Funktionsstörungen im Gehirn – Alzheimer-Demenz, Schlaganfall oder schwerwiegende operative Eingriffe bis hin zur Entfernung einer Hirnhälfte sind mögliche Ursachen unter vielen. Wie wirken sich Funktionsstörungen im Gehirn auf das individuelle Selbst aus?
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Dieser Beitrag ist Teil der Serie „Was geschieht mit mir wenn ich sterbe?“
Grobes Inhaltsverzeichnis
Schon von Geburt an kann das Gehirn in seiner Funktionalität beeinträchtigt sein, verursacht durch ein fehlendes Gehirnareal oder auch eine unnormale Ausbildung des Gehirns. Im Lauf des Lebens kann es zu krankheitsbedingten Veränderungen des Gehirns kommen, beispielsweise durch das Absterben von Nervenzellen.
Das Gehirn ist eines der komplexesten Organe des menschlichen Körpers. Es besteht aus mehreren Bereichen (Großhirn, Zwischenhirn, Hirnstamm, Kleinhirn), die alle miteinander zusammenwirken und als eine Einheit funktionieren. Das Großhirn macht den größten Teil des Gehirns aus und besteht aus zwei Gehirnhälften, die durch eine quer verlaufende Faserverbindung miteinander verbunden sind. Jede Gehirnhälfte besteht wiederum aus vier Lappen: Frontallappen bzw. Stirnlappen, Scheitellappen bzw. Parietallappen, Schläfenlappen bzw. Temporallappen und Hinterhauptlappen bzw. Okzipitallappen.
Das Bewusstsein wird in der Großhirnrinde verortet. Die Großhirnrinde (lat. Cortex cerebri) ist der äußerste Teil des Gehirns, eine etwa zwei bis fünf Millimeter dicke Schicht, geschützt durch Schädelknochen und die darunterliegende Hirnhaut. Sie gilt als der evolutionär jüngste Teil des Gehirns und macht knapp die Hälfte des Gehirnvolumens aus. Im männlichen Gehirn umfasst die Großhirnrinde ungefähr 23 Milliarden Nervenzellen (Neurone), im weiblichen Gehirn ungefähr 19 Milliarden.
Insbesondere zwei Regionen im Gehirn sind es, die für das Bewusstsein wichtig sind: der Frontallappen und der Schläfenlappen. Die beiden Schläfenlappen umrahmen den Hirnstamm.
Der Frontallappen macht beim Menschen mehr als 30 % der Großhirnrinde aus. Dort werden Bewegungen gesteuert, doch er ist auch für komplexe soziale, psychische und geistige Funktionen maßgeblich verantwortlich. Dazu zählen u. a. die Steuerung des Sozialverhaltens, des ethischen und moralischen Verhaltens, das Lösen von Problemen, das vorausschauende Planen und Handeln, und das Sprachverständnis. Insofern steht der Frontallappen in enger Beziehung zur Persönlichkeit, zum individuellen Selbst.
Der Schläfenlappen ist der zweitgrößte Gehirnlappen. Sowohl in anatomischer als funktionaler Hinsicht ist dieser Teil des Gehirns sehr vielfältig. Neben auditorischen und visuellen Funktionen, so u. a. die der Stimmenerkennung und der räumlichen und visuellen Orientierung, ist er für die Bereitstellung von Gedächtnisinhalten für andere Hirnareale zuständig. Im Schläfenlappen befindet sich auch das sogenannte Wernicke-Sprachzentrum, das für das Sprachverständnis wichtig ist.
Was geschieht, wenn Hirnregionen geschädigt sind bzw. werden, die für das individuelle Selbst essentiell wichtig sind? Um einer Antwort auf diese Frage näher zu kommen und schließlich weitere Schlüsse ziehen zu können, ist es hilfreich, einige Szenarien mit ihren Konsequenzen kurz darzustellen. Über eine Art Ausschlussverfahren ließe sich dann möglicherweise näher eingrenzen, wo das individuelle Selbst beheimatet sein könnte.
