stellte sich der damals 39-jährige vor eine Wand neben einen Abfallkorb. Er war unauffällig gekleidet, trug Jeans, ein langärmeliges T-Shirt und eine Baseball-Mütze. Aus einem kleinen Instrumentenkasten entnahm er eine Violine, warf etwas Kleingeld hinein und begann zu spielen – auf einer etwa 3,5 Millionen Dollar teuren Stradivari.
Wie viele Menschen hörten ihm wohl zu und wieviel verdiente er? Eine spannende Frage!
Joshua Bell begann mit „Chaconne“ von Johann Sebastian Bach, für eine Solo-Violine komponiert. Das etwa 14 Minuten lange Stück ist für jeden Geiger eine Grenzerfahrung, da es als sehr schwierig zu spielen bekannt ist. Nur von wenigen Musikern wird dieses Stück wirklich beherrscht.
Es dauerte über drei Minuten bis überhaupt etwas passierte. Viele Menschen waren schon vorüber gegangen als endlich eine Frau einen Dollar-Schein in den Instrumentenkasten warf. Erst nach 6 Minuten blieb überhaupt jemand stehen und hörte zu.
Joshua Bell spielte mehrere klassische Stücke. Nur wenige der knapp 1100 Vorübergehenden nahmen überhaupt wahr, dass ihnen Musik auf höchstem Niveau dargeboten wurde, wenn auch nicht durch die Akustik eines Konzertsaals unterstützt. So kann man sich täuschen!
Immerhin, als unerkannter Straßenmusiker verdiente Joshua Bell in 43 Minuten genau 32,17 Dollar. Als weltberühmter Violinist kann er ein Vielfaches verdienen, so um die 1000 Dollar pro Minute.
Nur drei Tage vor seinem Auftritt als Straßenmusiker in der Metro spielte er in der Symphony Hall in Boston. Eintrittskarten für nicht einmal die besten Plätze kosteten 100 Dollar.
Ausnahmslos alle der Vorübergehenden erlebten eine Überraschung. Ein Welt-Star trat vor ihnen auf. Doch nur wenige realisierten es. Sie dachten wohl: „Wieder so ein Straßenmusiker mit mehr oder weniger Talent. Würde er wirklich etwas können, müsste er nicht hier herumstehen!“ Sie ließen sich von Ort und Erscheinungsbild täuschen.
Die meisten Menschen in der Washingtoner Metro haben viel verpasst. Sie haben Joshua Bell in eine Schublade gesteckt: „Straßenmusiker = mindere Qualität“. Welch grandioser Irrtum!
Botschaften verstehen – so oder so
Menschen, die schon länger in einer Ehe oder Partnerschaft leben, kennen es nur zu gut: Gesagtes wird schnell, manchmal auch vorschnell, in einer bestimmten Weise verstanden. Das wohl beste Beispiel ist vermeintliche Kritik. Sie: „Du hast mir überhaupt nicht zugehört!“ Er: „Ich habe das gehört“. In ihrer Stimme ist der ärgerliche Unterton unverkennbar, in seiner auch.
Es mag sein, dass er sich beleidigt zurückzieht. Er hatte ihre Bitte, etwas zu erledigen, sehr wohl gehört, es aber auf später verschoben. Und er hatte es auch nicht für nötig erachtet, auf ihre Bitte mit mehr als einem Brummen oder ähnlichem zu reagieren. Jetzt kommt noch Ärger mit ins Spiel.
Er hätte aber auch anders reagieren, sich in ihre Situation hineinversetzen und die Perspektive wechseln können. Zumindest einen Versuch, die Dinge aus ihrer Sicht zu betrachten, wäre es wert gewesen. Dann hätte er wahrscheinlich besser verstehen können, weshalb ihr diese Bitte wichtig war. Hätte er dann ihre Botschaft noch als Angriff gegen sich gesehen?
Es wäre ihm sicher leichter gefallen, in einer Weise zu antworten, die eine weitere Eskalation vermeidet, etwa so: „Gut, dass du mir signalisierst, dass ich mich nicht deutlich ausgedrückt habe. Ich habe schon verstanden, was du mir gesagt hast. Ich habe es aber nicht als dringlich gesehen.“
Im Lauf der Zeit lernt man sich kennen. Routine stellt sich ein, auch in der Kommunikation. Gehörtes wird unwillkürlich in bestimmte Schubladen gesteckt. So kann es dazu kommen, dass Situationen sehr schnell eskalieren und in einen Streit ausarten können.
Natürlich verhalten sich die Dinge nicht immer so einfach. Aber immerhin: Wenn versucht wird, eine Botschaft zunächst einmal aus der Perspektive des Anderen zu verstehen, kann einem beträchtlichen Teil möglicher Konflikte schon vor der Eskalation die Schärfe genommen werden.
Mit der Welle schwimmen
Der Film „The Best Exotic Marigold Hotel“ (Prädikat „Besonders wertvoll“) erzählt von einer Gruppe britischer Senioren, die aus den unterschiedlichsten Gründen nach Indien reisen. Von Werbung für das neu restaurierte Marigold Hotel angelockt, erhoffen sie sich ein angenehmes, ja sogar luxuriöses Leben bei geringen Kosten. Allerdings finden die Senioren nur einen Schatten des blumig beschriebenen Zustands vor. Sie landen in einem Hotel, in dem so gut wie nichts richtig funktioniert. Die bittere Realität: das Hotel ist völlig heruntergekommen.
