„Ich bin zum Arzt berufen“, „Ich bin zum … berufen“ oder ähnliche Aussagen sind mir schon einige Male begegnet. Aber ist „Arzt sein“ auch gleichzeitig Lebensaufgabe? Wie verhält es sich, wenn ein Arzt seinen Beruf nicht mehr ausübt oder ausüben kann?
In welchem Zusammenhang stehen Berufung und Lebensaufgabe? Der Begriff „Berufung“ hat mehrere, fest umrissene Bedeutungen. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Berufung eine Art innerer Antrieb, der einen Menschen zur Übernahme einer bestimmten Aufgabe bewegt. Auf weitere Bedeutungen dieses Begriffs im Rechts- und Personalwesen wird an dieser Stelle nicht eingegangen.
Im spirituellen Sinn bedeutet Berufung das Vernehmen/Verspüren einer inneren Wahrnehmung, einer inneren Stimme, das Fühlen einer inneren Bestimmung, die einen Menschen zu einer bestimmten Lebensaufgabe drängt. Im Christentum bezeichnet Berufung ein Angebot Gottes, eine Einladung, auf die der Mensch reagieren, eine Antwort geben kann.
Die Frage nach Berufung beinhaltet stets auch unausgesprochen die Frage: Wer beruft? Bin ich es selbst oder ein höheres Wesen (Gott)? Wenn Gott nicht zu meiner Lebenswelt gehört, bin ich es notgedrungen selbst, der beruft.
Viele Menschen machen sich nur ansatzweise Gedanken über ihre Berufung, und dies meist nur in bestimmten Lebensphasen. Wenn etwa die berufliche Weichenstellung nach der Schulausbildung ansteht, stellt sich beispielsweise die Frage, ob ein Studium sinnvoll ist, und, falls ja, welche Fachrichtung es sein könnte.
Hat nun jeder Mensch eine Berufung für sein Leben? Rein rational betrachtet verfügt jeder Mensch über einen inneren Antrieb, ob noch ungerichtet oder schon auf eine bestimmte Aufgabe fixiert. Jeder Mensch hat Gaben, Fähigkeiten, Interessen und Visionen, die er mittels seines Antriebs entwickeln und ausleben kann. Gaben, Fähigkeiten, Interessen und Visionen formen ein einzigartiges Profil, das in der persönlichen Berufung zur Wirkung kommt. Die Antwort ist also ein klares und uneingeschränktes „Ja“.
Was bewegt mich dazu, was sind Auslöser, nach meiner Berufung zu fragen, mir darüber intensive Gedanken zu machen? Häufig ist es ein Gefühl der Unzufriedenheit, nicht den richtigen Beruf auszuüben, irgendwie am Leben vorbei zu gehen. Das Gefühl einer inneren Leere, eines Unausgefülltseins, eines Sinndefizits im Alltagsleben, stellt sich ein. Manchmal ist auch eine schwere Lebenskrise der Auslöser, sich zu fragen: Wie soll es jetzt weitergehen, wie kann ich mein Leben wirklich ausfüllen, Lebensqualität und Lebensfreude gewinnen?
Meine Berufung finde ich, indem ich mir bewusst mache, was in mir bereits angelegt ist. Ich habe bestimmte Gaben und Fähigkeiten „in die Wiege gelegt“ bekommen, die ich im Lauf meines Lebens schon weiterentwickelt habe. Ich habe bestimmte Interessen, und es gibt manches, das ich richtig gerne mache oder in Zukunft machen würde. Und ich habe Visionen. Sehr wahrscheinlich gibt es etwas, wofür mein Herz schlägt, wofür ich mich richtig begeistern kann, wofür ich mich einsetzen möchte. Jetzt ist es nicht mehr nur das schon Angelegte, sondern jetzt kommt noch Leidenschaft hinzu. Jetzt „spricht“ meine Seele.
Meine Berufung klärt sich meistens nicht innerhalb weniger Minuten. Dafür brauche ich Zeit, muss mich immer wieder damit beschäftigen. Diese Zeit muss ich mir selbst auch zugestehen, denn es lohnt sich. Die Aussicht besteht, Jahre im Einklang mit meiner Berufung zufrieden und glücklich zu leben.
Wenn ich meine Berufung für mich geklärt habe, kann ich mich der Frage zuwenden: Was soll meine Lebensaufgabe sein? Meine Berufung führt mich zur Lebensaufgabe, sie ist aber nicht selbst Lebensaufgabe.