Hemisphärektomie – die Entfernung einer kompletten Gehirnhälfte
Bei einer Hemisphärektomie wird eine gesamte Gehirnhälfte operativ entfernt. Eine Hemisphärektomie wird insbesondere bei schwersten Fällen von Epilepsie und Erkrankungen mit epileptischen Symptomen durchgeführt. Ein derartig schwerwiegender operativer Eingriff geschieht dementsprechend relativ selten.
Der Plastizität des Gehirns wird zugeschrieben, dass bei einer im jungen Alter erfolgten Hemisphärektomie die intakte Gehirnhälfte viele zusätzliche Aufgaben übernehmen kann. Bei einer Hemisphärektomie im frühen Kleinkindalter treten möglicherweise überhaupt keine Ausfälle im Erwachsenenalter auf. Gemäß einer im Jahr 2019 im Fachmagazin Cell Reports veröffentlichten Studie „Intrinsic Functional Connectivity of the Brain in Adults with a Single Cerebral Hemisphere“ (Kliemann, Adolphs, Tyszka et al.) wurden bei sechs erwachsenen Personen im Alter von 20 bis 30 Jahren keinerlei Auffälligkeiten entdeckt. Bei diesen Personen wurde während ihrer Kindheit (zwischen einem Alter von drei Monaten bis 11 Jahren) eine Hemisphärektomie durchgeführt.
Eine bereits 1996 durchgeführte Studie („Hemisphärektomie: Ein Hemidecortication-Ansatz und Überprüfung von 52 Fällen“, Carson, Javedan, Freeman et al.) konnte zeigen, das bei einer Hemisphärektomie schon im Kindesalter keine signifikanten langfristigen Auswirkungen auf das Gedächtnis festgestellt werden konnten.
Wenn eine komplette Gehirnhälfte entfernt wird, stellt sich die grundsätzliche Frage, welche Auswirkungen sich auf das Gedächtnis, insbesondere das Langzeitgedächtnis, ergeben. Ist das Langzeitgedächtnis über beide Gehirnhälften verteilt angelegt, wäre vereinfacht zu vermuten, dass bis zur Hälfte des Langzeitgedächtnisses nicht mehr vorhanden ist. Dies wurde jedoch nicht berichtet.
Tritt nach einer Hemisphärektomie kein Gedächtnisverlust ein, ist die Hypothese denkbar, dass das Langzeitgedächtnis doppelt angelegt ist und zwischen den Gehirnhälften gespiegelt wird. Jede Erinnerung würde gewissermaßen doppelt abgespeichert, in der linken und in der rechten Gehirnhälfte. Die Entfernung einer Gehirnhälfte hätte somit keinerlei Auswirkungen auf das Langzeitgedächtnis, da sofort danach alle Erinnerungen aus der gesunden Gehirnhälfte abgerufen werden. Ein Gedächtnisverlust wäre keinesfalls wahrnehmbar, höchstens im Bereich von Sekundenbruchteilen.
Als dritte Möglichkeit wäre denkbar, dass das Gehirn zu einem bestimmten Zeitpunkt selbstständig und für den Menschen unbewusst erkennt, dass eine Gehirnhälfte „krank“ ist. Dieses Ereignis könnte dann Auslöser für eine Übertragung des in der „kranken“ Gehirnhälfte vorhandenen Gedächtnisses in die „gesunde“ Gehirnhälfte sein. Damit verbunden wäre auch ein Zusammenführen beider Teilgedächtnisse. Schließlich sollen anschließend Gedächtnisinhalte chronologisch, sachbezogen oder nach sonstigen Kriterien lückenlos abrufbar sein.
Eine vierte denkbare Möglichkeit besteht schließlich darin, dass das Gehirn wiederum selbstständig erkennt, dass eine Gehirnhälfte „krank“ und somit für das Langzeitgedächtnis nicht (mehr) nutzbar ist. Alle Erlebnisse und Erfahrungen würden sodann nur noch in der gesunden Gehirnhälfte gespeichert.
