Ist letzten Endes alles eine Frage der Interpretation? Wie viel Interpretation und vielleicht auch Abstraktion liegt, bildlich gesprochen, zwischen „Sender“ und „Empfänger“? Kann überhaupt noch verstanden werden, was ursprünglich vermittelt werden sollte?
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Dieser Beitrag ist Teil der Serie „Was geschieht mit mir wenn ich sterbe?“
Grobes Inhaltsverzeichnis
Die wohl allermeisten Menschen werden nicht die Zeit aufbringen können, um sich in den Quelltext einer Heiligen Schrift einzuarbeiten. Somit bleibt nur, sich auf eine Übersetzung und das Verständnis erleichternde Texte (beispielsweise Katechismen) zu verlassen.
Interpretationsebenen
Um ermessen zu können, wie weit das heutige Verständnis Heiliger Schriften möglicherweise vom ursprünglich intendierten Verständnis entfernt sein kann, erscheint ein kurzer Blick auf Interpretationsebenen sinnvoll. Am Beispiel des Neuen Testaments der Bibel seien diese Interpretationsebenen kurz illustriert.
Interpretationsebene 1: Der Urtext
Nach aktuellem Kenntnisstand wurde mit der Niederschrift der Evangelien, der zentralen Texte des Neuen Testaments, frühestens 30 Jahre nach dem Tod von Jesus Christus (etwa 33 n. Chr.) begonnen. Bis dahin wurde die Geschichte von seiner Geburt, seinen Taten, seiner Kreuzigung und Auferstehung, mündlich und schriftlich in Textfragmenten überliefert.
Die Forschung geht mehrheitlich davon aus, dass das Markus-Evangelium das älteste der vier Evangelien ist. Es entstand etwa zu der Zeit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem, wurde also um 70 n. Chr. niedergeschrieben. Das Matthäus-Evangelium entstand etwa um 80 n. Chr. und nutzte den Erkenntnissen der Forschung zufolge das Markus-Evangelium und „Q“ als weitere Quelle als Vorlage. Das Lukas-Evangelium datiert aus der Zeit 80 bis 90 n. Chr. Die Forschung ist sich hinsichtlich der Entstehungszeit allerdings nicht einig. Manche Forscher gehen von einer Entstehung etwa um 60 n. Chr. aus. Lukas und der Verfasser des Matthäus-Evangeliums nutzten laut Forschung unabhängig voneinander das Markus-Evangelium und die nicht mehr auffindbare Quelle „Q“. Das Johannes-Evangelium wurde etwa um 100 n. Chr. verfasst und unterscheidet sich erheblich von den drei anderen Evangelien. Auch hier besteht Uneinigkeit hinsichtlich der Datierung. Manche Forscher gehen von einer späteren Entstehung um etwa 125 n. Chr. aus.
Wenn vereinfacht davon ausgegangen wird, dass das Markus-Evangelium als zeitlich ältestes Evangelium um das Jahr 70 n. Chr. entstanden ist, waren mit mündlichen Überlieferungen und schriftlich vorliegenden Texten etwa 37 Jahre zu überbrücken. Um das Jahr 70 n. Chr. dürften, der damaligen Lebenserwartung entsprechend, nur noch wenige Zeitzeugen am Leben gewesen sein, wenn überhaupt. Markus konnte also kaum Zeitzeugen befragt haben, sondern musste sich wahrscheinlich auf die Erinnerung von Menschen stützen, denen von ihren Vorfahren mündlich oder schriftlich etwas mitgeteilt wurde.
Zur damaligen durchschnittlichen Lebenserwartung liegen kaum Angaben vor. Einen groben Hinweis mögen Zahlen zur römischen Gesellschaft geben. Dort war nur rund ein Viertel der Bewohner Roms älter als 40 Jahre und lediglich etwa fünf Prozent der Bevölkerung war über 60 Jahre alt.
Angenommen, man soll sich an Ereignisse erinnern, die 37 Jahre und länger zurückliegen. Könnte man sich noch an genaue zeitliche Abfolgen erinnern? Könnte man sich noch an wörtliche Aussagen erinnern? Würden Textfragmente ausreichen, um Erinnerungslücken zu füllen oder fehlerhafte Erinnerungen zu korrigieren?