Alle erleben einen Schock und stürzen in ein Abenteuer. Doch die Briten lassen sich mit einer Ausnahme auf dieses Abenteuer ein und erleben durch ihre gemeinsamen Erfahrungen ganz neue Seiten des Lebens. Eine Seniorin bringt ihre „Weisheit“ auf den Punkt: Stelle dich der Welle nicht entgegen, sondern versuche, mit ihr zu schwimmen. Oder etwas anders ausgedrückt: Nimm die Situation an! Versuche, Chancen zu erkennen, und mache aus ihr das Beste!
In dieser Filmkomödie, die auf einem Roman und somit nicht auf wahren Begebenheiten beruht, dürfen die Senioren erfahren, dass sie trotz ihres Alters keineswegs zum „alten Eisen“ gehören. Und sie haben auch den Horizont ihrer Erfahrungen noch längst nicht erreicht.
Als Reaktion auf das Vorgefundene, die krasse Diskrepanz zwischen dem durch die Werbung suggerierten Zustand und der Realität, hätten sie sofort wieder zurückreisen können. Doch wenn sie die Perspektive wechseln – was dann auch geschieht -, können sie die Chance erkennen, wie sie etwas zum Positiven verändern können. Und das tun sie dann auch. Sie packen an.
Die Senioren nehmen zwar anfangs schmerzlich wahr, was alles nicht den Versprechungen entspricht und was alles fehlt. Doch sie bleiben nicht dabei, sondern bekommen einen Blick auf und für das, was da ist und was noch möglich ist.
Was ist der gemeinsame Nenner?
Ein unerkannter Welt-Star der Musik, zwischenmenschliche Kommunikation, enttäuschte Erwartungen britischer Senioren – gibt es einen gemeinsamen Nenner? Ja, es gibt ihn. Stets gibt es eine alternative Perspektive – und man kann Chancen erkennen.
Hätten sich die Vorübergehenden in der zugigen Metro-Passage nicht von Ort und Erscheinungsbild Joshua Bells täuschen lassen, sondern hätten sich auf die Musik konzentriert, hätten sie sich einem besonderen Musikerlebnis hingeben können. Wenn dann noch jemand bemerkt hätte, dass er auf einer mehrere Millionen Dollar teuren Stradivari spielte, wäre dies nur noch das „Tüpfelchen auf dem i“ gewesen.
Würde man eine in einer zwischenmenschlichen Kommunikation empfangene Botschaft nicht gleich in eine bestimmte Schublade packen, sondern sie auch aus der Perspektive des Anderen betrachten, könnte man leichter (wieder) zusammenfinden. Unnötige Konflikte ließen sich vermeiden. Wo dies dennoch scheitert, könnte man sie zumindest abschwächen.
„Was wäre, wenn der andere recht hätte?“ – eine Folgefrage, wenn man die Dinge aus der Perspektive des Anderen betrachtet. Sie eröffnet Chancen, zu Lösungen zu gelangen.
Würde man auf eine unvorhergesehene unliebsame Situation nicht spontan reagieren, sondern sich Zeit nehmen, die Situation aus einer oder mehreren anderen Perspektiven zu sehen, würde man auch Möglichkeiten und Alternativen erkennen. In nicht wenigen Fällen könnte man sich Aufregung ersparen.
Vielleicht stellt man fest, dass es in Wirklichkeit unser Blickwinkel, unser Standpunkt, ist, der Schwierigkeiten bereitet. Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl drückte es so aus: „Nicht das Problem macht die Schwierigkeiten, sondern unsere Sichtweise.“ Ganz ähnlich formulierte es der Psychologe Wayne Dyer: „Wenn du deine Sicht auf die Dinge veränderst, verändern sich die Dinge, die du siehst.“.
Verschiedene Perspektiven wahrnehmen – mehr erfassen
Wenn wir Dinge bewusst von verschiedenen Seiten, aus verschiedenen Perspektiven, wahrnehmen, erfassen wir mehr. Wir bekommen einen umfassenderen Eindruck, bis hin zu einem Gesamtbild. Wir sehen wesentlich klarer und können besser bewerten und urteilen.
Leider begrenzen wir uns manchmal selbst auf nur eine Perspektive. Angenommen, man steht plötzlich vor einem Problem. Es mag beispielsweise eine unvorhergesehene Kündigung, ein Unfall oder eine gescheiterte Beziehung sein. Dann erhält das Problem die gesamte Aufmerksamkeit. Vielleicht wirkt es übermächtig. Nur das Problem wird gesehen. Der eigentliche Sachverhalt tritt in den Hintergrund. Mögliche düstere Konsequenzen werden vor Augen gemalt. Das Problem kann auf einmal zu wachsen beginnen.
Was ist wirklich passiert? – diese Frage wird zunächst vielleicht überhaupt nicht gestellt. Nur die eine Perspektive, die Problemperspektive mit den möglichen Folgen des Problems, wird wahrgenommen.