Ein Mädchen kämpft sich wieder ins Leben zurück
Bei Cameron Mott zeigten sich im Alter von drei Jahren plötzlich gesundheitliche Komplikationen. Sie bekam Anfälle, bei denen die sie plötzlich völlig steif wurde und kopfüber auf den Boden fiel. Nach eingehenden medizinischen Untersuchungen wurde bei ihr Rasmussen-Enzephalitis, auch als Rasmussen-Syndrom bezeichnet, diagnostiziert. Die Entzündung beginnt in einem kleinen Bereich, greift dann auf die angrenzenden Bereiche einer Hirnhälfte über und führt schließlich zum Verlust von Nervenzellen und schweren Behinderungen. In der Regel greift die Entzündung nicht auf die gegenüberliegende Hirnhälfte über.
Der Krankheitsverlauf stellte die Eltern vor die Entscheidung, einer Hemisphärektomie als einzige Möglichkeit ihrem Kind zu helfen, zuzustimmen. Die Operation wurde schließlich in Cameron Motts siebtem Lebensjahr durchgeführt. Ärzte entfernten ihr die rechte (nicht dominante) Hirnhälfte.
Bereits vier Wochen nach dem Eingriff konnte das Mädchen das Krankenhaus selbstständig gehend verlassen. Sie konnte wieder sprechen und mithilfe von Physiotherapie gelang es ihr, ihre Beweglichkeit zu verbessern. Sie konnte wieder rennen und auch tänzerische Bewegungen waren wieder möglich.
Dank der Neuroplastizität des Gehirns (die Fähigkeit des Gehirns, seinen Aufbau und seine Funktionen zu verändern) konnte die linke Gehirnhälfte die Funktion der rechten Hälfte weitestgehend übernehmen. Ihr Gehirn „verdrahtete“ sich gewissermaßen neu. Zwar blieben Beeinträchtigungen zurück, wie beispielsweise eine Einengung des Sichtfelds und eine leicht geringere Kontrolle über die linke Körperhälfte, jedoch konnte sich das Kind nach dem Eingriff normal entwickeln umd die reguläre Schule besuchen.
An die Operation hat Cameron Mott keinerlei Erinnerung. Darüber hinaus wurde nicht berichtet, ob bzw. welche Erinnerungen sie an die Zeit zwischen den ersten Symptomen der Krankheit und der Operation hat.
Ein Psychologe lebt mit nur einer Gehirnhälfte
Im Alter von 11 Jahren wurde bei Philipp Dörr aufgrund einer schweren Epilpsie eine Hemisphärektomie durchgeführt, bei der die gesamte rechte Großhirnhälfte entfernt wurde. Schon im Alter von etwa zweieinhalb Jahren erlitt er einen Schlaganfall. Kurze Zeit später entwickelte sich die Epilepsie, die sich schließlich in bis zu 30 epileptischen Anfällen pro Tag manifestierte. Eine Hemisphärektomie erschien als ernsthaft zu erwägende Möglichkeit, eine Verbesserung zu erzielen. Als Folgen der Operation blieben eine halbseitige Lähmung und ein linksseitiger Gesichtsfeldausfall auf beiden Augen zurück. Diese Einschränkungen hinderten ihn nicht an einer regulären schulischen Ausbildung. Schließlich begann er ein Studium zum Diplom-Psychologen und konnte dieses erfolgreich abschließen. Die Gründung einer eigenen Praxis folgte.
Philipp Dörr, der seine Erlebnisse und Erfahrungen in seinem Buch „Bedeutet ein halbes Gehirn, ein halber Mensch zu sein?“ verarbeitete, berichtete von Gedächtnisverlust. Eine ganze Reihe von Erinnerungen, vor allem aus den letzten Jahren vor der Operation, würden fehlen. Doch seine intellektuellen Fähigkeiten litten keineswegs. Sein Intelligenzquotient wird als überdurchschnittlich berichtet.
