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Lebensweisheiten – komprimierte Lebenserfahrung

Schon seit einigen Jahren sammle ich Lebensweisheiten. Es ist im Lauf der Zeit zu einer Art Hobby geworden.

Wie bin ich dazu gekommen? Biografien bedeutender und weniger bedeutender Menschen und deren Lebenswege haben mich schon immer sehr interessiert. Besonders haben es mir Menschen angetan, die während einer Phase ihres Lebens oder vielleicht sogar den größten Teil ihres Lebens „gegen den Strom schwimmen“ mussten. Sie mussten Widerstände überwinden, von außen – also vonseiten anderer Menschen – und manchmal auch von innen, – sie mussten in gewisser Weise sich selbst überwinden. Sorgen, Ängste und Mutlosigkeit sind beispielhafte Aspekte innerer Widerstände oder Hürden.

Jede Lebensweisheit ist gewissermaßen eine Essenz eines Lebensabschnitts oder gar eines gesamten Lebens. Sie gibt Lebenserfahrung in verdichteter Form wieder. Naturgemäß bezieht sie sich weniger auf die Gegenwart, das gegenwärtige Erleben, sondern vielmehr auf zeitlich Zurückliegendes.

Lebensweisheiten werden nicht geplant und entspringen nicht, wie etwa ein Kriminalroman, der Phantasie des Schriftstellers. Wohl niemand setzt sich hin und grübelt, mit welcher Lebensweisheit sie oder er viele Menschen beeindrucken könnte, etwa nach dem Motto: „Welchen Spruch könnte ich heute wieder mal raushauen?“. Im Gegenteil: eine Lebensweisheit formt sich oft in eher schwierigen Lebensphasen und bestätigt sich im Rückblick darauf.

Manche dieser gesammelten Lebensweisheiten stammen von bekannten Persönlichkeiten, wie etwa Dietrich Bonhoeffer, Albert Schweitzer, Viktor Frankl, Carl Gustav Jung und Erich Fromm. Und manche habe ich von nicht so bekannten Personen gesammelt.

Es fasziniert mich jedenfalls immer wieder, mit wie wenigen Worten sich Jahre oder Jahrzehnte an Erkenntnissen und Lebenserfahrung komprimiert wiedergeben lassen. Einsichten, Erlebtes, Durchlebtes sind in wenige Worte gekleidet. Wesentliches ist auf den Punkt gebracht.

In erster Linie geht es mir um Lebensweisheiten, die ermutigen, inspirieren, motivieren und ganz allgemein im Leben und für das Leben hilfreich sein können. Insofern geschieht auf natürliche Weise auch eine Abgrenzung gegenüber Appellen wie – als Beispiel – dem des US-amerikanischer Unternehmers Tim Fargo: „Erzähl mir nichts über deine Bemühungen. Lass deine Ergebnisse sprechen“. Eine Lebensweisheit ist kein Appell, keine Aufforderung. Was sollte beispielsweise ein Mensch, der gerade eine depressive Episode durchlebt, damit anfangen können? Während einer depressiven Episode sind Appelle nicht hilfreich. Demgegenüber können Lebensweisheiten eine andere Perspektive vermitteln, die zu positiven Gedanken führt.

Wann können Lebensweisheiten hilfreich sein?

Jeder Mensch ist ein Individuum mit einer einzigartigen Persönlichkeit. Und jeder Mensch geht seinen ganz individuellen Lebensweg. Können dann Lebensweisheiten einfach so für das eigene Leben übernommen werden? Sicherlich nicht! Jedes gelebte Leben ist in Raum und Zeit einzigartig. Nichts lässt sich so einfach auf das eigene Leben übertragen. Dennoch spricht vieles dafür, sich mit Grundfragen des Lebens – bei vielen Lebensweisheiten geht es letzten Endes auch um Grundfragen – zu beschäftigen. An Anlässen mangelt es jedenfalls nicht.