Das Neue Testament der Bibel wurde in Griechisch verfasst. Als die Muttersprache Jesu Christi gilt jedoch Aramäisch, die erste Weltsprache der Menschheitsgeschichte, und eng mit Hebräisch verwandt. Dies hat zur Folge, dass alles von Jesus Christus Gesagte von den Autoren der Evangelien oder anderen Sprachkundigen in Griechisch übersetzt worden sein muss. Trotz der tiefgreifenden Unterschiede zwischen Aramäisch und Griechisch gelten alle Übersetzungen aramäischer wie auch hebräischer Textfragmente im griechischen Neuen Testament ausnahmslos als philologisch korrekt.
Davon unabhängig ist nicht von der Hand zu weisen, dass möglicherweise der Heilige Geist (die dritte Person der Dreieinheit Gottes) bei der Niederschrift unterstützte. Dies hätte zur Folge, dass eine Kommunikation zwischen extrauniversalem und intrauniversalem Existenzraum erfolgte. Bereits dargestellte Phänomene (z. B. Stimmenhören, innere Stimme usw.) lassen dies als durchaus möglich erscheinen.
Interpretationsebene 2: Die Kanonisierung
Der endgültige Umfang des Neuen Testaments stand spätestens im Jahr 367 n. Chr. fest. Nahezu alle damaligen Christen anerkannten die 27 in griechischer Sprache verfassten Schriften des Neuen Testamentes als gültigen Teil des Bibelkanons. Bei manchen Schriften, insbesondere dem Hebräerbrief und dem Jakobusbrief, war umstritten, ob sie in den Kanon aufgenommen werden sollten. Diese wurden jedoch schließlich anerkannt.
Zur damaligen Zeit existierten noch weitere zeitweise regional hochgeschätzte Schriften, die allerdings nicht in den Kanon des Neuen Testamentes aufgenommen wurden. Dazu zählen u. a. der Barnabasbrief und das Hebräerevangelium.
Im Hinblick auf alttestamentliche Schriften unterscheiden sich protestantische und römisch-katholische Sichtweisen. In der Luther-Bibel werden einige Schriften (z. B. Buch „Judit“, Buch „Weisheit“) als „Apokryphen“ (außerkanonisch) bezeichnet. In den Bibelausgaben der römisch-katholischen Kirche sind diese Schriften Teil des Kanons.
Auch die Kanonisierung stellt eine Form der Interpretation dar. Es galt schließlich, Texte zu identifizieren, die allgemein als heilige Schrift anerkannt waren. Darüber hinaus war die Überzeugung wichtiges Kriterium, dass in dieser Schrift Gottes Wort zum Ausdruck kam.
Interpretationsebene 3: Die Übersetzung
Die grundlegende Problematik von Übersetzungen wurde bereits kurz skizziert. Als weiterer Problempunkt kommt eine mögliche Voreingenommenheit oder Fokussierung auf ein bestimmtes Glaubensverständnis hinzu. Möglicherweise wird versucht, biblische Begriffe so zu deuten, dass sie zum Glaubensverständnis einer bestimmten Glaubensgemeinschaft passen.
Ein Beispiel für eine spezialisierte und tendenziöse Version einer Bibelübersetzung ist die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift, eine eigene Bibelübersetzung der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. In dieser Bibelübersetzung kommt u. a. die Ablehnung der Dreieinheit Gottes zum Ausdruck. Jesus Christus ist demzufolge nicht wesenseins mit Gott, sondern Gott untergeordnet. In dieser Übersetzung wird außerdem suggeriert, dass Jesus Christus nicht an einem Kreuz hingerichtet worden sei, sondern an einem Pfahl.
Eine Übersetzung kann durchaus den Charakter einer speziellen Interpretation eines Quelltexts annehmen. In der Konsequenz werden Übersetzung und zweckgerichtete Interpretation vermischt.
Interpretationsebene 4: Katechismus und Leitlinien
Als Katechismus wird seit dem Beginn der Neuzeit ein Handbuch der Unterweisung in den Grundfragen des christlichen Glaubens bezeichnet. Im Prinzip erarbeitete jede Glaubensgemeinschaft einen Katechismus, in dem sie ihre Tradition, ihr Verständnis der Bibel und ihre Glaubenslehren zum Ausdruck bringt.
Zu den wichtigsten Fragen, die in einem Katechismus behandelt werden, zählen das Glaubensbekenntnis und die Bedeutung der Sakramente (Taufe, Abendmahl bzw. Eucharistie usw.). Die Katechismen der Glaubensgemeinschaften unterscheiden sich voneinander mehr oder weniger stark.
