Was sind Nahtoderfahrungen und wie werden sie erlebt? Erlauben sie einen Blick hinter den Vorhang des Diesseits, in das Jenseits?
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Dieser Beitrag ist Teil der Serie „Was geschieht mit mir wenn ich sterbe?“
Grobes Inhaltsverzeichnis
Als Nahtoderfahrung (NTE) oder Nahtoderlebnis wird eine subjektive Erfahrung in einer Grenzsituation, in der das Weiterleben bedroht ist, bezeichnet. Ein Mensch, der eine Nahtoderfahrung durchlebt, befindet sich an der Schwelle des biologischen Todes, überschreitet diese Schwelle letztlich jedoch nicht. Eine Loslösung des individuellen Selbst vom physischen Körper erfolgt nicht, jedenfalls nicht endgültig.
Typisch für eine Nahtoderfahrung ist die Erfahrung eines bewussten Seins ohne physischen Körper. Empfindungen des physischen Körpers sind gewissermaßen vorübergehend „abgeschaltet“. In der Wahrnehmung einer erlebenden Person können sich individuelles Selbst und physischer Körper an unterschiedlichen Orten befinden.
Unerklärliche Erfahrung
In seinem Buch „Nahtod – Grenzerfahrungen zwischen den Welten“ berichtet der Psychiater Bruce Greyson von einer Studentin namens Holly, die einen misslungenen Suizidversuch hinter sich hatte (S. 9 ff.). Sie hatte eine Überdosis des Medikaments Elavil eingenommen, ein Medikament, das zur Behandlung von Depressionen eingesetzt wird, jedoch auch gefährliche Herzrhythmusstörungen verursachen kann. Die bewusstlose Holly wurde von ihrer Kommilitonin Susan aufgefunden. Bruce Greyson konnte mit Susan am Abend der Einlieferung Hollys in die Klinik sprechen, um Informationen zu gewinnen, die für die weitere Behandlung Hollys hilfreich sein könnten.
Versuche, Holly aus ihrer Bewusstlosigkeit aufzuwecken, schlugen fehl. Erst am nächsten Tag erwachte sie aus ihrer Bewusstlosigkeit und war ansprechbar. Als Bruce Greyson ein Gespräch mit ihr führen wollte und sich ihr vorstellte, antwortete sie: »Ich weiß, wer Sie sind. Ich erinnere mich an Sie von letzter Nacht.« Im weiteren Verlauf des Gesprächs konnte Holly Einzelheiten der Begegnung zwischen dem Psychiater und ihrer Kommilitonin wiedergeben, so als wäre sie im Besucherzimmer anwesend gewesen. Sie beschrieb, welche Krawatte er getragen hatte und dass sich darauf ein roter Fleck befand (der Fleck rührte von einem Tropfen Spaghettisauce her). Des Weiteren konnte sie den Verlauf des Gesprächs mit Susan korrekt wiedergeben und auch weitere Einzelheiten korrekt benennen.
Für den Psychiater war völlig unerklärlich, wie Holly während ihrer Bewusstlosigkeit Zeuge seines Gesprächs mit Susan gewesen sein konnte. Sie konnte objektiv von diesem Gespräch keine Kenntnis haben. Die einzig mögliche Erklärung bestand darin, dass „der Teil von Holly, der denkt und sieht und hört und sich irgendwie erinnert, ihren Körper verlassen und mir den Flur entlang in die Familienlounge gefolgt war und ohne Augen oder Ohren mein Gespräch mit Susan in sich aufgenommen hatte.“ (S. 20). Ihr individuelles Selbst hätte in der Tat ihren Körper verlassen müssen.
Aus nachvollziehbaren Gründen erwähnte der Psychiater bei Besprechungen im Psychiatrie-Team nicht, dass Holly alle Einzelheiten seines Gesprächs mit ihrer Kommilitonin mitverfolgt hatte. Er erzählte sogar nicht einmal seiner Frau davon. Die Sorge, sich der Lächerlichkeit preiszugeben, war zu groß. Erst die spätere Begegnung mit Raymond Moody, der in seinem Buch „Life After Life“ (in Deutschland „Leben nach dem Tod“) den Begriff „Nahtoderfahrung“ verwendete und viele Briefe von Lesern erhielt, die derartige Erfahrungen gemacht hatten, bewog ihn dazu, sich eingehend mit Nahtoderfahrungen zu beschäftigen.