Die gewonnenen Erkenntnisse widerlegen die Spiegelungshypothese. Würden im Gehirn tatsächlich alle Erlebnisse und Erfahrungen in beiden Gehirnhälften parallel gespeichert, hätte es keinen Erinnerungsverlust geben dürfen.
Die Hypothese einer Gedächtnisübertragung hält einer Überprüfung ebenfalls nicht stand. Hätte eine solche stattgefunden, wäre es nicht zu einem Erinnerungsverlust gekommen. Schließlich wäre das Gedächtnis der als „krank“ erkannten Gehirnhälfte rechtzeitig in die „gesunde“ übertragen worden.
Hätte das Gehirn selbstständig erkannt, dass eine Gehirnhälfte „krank“ ist und deshalb diese Gehirnhälfte für das Langzeitgedächtnis „gesperrt“, wären ab einem unbekannten „kritischen Punkt“ alle Erinnerungen nur noch in der gesunden Gehirnhälfte gespeichert worden. Bezogen auf die Zeit nach der Operation wäre überhaupt kein Erinnerungsverlust eingetreten. Sämtliche Erinnerungen vor der Operation wären allerdings vollständig verloren.
Alle bisherigen Erklärungsversuche scheitern an den Fakten. Die präzise Antwort auf die Frage, wie genau und wo genau Erlebnisse und Erfahrungen gespeichert werden, steht noch aus.
Hydrocephalus – Leben mit einem „Wasserkopf“
Ein Hydrocephalus bzw. „Wasserkopf“ bezeichnet einen Zustand, bei dem das Liquorvolumen (Nerven- oder Hirnwasser) auf Kosten des Hirnvolumens zunimmt. Liquorproduktion und ‑rückführung stehen in einem Missverhältnis zueinander. Es kommt, vereinfacht ausgedrückt, zu einem Druck auf das Gehirn. Dadurch bedingt können verschiedene Symptome auftreten, beispielsweise Kopfschmerzen, Übelkeit mit Erbrechen, Sehstörungen und Bewusstseinsstörungen.
Der Student mit wenig Gehirnmasse, aber hohem IQ
Im Jahr 1980 erschien in der in der Zeitschrift „Science“ ein Beitrag über Untersuchungen des britischen Neurologen John Lorber, Professor für Pädiatrie an der Universität Sheffield und Mitglied des Nobelpreiskomitees, mit dem durchaus provozierenden Titel „Is Your Brain Really Necessary?” („Ist Ihr Gehirn wirklich notwendig?“). Darin wird auf den Fall eines Studenten der Universität Sheffield Bezug genommen, bei dem ein Gehirn-Scan und diverse neurologische Untersuchungen durchgeführt wurden.
Zum Untersuchungszeitpunkt hatte dieser Student einen überdurchschnittlichen IQ. Bei verschiedenen Tests wurden Werte zwischen 126 und 130 ermittelt. Oft wird auch, wie beim am meisten verwendeten Intelligenztest, dem Hamburg-Wechsler-Intelligenztest (HAWI), ein Verbal-IQ und ein Handlungs-IQ ermittelt. Der Verbalteil fokussiert auf geistige Fähigkeiten: Allgemeines Wissen, Allgemeines Verständnis, Rechnerisches Denken, Gemeinsamkeiten finden, Wortschatztest und Zahlennachsprechen. Hinsichtlich des Verbal-IQ erreichte der Student sogar Werte zwischen 140 und 144 Punkten. Für die Gesamtbevölkerung gilt ein Wert von 100 als Durchschnitt. Es verwundert nicht, dass der Student sein Mathematikstudium mit Auszeichnung bestehen konnte.