Jeder Katechismus verkörpert eine bestimmte Interpretation der Heiligen Schrift. Ein Beispiel für eine bestimmte Interpretation ist das Taufverständnis. Können Kleinkinder getauft werden, obwohl sie noch nicht in der Lage sind zu erfassen, was die Taufe bedeutet? Oder ist zu warten, bis ein Mensch eine bewusste Entscheidung für die Taufe treffen kann? Diese Frage wird in Katechismen unterschiedlich beantwortet.
Ein Beispiel für eine spezifische Interpretation der Heiligen Schrift ist die Lehre vom Fegefeuer (Purgatorium) im Katechismus der römisch-katholischen Kirche. Dort heißt es (Nummer 1030): „Wer in der Gnade und Freundschaft Gottes stirbt, aber noch nicht vollkommen geläutert ist, ist zwar seines ewigen Heiles sicher, macht aber nach dem Tod eine Läuterung durch, um die Heiligkeit zu erlangen, die notwendig ist, in die Freude des Himmels eingehen zu können.“ Diese von nahezu keiner anderen Glaubensgemeinschaft vertretene Lehre gründet sich auf eine einzige Passage (2 Makk 12,43–45) im zweiten Buch der Makkabäer, einer nach protestantischem Verständnis außerkanonischen Schrift.
Neben den Katechismen veröffentlichen Glaubensgemeinschaften auch Leitlinien, die beispielsweise zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragestellungen Stellung beziehen und die Position der jeweiligen Glaubensgemeinschaft darlegen.
Katechismen und Leitlinien erfahren im Lauf der Zeit immer wieder Veränderungen. Sie manifestieren ein verändertes Verständnis biblischer Inhalte und dessen Auswirkungen auf die Glaubenslehren. So wurde beispielsweise im Jahr 2018 im Katechismus der römisch-katholischen Kirche die Haltung zur Todesstrafe geändert. Nunmehr wird die Todesstrafe für unzulässig erachtet, da sie gegen die Unantastbarkeit und Würde der Person verstößt. Zuvor war die Todesstrafe nicht generell ausgeschlossen.
Interpretationsebene 5: Die Auslegung
Während jeder Katechismus und jede Leitlinie eine Auslegung auf der Ebene einer Glaubensgemeinschaft insgesamt darstellt, wird die Bibel auch von Einzelpersonen mit sehr unterschiedlichem Wissensstand ausgelegt. Theologen wie Nichttheologen verfassen Texte, wie beispielsweise Bibelkommentare und Bücher, lehren an Bildungseinrichtungen, halten Vorträge. Der persönliche Wissensstand, die persönlichen Überzeugungen, das persönliche Glaubensverständnis, die persönliche Weltanschauung und auch persönliche Ambitionen bilden eine Melange, die alle Äußerungen unterschwellig beeinflusst und durchfärbt. Dahinter verbirgt sich in aller Regel durchaus keine unlautere Absicht.
Auf den ersten Blick scheint es keine große Herausforderung zu sein, persönliche Überzeugungen, Ansichten und Vorlieben hintan zu stellen. Auf den zweiten Blick schwingt jedoch stets ein gewisser Konformitätsdruck mit. Wer würde sich beispielsweise in der römisch-katholischen Kirche für das protestantische Verständnis des Abendmahls aussprechen?
Katechismen und Leitlinien sind in gewisser Hinsicht stets auch Kompromisse. Nicht alle Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft teilen die in einem Katechismus oder einer Leitlinie zum Ausdruck gebrachten Positionen. So wurde beispielsweise, wie bereits erwähnt, der Katechismus der römisch-katholischen Kirche im Hinblick auf die Todesstrafe geändert. Mehrere US-amerikanische Bischöfe vertraten jedoch im Änderungsprozess eine andere Position und behielten diese für sich persönlich möglicherweise weiterhin bei.
Eine Frage, die in Auslegungen mehr oder weniger stark mitschwingen kann, ist die Frage, was zu tun ist, um in das Paradies, den Himmel, zu gelangen. Sind es gute Taten bzw. Werke oder kommt es auf diese überhaupt nicht an? Oder gibt es „Zwischentöne“?
Es versteht sich von selbst, dass jede Interpretation der Bibel den Gesamtkontext beachten muss. Wird dieses Prinzip ignoriert, sind auch völlig absurde Schlüsse möglich. Durch willkürliches Herauspicken und Verknüpfen einzelner Bibelstellen ungeachtet des Zusammenhangs werden Fehlinterpretationen geradezu provoziert. Für nicht bibelkundige Menschen sind subtile und zuweilen selbst offenkundig haarsträubende Fehlinterpretationen nicht unbedingt sofort erkennbar, wenn sie denn geschickt vorgetragen werden.