Wie ist es möglich, sich von der verengten Sicht, der einen Perspektive zu lösen? Sehr hilfreich kann es sein, sich etwas Zeit zu nehmen und sich ganz auf das Hier und Jetzt einzulassen. Die Gefühle und Gedanken werden achtsam beobachtend wahrgenommen. Wut, Verzweiflung, Angst, und alles was an Gefühlen und Gedanken aufsteigt, wird wahrgenommen und nicht verdrängt. Sie werden nicht bewertet, nur beobachtet und beachtet. Gefühle und Gedanken schwimmen, bildlich gesprochen, in einem Fluss vorbei. Durch die Beobachterposition entsteht eine Distanz. So wird Raum dafür geschaffen, sich von der Verengung zu lösen.
Wie könnte man es auch sehen?
Jeden Tag erleben wir ganz unterschiedliche Situationen. Und wir begegnen Menschen, erleben Kommunikation. Manches betrifft uns persönlich, manches nicht. Doch immer stellt sich die Frage: Wie könnte man es auch sehen – oder: Welche alternative Perspektive gibt es?
Anstatt auf das zu sehen, was man nicht (mehr) hat, kann man das in den Blick nehmen, was man (noch) hat. Anstatt auf das zu sehen, was man nicht (mehr) kann, kann man auf das fokussieren, was man (noch) kann. Und anstatt auf das zu sehen, wie (schlecht) es jetzt gerade ist, kann man überlegen, wie es (gut) sein könnte. Die Aufzählung von Gegensatzpaaren ließe sich noch fortsetzen.
Das Nachdenken darüber, wie man es auch sehen könnte, lässt sich antrainieren. Und man kann sogar für sich selbst ein Spiel daraus machen. Man beobachtet andere Menschen und überlegt sich, wie diese in einer Situation auch anders reagieren könnten.
Da ist vielleicht die ältere Frau vor einem in der Schlange an der Kasse des Supermarkts. Sie ist gerade dabei, ihren Einkauf zu bezahlen. Langsam sucht sie das Bargeld zusammen. Sie will der Kassiererin den Betrag auf den Cent genau geben. In ihrer Geldbörse befinden sich jedenfalls genügend Münzen. Die Kassiererin ist sichtbar genervt, weil es bei der Kundin so langsam geht. Schließlich warten schon einige Menschen in der Schlange.
Wie könnte die Kassiererin alternativ reagieren? Eine Möglichkeit wäre: Sie bietet der Kundin an, selbst die Münzen aus ihrer Geldbörse zu nehmen. Sie hätte zumindest die Chance, Zeit zu sparen. Käme sie dann überhaupt noch dazu, sich zu ärgern?
Das Beobachten anderer schafft eine Distanz. Man ist selbst nicht betroffen, erlebt keinen Druck. Doch man kann aber durchaus einen Bezug zu sich selbst herstellen, würde man einmal eine ähnliche Situation erleben.
Kraftgedanken: Perspektivwechsel
Kraftgedanken entfalten nur dann eine Wirkung, wenn sie mit der eigenen Lebenssituation verknüpft sind. Darüber hinaus ist es wichtig, die eigenen Stärken wie auch Schwächen zu kennen, und die eigene Lebenshistorie vor Augen zu haben.
Angenommen, die erwachsenen Kinder sind aus dem Haus und haben ihre eigenen Familien gegründet. Aus den verschiedensten Gründen leben sie jetzt weit von ihrer alten Heimat entfernt. Als Mutter oder Vater ist man traurig, dass man die Familien nicht mehr so einfach sehen kann. Es lässt sich beispielsweise nicht mehr so hautnah erleben, wie die Enkelkinder größer werden. Man schaut darauf, wie es einmal war und was man an Nähe verloren hat.
Eine alternative Perspektive konzentriert sich darauf, was man noch alles hat. Die Beziehung zu den Familien ist schließlich nach wie vor intakt. Man hat die Möglichkeit, die geografischen Distanzen durch moderne Kommunikationsmittel überbrücken. Zwar ist es kein Ersatz für ein Zusammensein in der realen Welt, doch man kann sich sehen und hören.
Ein persönlicher Kraftgedanke könnte etwa so lauten: „Ich schaue nicht auf das, was ich verloren habe, sondern auf das, was ich jetzt noch habe. Ich bin für die modernen Kommunikationsmedien dankbar, mit deren Hilfe ich in Kontakt bleiben kann. Ich kann neue Erfahrungen machen.“
Derartige Kraftgedanken lassen sich in den verschiedensten Lebenssituationen formulieren. Stets geht es darum, etwas Negativem eine andere Perspektive entgegen zu stellen, um etwas Positives sehen zu können. Durch den Perspektivwechsel entsteht ein Raum. Dieser geschaffene Raum lässt sich mit Gedanken füllen, die auch den Zugang zur eigenen Lebenskraft wieder eröffnen. Nicht mehr die Problemperspektive dominiert. Zumindest eine, vielleicht sogar mehrere Lösungsperspektiven rücken in den Vordergrund.