Das Sozialverhalten des Studenten war als vollkommen normal zu bezeichnen. Eine Auffälligkeit gab es jedoch. Der Student hatte einen etwas größeren Kopf als normal und schien unter einer Migräne zu leiden. Als ein Gehirn-Scan durchgeführt wurde, erkannte das untersuchende Team, dass sich anstatt der normalerweise 4,5 cm dicken Schicht von Gehirngewebe zwischen den Ventrikeln (Gehirnkammern) und der kortikalen Oberfläche (Großhirnoberfläche) nur eine dünne Mantelschicht von ungefähr einem Millimeter Dicke befand. Sein Schädel war hauptsächlich mit Liquor (Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit) gefüllt.
Bei einem Erwachsenen finden sich normalerweise etwa 130 bis 150 Milliliter Liquor. Etwa ein Viertel davon befindet sind in den Gehirnkammern (Ventrikeln), und etwa drei Viertel umgeben als umhüllender Flüssigkeitsmantel das Gehirn und das Rückenmark. Für das Gehirn blieb also bei diesem Studenten kaum mehr Platz. Während ein normales Gehirn eines Mannes durchschnittlich 1 375 Gramm wiegt, wurde das Gewicht seines Gehirns grob auf etwa zwischen 50 und 150 Gramm geschätzt.
Der Fall des Studenten steht keineswegs für sich alleine. John Lorber führte insgesamt mehr als 600 Untersuchungen durch. In 60 Fällen wurde eine Gehirnmasse von weniger als 5 % geschätzt. Dies bedeutet, dass rund 95 % des Schädels mit Liquor gefüllt war. Die Hälfte dieser Betroffenen wies einen IQ von über 100 auf.
Der Familienvater
Ein 44-jähriger Franzose, verheiratet und Vater von zwei Kindern, nahm eine leichte Schwäche in seinem linken Bein wahr. Der als Verwaltungsbeamter berufstätige Mann ging daraufhin in ein Krankenhaus in Marseille, wo er neurologisch untersucht wurde.
Bei der Anamnese erfuhr der Neurologe Lionel Feuillet von der Université de la Mediterranée von seinem Patienten, dass ihm im Kleinkindalter ein Wasserkopf (Hydrocephalus) drohte. Zur Behandlung wurde seinerzeit ein Shunt (Schlauch) eingesetzt, um eine permanente Ableitung des Liquors herzustellen. Im Alter von 14 Jahren wurde der Shunt wieder entfernt.
Gehirn-Scans des Patienten zeigten, dass die seitlichen Gehirnkammern massiv ausgeweitet waren und den meisten Raum in seinem Schädel einnahm. Nur für eine dünne Schicht an Gehirngewebe war noch Platz. Das gesamte Gehirn mit allen vier Gehirnlappen war in beiden Gehirnhälften verkleinert. Dem Patienten fehlten rund 90 % der für einen Menschen normalen Gehirnmasse. Dr. Feuillet berichtete im Juli 2007 in der Fachzeitschrift „The Lancet“ von diesem Fall.
Intelligenztests ergaben, dass der Patient einen IQ von 75 hatte. Damit lag er unterhalb des Bereichs zwischen 85 und 115, der normale Intelligenz bescheinigt. Auch wenn der gemessene Wert deutlich unter dem Normwert von 100 lag und somit unterdurchschnittliche Intelligenz ausdrückt, war er keineswegs geistig zurückgeblieben oder behindert. Er konnte ein völlig normales Leben führen. Sein Verbal-IQ lag zum Untersuchungszeitpunkt mit einem Wert von 84 etwas höher, sein Handlungs-IQ mit 70 etwas niedriger.
Dem Patienten wurde eine neue Drainage implantiert. Seine Beschwerden verschwanden. Das Gehirn blieb jedoch unverändert klein.