Holly war Bruce Greysons erste Patientin, die eine Nahtoderfahrung erlebte. Bei seinen Recherchen stieß er auf viele weitere Berichte über Nahtoderfahrungen, die teilweise zeitlich weit zurückreichten, unter anderem auch auf das Werk des Schweizer Geologen Albert Heim. Dieser hatte bei einem Absturz eine Nahtoderfahrung selbst erlebt und in der Folge Berichte von Bergsteigern gesammelt, die potenziell tödliche Bergunfälle überlebt hatten. Nach rund 25 Jahren Forschung zum Phänomen der Nahtoderfahrung machte er am 28. Februar 1892 seine Ergebnisse in einem Vortrag bekannt und veröffentlichte die erste große Sammlung von Nahtoderfahrungen im Jahrbuch des Schweizer Alpenclub. Albert Heim wird heute der Beginn wissenschaftlicher Untersuchungen über Nahtoderfahrungen zugeschrieben.
Beginn, Dauer und Ende von Nahtoderfahrungen
Es lässt sich nicht konkret erschließen, wann eine Nahtoderfahrung beginnt. Mögliche Zeitpunkte wären der Eintritt der Bewusstlosigkeit oder ein beliebiger Zeitpunkt zwischen Eintritt der Bewusstlosigkeit und Wiedererlangung des Bewusstseins.
Als Auslöser für eine Nahtoderfahrung scheint in erster Linie ein akuter Sauerstoffmangel im Gehirn infrage zu kommen. Dies ist insbesondere nach einem Herzstillstand der Fall. Allerdings scheint Sauerstoffmangel nicht der einzige Auslöser zu sein. Das Gehirn von Holly wurde mit Sauerstoff versorgt und trotzdem erlebte sie eine Nahtoderfahrung. Allerdings kann es auch vorkommen, dass eine Nahtoderfahrung plötzlich und ohne besonderen Gefährdungsanlass im Alltag erlebt wird. Letzten Endes lässt sich keine gesicherte Aussage treffen.
Während des Erlebens einer Nahtoderfahrung verändert sich die Zeitwahrnehmung. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheinen miteinander zu verschmelzen. Das individuelle Selbst unterliegt nicht der Bewusstlosigkeit, sondern scheint sich im „online“-Zustand zu befinden, anders als das im „offline“-Zustand befindliche Gehirn der bewusstlosen Person. Der Erlebnishorizont des individuellen Selbst scheint wesentlich weiter gespannt. Es wird geschildert, dass gewissermaßen „alles“ verstanden werden kann, dass Töne und Farben wahrgenommen werden können, die im Diesseits völlig unbekannt sind, und dass eine telepathische Kommunikation mit Geistwesen möglich ist.
Wie lange die Erlebnisphase andauert lässt sich ebenfalls nicht konkret erschließen. Sie kann wenige Minuten dauern oder auch nur wenige Sekunden. Die maximale Dauer der Erlebnisphase wird durch die Zeit zwischen Beginn der Nahtoderfahrung und Wiederlangen des Bewusstseins bestimmt. Dies gilt unabhängig davon, ob das Gehirn mit Sauerstoff versorgt wird oder nicht. Wird das Gehirn nicht mit Sauerstoff versorgt, bleiben maximal etwa zehn Minuten, bis Gehirnzellen irreversibel geschädigt werden und absterben. Damit nicht mit dem unumkehrbaren Ausfall aller Hirnfunktionen der Hirntod eintritt, muss das Gehirn also rechtzeitig wieder mit sauerstoffreichem Blut versorgt werden.
Das zeitlich späteste Ende einer Nahtoderfahrung entspricht dem Zeitpunkt der Wiedererlangung des Bewusstseins. Ob eine Nahtoderfahrung schon vorher endet, muss offenbleiben. Aus Sicht der erlebenden Person endet sie mit der wahrgenommenen Rückkehr in den physischen Körper.
Typische Elemente von Nahtoderfahrungen
Im Lauf der Zeit wurden viele anekdotische Schilderungen von Nahtoderfahrungen gesammelt und ausgewertet. Es zeigte sich, dass manche Erfahrungsinhalte gewissermaßen als Elemente von Nahtoderfahrungen öfters wiederkehrten. Einige dieser Elemente werden kurz skizziert. Eine Nahtoderfahrung kann, muss jedoch nicht eine oder mehrere dieser Elemente beinhalten. Jede Nahtoderfahrung wird individuell und subjektiv wahrgenommen. In der Konsequenz kann nicht von einer Standard-Nahtoderfahrung gesprochen werden.
Erlebenden Personen fällt es häufig schwer, ihre Erfahrungen in Worte zu kleiden. Die damit verbundenen Wahrnehmungen reichen schließlich über die im intrauniversalen Existenzraum, dem Diesseits, bekannten Wahrnehmungsmöglichkeiten weit hinaus.