Interpretationen durch einzelne Personen brachten in der Geschichte immer wieder nahezu unermessliches Leid mit sich. Als ein Beispiel unter unzählbar vielen sei die Vertreibung der Salzburger Protestanten im Jahr 1732 genannt, u. a. geschildert in einem Beitrag des Evangelischen Museums Österreich. Innerhalb von nur drei Monaten mussten auf Anordnung von Fürsterzbischof Leopold Anton Graf von Firmian, der die Reformation unterdrücken wollte, alle Protestanten (etwa 20 000) das Salzburger Erzbistum, ihren angestammten Lebensraum, verlassen. Insgesamt 16 Wanderzüge machten sich nach Ostpreußen auf, wo sie durch König Friedrich Wilhelm I. angesiedelt wurden. Dort fanden sie nach ihrem Marsch durch ganz Deutschland eine neue Heimat.
Informationsstand und Verständnis der Menschen
Die dargestellten Interpretationsebenen wirken wie Filter. Auf jeder Ebene sind fehlbare, nicht irrtumsfreie Menschen beteiligt. Insofern stellt sich die Frage: Was von den intendierten Aussagen der Bibel erreicht die Menschen?
Ohne Zweifel steigt die Gefahr von Fehlinterpretationen mit der Zahl der Interpretationsebenen überproportional an. Wohl die weitaus meisten Menschen erreicht fünffach Gefiltertes. Nur äußerst wenige Menschen sind, wie schon angedeutet, willens und zeitlich in der Lage, sich in Quelltexte einzuarbeiten. Sie können nur das aufnehmen, was ihnen dargeboten wird, und dies können durchaus mit persönlichen Ansichten befrachtete Fehlinterpretationen sein.
Ein kleines Rechenbeispiel mag den Sachverhalt etwas verdeutlichen. Angenommen, auf jeder Interpretationsebene gingen 5 Prozent des Informationsgehalts einer ursprünglichen Botschaft verloren. Was den Empfänger letztlich erreicht, sind dann noch rund drei Viertel des ursprünglichen Informationsgehalts. Gegenläufig dazu steigt, wie schon angedeutet, das Risiko für gravierende Fehlinterpretationen und Verfälschungen entlang der Interpretationskette überproportional.
In Deutschland gab es Zeiten, in denen die Glaubensrichtung vom jeweiligen Landesherrn vorgegeben wurde. Nach der Reformation im 15. Jahrhundert entschied gewöhnlich der Landesherr für die Bewohner seines Herrschaftsbereichs mit, welcher Konfession sie anzugehören hatten. Würde die entsprechende Glaubensrichtung auf einer Fehlinterpretation beruhen, wären die Auswirkungen auf der persönlichen Ebene fatal.
In der Vergangenheit mussten sich die weitaus meisten Menschen auf von Angehörigen des Klerus Mitgeteiltes verlassen (Interpretationsebene 5). Als Beispiel könnte sich ein des Lesens und Schreibens kaum mächtiger Bauer des Mittelalters, der völlig auf das Mitgeteilte angewiesen war, kaum ein eigenes Bild über seine eigene Verantwortlichkeit und die Beurteilungskriterien für sein Leben machen.
Möglicherweise fiel der Bauer – um das Beispiel fortzuführen -, auf den Ablasshandel des Johann Tetzel (um 1460/1465-1519) herein. Dieser versprach Menschen, sie durch Geld von ihren Sünden zu befreien. Der Bauer vertraute auf den Ausruf Tetzels: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!“ Nicht zuletzt auf Betreiben des Reformators Martin Luther kam der von der römisch-katholischen Kirche seinerzeit geduldete Ablasshandel zum Ende. Doch wie stand es um den Bauern? Konnte er den Ablasshandel als unbiblisch und falsch entlarven? Oder konnte er es einfach nicht „besser“ wissen?
Heute gibt es vielfältige Informationsmöglichkeiten, um sich ein persönliches Bild zu machen und zu einer Überzeugung zu gelangen. Allerdings wird dies angesichts teilweise geradezu absurder Interpretationen Heiliger Schriften durchaus erschwert. Persönliches Engagement und ein gewisser Aufwand sind vonnöten, um zu einer fundierten persönlichen Überzeugung zu gelangen.