Eingriff im Hippocampus
Henry Gustav Molaison (1926-2008) litt seit seiner Kindheit an unkontrollierbar heftigen epileptischen Anfällen. Im Jahr 1953 wurde er in ein Krankenhaus aufgenommen, um Wege zur Linderung seines Leidens zu finden. Der behandelnde Chirurg vermutete, dass seine Epilepsie in seinen rechten und linken medialen Temporallappen (Schläfenlappen) ihre Ursache habe. Als Behandlung schlug er eine teilweise operative Entfernung vor. Aus beiden Gehirnhälften wurden fingerdicke Stücke des mittleren Schläfenlappens entfernt, darunter auch etwa zwei Drittel des Hippocampus.
Der Hippocampus gilt als Schnitt- und Schaltstelle zwischen dem Kurz- und dem Langzeitgedächtnis. Über diese Schnitt- und Schaltstelle werden Inhalte, abhängig von ihrer Bedeutung, aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis übernommen. Dort werden sie langfristig gespeichert und können bei Bedarf von dort wieder abgerufen werden. Der Hippocampus zählt zu den wenigen Bereichen im Gehirn, in dem während des gesamten Lebens neue Nervenzellen gebildet werden können.
Die epileptischen Anfälle ließen sich durch den schwerwiegenden operativen Eingriff in den Griff bekommen. Allerdings litt er danach unter schwerer anterograder (vorwärtswirkender) Amnesie. Zwar waren sein Arbeitsgedächtnis sowie sein prozedurales Gedächtnis (das „Know-how-Gedächtnis“) weiterhin funktionsfähig, jedoch konnten keine neuen Ereignisse und Erfahrungen mehr in sein Langzeitgedächtnis übernommen und dort abgespeichert werden. Darüber hinaus litt Henry Molaison an einer zeitlich abgestuften retrograden (rückwärtswirkenden) Amnesie und konnte sich kaum noch an Ereignisse erinnern, die drei bis vier Tage vor der Operation stattgefunden hatten. Sein Kurzzeitgedächtnis funktionierte jedoch in etwa so gut wie das eines gesunden Menschen. Auch seine Persönlichkeit blieb intakt und auch sein IQ sowie seine sprachlichen Fähigkeiten lagen nach wie vor über dem Durchschnitt.
Trotz der schwerwiegenden Einschränkungen hinsichtlich des Langzeitgedächtnisses konnte Henry Molaison Neurowissenschaftler zuweilen überraschen. So konnte er beispielsweise auf Nachfrage die Initialen „JFK“ dem Namen John F. Kennedy zuordnen und er wusste auch dass dieser 1963 ermordet wurde, runde zehn Jahre nach seiner Operation. Unter anderem gilt dies als ein Indiz dafür, dass sich das Gedächtnis an unterschiedlichen Orten im Gehirn befindet.
Ein selbstständiges Leben konnte Henry Molaison ab seinem 54. Lebensjahr nicht mehr führen. Bis zu seinem Tod lebte er in einem Pflegeheim.
Henry Molaison verlor gewissermaßen einen wichtigen Teil seiner Identität, wie es der Neurowissenschaftler Thomas Carew gegenüber der „New York Times“ ausdrückte. Nach Ablauf von etwa 30 Sekunden hatte Henry Molaison ein Ereignis wieder vergessen. So war jede seiner Begegnungen mit der Neurowissenschaftlerin Suzanne Corkin, die ihn während mehrerer Jahrzehnte begleitete, für ihn eine neue Begegnung, denn sein Langzeitgedächtnis funktionierte nicht mehr. Doch trotz aller Einschränkungen blieb das individuelle Selbst erhalten.
Suzanne Corkin erinnerte sich besonders an ein eindrückliches Erlebnis, das sie bei ihrer letzten Begegnung mit Henry Molaison hatte. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits dement und hatte die Fähigkeit verloren, etwas zu verstehen. Als sie bei ihm stand und ihm sagte, wer sie war, hatte sie das Empfinden, dass er sich ihr mit der Spur eines Lächelns zuwandte. War dies ein Wiedererkennen, obwohl er dazu eigentlich überhaupt nicht in der Lage sein konnte?