Außerkörperliche Erfahrung
Viele Menschen berichten von einer außerkörperlichen Erfahrung: Sie nehmen ihren physischen Körper aus einer gewissen Distanz wahr. Wird die Nahtoderfahrung beispielsweise während einer Operation erlebt, kann die erlebende Person, gewissermaßen an der Raumdecke schwebend, ihren physischen Körper von oben betrachten. Gleichzeitig kann sie auch, obwohl bewusstlos, die medizinischen Fachpersonen sehen und ihnen zuhören, während sich diese um die Wiederbelebung bemühen.
Mit der außerkörperlichen Erfahrung kann eine „Tunnelerfahrung“ einhergehen. Die Bezeichnung „Tunnel“ steht sinnbildlich für eine Enge, durch die ein Mensch hindurchgeführt oder ‑gezogen wird. Auch „Höhle“, „Röhre“ oder „Brunnenschacht“ sind Begriffe, mit denen diese Erfahrung ausgedrückt wird. Am Ende des Tunnels bzw. in der Ferne wird oft ein überaus helles Licht wahrgenommen, zu dem die erlebende Person hingezogen wird.
Stellvertretend für viele andere Schilderungen sei eine Erfahrung von Bill Hernlund wiedergegeben, die dieser im Jahr 1970 erlebte („Nahtod – Grenzerfahrungen zwischen den Welten“, S. 49): „Das Licht zog mich magisch an. Ich bewegte mich außergewöhnlich schnell durch den Tunnel, und es dauerte überhaupt keine Zeit anzukommen. Die Zeit schien dort, wo immer ›dort‹ auch war, anders zu sein oder gar nicht zu existieren. Das Licht ging von einem Wesen aus, das als Teil seiner Essenz ein sehr hell strahlendes Licht ausstrahlte.“
Während einer außerkörperlichen Erfahrung wird das individuelle Selbst als vom physischen Körper getrennt und unabhängig wahrgenommen. Die menschlichen Sinne (Sehen, Hören usw.) werden als uneingeschränkt funktionsfähig und aktiv wahrgenommen. Das Denkvermögen wird sogar als weitaus intensiver und umfassender empfunden.
Lebensrückschau
Die Lebensrückschau ist ebenfalls ein häufig berichtetes Element einer Nahtoderfahrung. Szenen aus der Vergangenheit der erlebenden Person laufen gewissermaßen als Film vor ihr ab. Diese Episoden aus dem bisherigen Leben können vom Babyalter bis hinein in die jüngste Vergangenheit reichen. Die Lebensrückschau kann auch scheinbar längst vergessene Einzelheiten zu Menschen, Dingen und Zuständen wieder in die Erinnerung zurückrufen.
Oft wird davon berichtet, dass Episoden aus dem bisherigen Leben nicht nur aus der eigenen Perspektive, sondern auch aus der Perspektive von in der Episode beteiligten Menschen erlebt werden. Wenn beispielsweise einer anderen Person Unrecht angetan wurde, kann auch gewissermaßen nachempfunden werden, was das Unrecht bei der betroffenen Person bewirkte, was sie in der Situation fühlte und empfand.
In „Beweise für ein Leben nach dem Tod“ wird die Lebensrückschau einer Frau namens Lisa geschildert (S. 174 f.), die hier beispielhaft und stellvertretend für viele ähnlich gelagerte Schilderungen wiedergegeben wird: „Das Lichtwesen wusste alles über mich. Es wusste alles, was ich je gedacht, gesagt oder getan hatte und es zeigte mir mein ganzes Leben in einem einzigen kurzen Augenblick. Alle Einzelheiten meines Lebens wurden mir gezeigt, sowohl das, was ich bereits erlebt hatte, als auch alles, was ich noch vor mir hätte, wenn ich auf die Erde zurückkehren würde. Alles war zugleich da, alle Einzelheiten und alle Zusammenhänge von Ursache und Wirkung in meinem Leben, alles, was gut oder negativ gewesen war, alle Folgen, die mein Erdenleben für andere gehabt hatte, und auch alle Folgen, die das Leben anderer, die mit mir in Berührung gekommen waren, für mich gehabt hatte.“
Typischerweise wird die Lebensrückschau von einem Geistwesen, oft als Gott erkannt, gewissermaßen moderiert. Das Geistwesen stellt mittels telepathischer Kommunikation Fragen, wie beispielsweise „Wie denkst du über dein Leben?“ oder „Wie bist du mit anderen Menschen umgegangen?“.