Vielleicht steht man gerade an einem Punkt im Leben, der eine Neuausrichtung erforderlich macht. Möglicherweise hat man gerade in einer zwischenmenschlichen Beziehung eine schwere Enttäuschung erlebt. Möglicherweise hat ein Unfall Lebenspläne und Lebensträume zerstört. Oder vielleicht muss man sich beruflich neu orientieren. In Umbruchphasen stellen sich unwillkürlich Fragen wie „Was ist im Leben wirklich wichtig?“ oder auch „Wie kann meine Seele wieder gesund werden?“. Dann können Lebensweisheiten Leitlinien sein.

Weshalb lohnt es sich, über Lebensweisheiten nachzudenken?

In Umbruchphasen, aber nicht nur dann, können Lebensweisheiten Orientierung vermitteln. Vorausgesetzt, sie werden nicht einfach nur zur Kenntnis genommen, regen sie zum intensiven Nachdenken an und provozieren eine persönliche Auseinandersetzung und Stellungnahme.

Lebensweisheiten sind mit Perspektiven verknüpft, aus denen das Leben betrachtet werden kann. Sie manifestieren sich in Denk- und Verhaltensweisen. Es lohnt sich grundsätzlich, sich für diese zu öffnen und sich gedanklich mit ihnen auseinanderzusetzen. Schließlich wäre es ja möglich, für das eigene Leben entscheidende Impulse zu gewinnen.

Offenheit für andere Denk- und Verhaltensweisen

Wohl jeder Mensch prägt sich im Lauf des Lebens mit bestimmten Denk- und Verhaltensweisen. Vielleicht hat sich über die Zeit hinweg sogar im übertragenen Sinne ein gewisser „Tunnelblick“ entwickelt. Und vielleicht ist man in diesem „Tunnelblick“ sogar gefangen. Man kann oder will Dinge nicht (mehr) wahrnehmen, betrachtet nicht (mehr) das Gesamtbild, sondern nur Teilaspekte. Bei einer derart verengten Wahrnehmung, die oft auch in Phasen intensiver Anspannung entsteht, sind Fehleinschätzungen und Fehlurteile nicht verwunderlich.

Ein „Tunnelblick“ kann sich auch in persönlichen Einstellungen äußern, auch in der Einstellung zu sich selbst. Vielleicht hat man ein negatives Bild von sich selbst, sieht in erster Linie all das, was nicht so gut ist, blendet aber das Positive aus. Vielleicht tragen Glaubenssätze aus der Kindheit dazu bei.

Lebensweisheiten laden dazu ein, darin ausgedrückte Denk- und Verhaltensweisen zumindest in Betracht zu ziehen. Der nächste Schritt besteht darin, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Gedankliche Auseinandersetzung

Unabhängig davon ob man in einem „Tunnelblick“ gefangen ist oder nicht, regen Lebensweisheiten dazu an, sie auf das eigene Leben zu beziehen und sich mit ihnen gedanklich auseinanderzusetzen. In dieser gedanklichen Auseinandersetzung werden bisherige Einstellungen zum Leben an sich, zu Lebenszielen, zu Werten, zu Erstrebenswertem, zu Schädlichem und zu manchem mehr auf den Prüfstand gestellt. Welche Einstellungen prägen bisher das Leben? Was hat auch in Zukunft Bestand? Was will, soll oder muss sogar in eine andere Richtung gelenkt werden?

Die gedankliche Auseinandersetzung kann vom Verstand oder vom „Herzen“ dominiert sein. Etwas mit dem Verstand zu begreifen ist bei weitem nicht dasselbe wie etwas mit dem Herzen zu verstehen. Mit dem Verstand kann man einer Lebensweisheit durchaus rational beipflichten. Der Aussage: „Erfolg ist nicht der Schlüssel zum Glück. Glück ist der Schlüssel zum Erfolg. Wenn du liebst, was du tust, wirst du erfolgreich sein.“ – als Beispiel -, kann man mit dem Verstand sicherlich zustimmen. Bewegt man jedoch diese Aussage „im Herzen“, lässt man gewissermaßen seine Seele sprechen. Auch Gefühle werden erlebt und wahrgenommen.