Fehlendes Kleinhirn
Im Jahr 2014 wurde in China eine damals 24-jährige Frau, Mutter einer Tochter, wegen Schwindel und Übelkeit in einem Krankenhaus zur Behandlung aufgenommen. Als ein Gehirn-Scan durchgeführt wurde, um der Ursache auf die Spur zu kommen, wurde festgestellt, dass sie ohne Kleinhirn (Cerebellum) geboren war. Anstelle des Kleinhirns ist lediglich ein mit zerebrospinaler Flüssigkeit (Hirnwasser) gefüllter Raum zu sehen.
Das Kleinhirn gilt, vereinfacht ausgedrückt, als Zentrale für die Bewegungssteuerung. Beim Menschen macht es etwa ein Zehntel des durchschnittlichen Hirngewichts aus, enthält jedoch etwa vier Fünftel, mithin den Großteil, aller zentralnervösen Neuronen. Es steuert Motorik, das Gleichgewichtsgefühl und das Erlernen von Bewegungsabläufen.
Funktionelle Netzwerke für die Sinnesfunktionen Sehen, Hören und Tasten fehlen im Kleinhirn. Erkenntnisse aus neueren Untersuchungen deuten allerdings darauf hin, dass das Kleinhirn auch für zahlreiche nicht-motorische Funktionen eine Rolle spielt und als genereller Kontrollbereich für höhere, kognitive Funktionen gesehen werden kann (siehe „Spatial and Temporal Organization of the Individual Human Cerebellum“.
Die Chinesin, über deren Fall in der Fachzeitschrift „Brain“ berichtet wurde, konnte erst im Alter von vier Jahren alleine stehen. Erst mit sieben Jahren konnte sie ohne Hilfestellung, jedoch mit schwankenden Schritten, gehen. Rennen oder Springen war für sie zu keiner Zeit möglich. Neben den mit der Bewegungssteuerung verbundenen Einschränkungen fiel eine zittrige Stimme und undeutliche Aussprache auf. Dies ist ein Hinweis darauf, dass das Kleinhirn an kognitiven Funktionen, wie Aufmerksamkeit und Sprache, beteiligt ist. Die betroffene Frau konnte sich zum Zeitpunkt der Untersuchung jedoch verständlich ausdrücken und verfügte über ein intaktes Wortgedächtnis.
Weltweit sind nur sehr wenige Menschen bekannt, die ohne Kleinhirn, einem wichtigen Teil des Gehirns, zur Welt kamen. Die betroffene Frau zeigte zum Zeitpunkt der Untersuchung deutlich weniger Einschränkungen als für einen Menschen ohne Kleinhirn zu erwarten gewesen wäre. Daraus lässt sich folgern, dass einige Funktionen des Kleinhirns von anderen Gehirnregionen übernommen wurden. Dies gelang zwar nicht perfekt, aber immerhin funktional relativ befriedigend.
Auch Jonathan Keleher zählt zu den wenigen Menschen, die ohne Kleinhirn zur Welt kamen. Auch er zeigt eine Sprachauffälligkeit und ist auch in seiner Bewegungssteuerung beeinträchtigt, was sich in seinem etwas unnatürlichen Gang zeigt. Radfahren ist für ihn nicht möglich, da er das Gleichgewicht nicht sicher halten kann. Seine Reaktionsschnelligkeit ist beeinträchtigt. Er kann jedoch einem Beruf nachgehen.
Andere Gehirnregionen konnten einige der Funktionen zumindest teilweise übernehmen, die normalerweise eine Angelegenheit des Kleinhirns sind oder von diesem im Sinne einer Qualitätskontrolle miterledigt werden. So ist es Jonathan Keheler unter anderem besser möglich, sich am sozialen Leben zu beteiligen und Gefühle zu zeigen.
Das fehlende Kleinhirn verleitete davon abgesehen niemand zu der Folgerung, dass die davon Betroffenen kein Bewusstsein hätten. Das individuelle Selbst ist nicht an das Vorhandensein eines Kleinhirns gebunden.