In der Lebensrückschau beurteilt die erlebende Person sich selbst und spricht über ihr bisheriges Leben im Diesseits selbst das Urteil. Vor dem Hintergrund der multiperspektivischen Betrachtung scheint keine Unklarheit darüber zu bestehen, was „richtig“ bzw. „gut“ und was „falsch“ bzw. „böse“ war.
Begegnungen mit Geistwesen
Während einer Nahtoderfahrung wird oft auch das Hineinbewegen in einen extrauniversalen Existenzraum wahrgenommen. In diesem Existenzraum begegnet die erlebende Person Geistwesen, wobei es sich sowohl um allochthone Geistwesen (bereits verstorbene Menschen) als auch um autochthone Geistwesen (z. B. Engel) handeln kann.
Typischerweise werden Begegnungen mit Verstorbenen erlebt, zu denen während deren Lebenszeit im Diesseits eine positive emotionale Beziehung bestand. Meist sind es Familienmitglieder, die problemlos wiedererkannt werden. Aber auch vor Geburt der erlebenden Person verstorbene Familienmitglieder werden nicht selten erkannt. Manchmal geschieht dies auch erst nach der Nachtoderfahrung über Fotos, beispielsweise in einem Album.
Erlebende Personen nehmen oft eine freudige Begrüßung durch die bereits Verstorbenen wahr. Während der Begegnung kann sich auch eine regelrechte Unterhaltung in Form telepathischer Kommunikation entspinnen.
Oft wird von der erlebenden Person eine Grenze wahrgenommen, die nicht überschritten werden kann oder darf. Würde dies geschehen, hätte dies den physischen Tod zur Folge. Der erlebenden Person wird zu verstehen gegeben, dass dafür die Zeit noch nicht gekommen sei. Dies kann durch ein autochthones oder allochthones Geistwesen geschehen, da – wie sich aus Schilderungen ableiten lässt -, aus dem Blickwinkel des extrauniversalen Existenzraums, des Jenseits, keine Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht.
Die anekdotische Schilderung von Anitta („Beweise für ein Leben nach dem Tod“, S. 184) bietet beispielhaft einen Einblick: „Dann sah ich meinen Vater. Er sah genauso aus wie zu Lebzeiten. Er sagte zu mir: »Komm her, hier ist gut leben.« Ich wollte zu ihm hinlaufen, aber ich konnte nicht, denn zwischen uns war eine Grenze. Ich kann diese Grenze nicht beschreiben. Sie war wie eine Wand, durch die ich hindurchsehen konnte. Dann hörte ich eine dunkle Stimme. Es war, als käme sie von überallher, und sie fragte: »Wer?« Ich war gemeint. Und dann kamen die Worte: »Noch nicht.« … Dann wurde ich gezwungen zurückzukehren, was ich aber nicht wollte, weil ich mich dort so wohl gefühlt habe. Wieder war ich im Tunnel und flog sehr schnell zurück. Zugleich kehrte auch der Schmerz in meinem Rücken wieder. Ich schrie: »Nein, nein«, als ich wieder zu Bewusstsein kam. Danach hatte ich noch tagelang ein seltsames Gefühl: Wo bin ich? Und mein Vater, den ich gesehen hatte, fehlte mir sehr.“
Individualität der Erfahrungen
Jede Nahtoderfahrung hat ihren ganz individuellen Charakter. Deshalb kann nicht von einer „Standard-Nahtoderfahrung“ gesprochen werden. Manche der erlebenden Personen berichten von einem „Tunnelerlebnis“, manche nicht. Manche nehmen ein helles Licht, viel heller als die Sonne, wahr, manche nicht. Und manche erleben eine Lebensrückschau, manche nicht. Jedenfalls erlebt nicht jede Person unbedingt sämtliche Elemente einer Nahtoderfahrung.
Leider enthalten die vielen in der Literatur dokumentierten anekdotischen Schilderungen von Nahtoderfahrungen keine weiteren Informationen zu den Lebenshintergründen der erlebenden Personen. Wären derartige Informationen verfügbar (beispielsweise zur Beziehung zwischen der erlebenden Person und der bzw. den bereits Verstorbenen, denen sie während ihrer Nahtoderfahrung begegnet), ließen sich wahrscheinlich weitergehende Schlüsse ziehen.
Das Bewusstsein, als Individuum eine Nahtoderfahrung zu erleben, ist in jedem Fall vorhanden: „Ich bin es, der bzw. die diese Erfahrung macht und das alles erlebt.“ Nach der wahrgenommenen „Rückkehr“ und dem Wiedererlangen des Bewusstseins bleibt die Erinnerung an die Nahtoderfahrung erhalten.