Es verwundert nicht, wenn das Herz andere Schlüsse zieht als der Verstand. Es benötigt Zeit, Gefühle zu erspüren, eine Aussage gewissermaßen in ihrer Tiefe zu erleben. Doch irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem man eine Lebensweisheit für sich entweder fruchtbar machen möchte oder sie, bildlich ausgedrückt, ins Archiv verschiebt.

Entscheidung

Die gedankliche Auseinandersetzung führt immer auch zu einer Reflexion des bisherigen Lebenswegs. „Wie hätte mein Leben verlaufen können, wenn ich das schon früher beherzigt hätte?“, „Weshalb habe ich nicht schon früher darüber nachgedacht?“ oder „Was hat mich daran gehindert, mich schon früher damit zu beschäftigen?“ stehen beispielhaft für typische Fragen, die sich stellen und beantwortet werden wollen.

Unweigerlich kommt der Zeitpunkt der Entscheidung, ob man das Leben so weiterführen möchte wie bisher oder ob man etwas verändern möchte. Auch ein zeitliches Aufschieben der Entscheidung ist in sich schon eine Entscheidung, alles beim Alten zu belassen.

Weshalb provozieren Lebensweisheiten oft Widerspruch?

Manche Lebensweisheit löst auf den ersten Blick vielleicht Unverständnis oder gar Erschrecken aus. Möglicherweise denkt man sogar: „Das ist ja vollkommener Blödsinn!“ Für den Menschen, der hinter einer Lebensweisheit steckt, war es jedoch keineswegs Unsinn. Die eigene Lebensgeschichte und ‑erfahrung haben zu dieser zur Lebensweisheit gewordenen Aussage geführt. Insofern sind Lebensgeschichte des Urhebers und Lebensweisheit untrennbar miteinander verbunden.

Oft erschließt sich die Tiefe einer Lebensweisheit erst auf den zweiten Blick, vielleicht sogar erst auf den dritten. Erst wenn man zulässt, sein Herz berühren zu lassen, kann man auch die Tiefe erspüren.

„Treue ist irgendwo absolut oder sie ist gar nicht.“, eine Lebensweisheit des Psychiaters und Philosophen Karl Jaspers mag als Beispiel dienen. Wirklich verständlich wird sie erst, wenn die konkrete Lebenssituation, in der sie ihren Ursprung hat, hinreichend bekannt ist. Karl Jaspers musste kurz vor Kriegsende 1945 damit rechnen, in ein Konzentrationslager verschleppt zu werden. Seine Ehefrau hatte jüdische Wurzeln. Er wollte jedoch ohne seine Frau nicht leben und war bereit, mit ihr durch gemeinschaftlichen Suizid in den Tod zu gehen.

Der eigene Lebensweg unterscheidet sich von dem der Urheber von Lebensweisheiten. Auch die eigene Persönlichkeit ist eine völlig andere als die eines Urhebers. Jeder Mensch ist durch seine Kindheit geprägt und hat im Lauf der Zeit sein eigenes Wertesystem entwickelt. Deshalb haben Begriffe, wie beispielsweise Glück und Erfolg, für jedes Individuum eigene Bedeutung und Inhalt. Insofern ist es völlig natürlich, dass Lebensweisheiten, die nicht zum eigenen Wertesystem und zu den eigenen Denk- und Verhaltensweisen passen, Widerspruch provozieren.

Lassen sich Lebensweisheiten einfach übernehmen?

Vielleicht empfindet man sich seelenverbunden mit dem Urheber einer Lebensweisheit und ist geneigt, sie einfach für sich zu übernehmen. Doch genügt eine Seelenverbundenheit?

Um eine Lebensweisheit für das eigene Leben fruchtbar zu machen, bedarf es unbedingt der bereits erwähnten gedanklichen Auseinandersetzung. Ohne intensives Nachdenken und Neudenken für das eigene Leben wird keine Tiefe erreicht werden können. Vielleicht bliebe es sogar bei einer nur verstandesmäßigen Zustimmung. Wird jedoch eine Lebensweisheit mit dem Herzen erfasst und durchdrungen, sind die wesentlichen Voraussetzungen gegeben, dass sie sich im eigenen Leben auf ganz individuelle Art und Weise umsetzen lässt.