Amnesie (Gedächtnisstörung)
Eine Amnesie bezeichnet einen Verlust des Gedächtnisses hinsichtlich zeitlicher oder inhaltliche Erinnerungen, wobei Vergangenes und/oder Zukünftiges betroffen sein kann. Bei einer retrograden Amnesie können sich Betroffene nicht mehr an Vergangenes erinnern, während bei einer anterograden Amnesie neue Erlebnisse und Erfahrungen nicht abgespeichert werden können. Eine Amnesie tritt meist als temporäre Amnesie auf. Allerdings kann es auch zu einer dauerhaften Amnesie kommen.
Das Spektrum möglicher Ursachen für eine Amnesie ist durchaus breit. Es reicht vom Unfall mit Schädel-Hirn-Verletzung oder Gehirnerschütterung über einen epileptischen Anfall, Hirnhautentzündung (Meningitis), Gehirnentzündung (Enzephalitis), Schlaganfall, Migräne, Demenz, Vergiftung, langjähriger Alkohol- und/oder Medikamentenmissbrauch, bis hin zum traumatisierenden Erlebnis.
Bei einer retrograden Amnesie ist der Gedächtnisteil, in dem Prozesse und Handlungsabläufe gespeichert sind, meist nicht betroffen. So können sich Menschen mit einer Amnesie zum Beispiel noch die Schuhe binden, einen Apfel schälen oder eine Flasche Mineralwasser öffnen. Beeinträchtigt ist im Wesentlichen nur das sogenannte episodische Gedächtnis, mithin der Teil des Gehirns, in dem Erinnerungen an Ereignisse und Erlebnisse gespeichert sind.
Die vorwärtswirkende Amnesie (anterograde Amnesie) gilt als die häufigste Gedächtnisstörung. Betroffene können neue Gedächtnisinhalte nur noch schecht oder überhaupt nicht mehr speichern und abrufen. Bei dieser Form des Gedächtnisverlusts ist hauptsächlich das Langzeitgedächtnis beeinträchtigt. Das Kurzeitgedächtnis bleibt meist intakt, wodurch es Betroffenen noch möglich ist, ihren Alltag zu bewältigen.
Folgerungen
Trotz diverser Beeinträchtigungen und Schädigungen des Gehirns war in keinem Fall der Verlust des individuellen Selbst festzustellen. Keiner der Betroffenen degenerierte zu einer Art seelenlosen Biomaschine. Zwar konnte ein Teil der Identität verlorengehen, etwa durch Verlust der Zugriffsmöglichkeit auf Erinnerungen im Langzeitgedächtnis, die Persönlichkeit, das Wesen, blieb jedoch im Wesentlichen unbeeinträchtigt.
Das individuelle Selbst, das Ich, lässt sich, genauso wenig wie das Gedächtnis, auf einen bestimmten Ort im Gehirn fixieren. Vielmehr wird ein Zustand vorausgesetzt, in dem das Gehirn Informationen innerhalb eines komplexen Netzwerks sinnvoll verarbeiten kann.
Überspitzt ließe sich formulieren: das individuelle Selbst ist überall und nirgendwo im Gehirn, wie auch das Gedächtnis, das sich als Netzwerk von Nervenzellen über verschiedene Bereiche des Gehirns erstreckt. Bei Prozessen, die Erlebnisse, Eindrücke usw. im Gedächtnis speichern oder abrufen, sind verschiedene Gehirnbereiche aktiv.
Ist es möglich, mit 5 % der normalen Gehirnmasse einen IQ von 100 und darüber zu erreichen? Anders formuliert: Können wirklich 95 % des Gehirns überflüssig sein? Diese Frage stellt sich unweigerlich, insbesondere auch vor dem Hintergrund des immensen im Gedächtnis speichernswerten Informationsvolumens, das sich während eines Lebens ansammelt. Wie viel Speichervolumen könnte dafür benötigt werden? Dieser Frage wird im Teil „Queranalyse“ weiter nachgegangen.