Vergebung, Versöhnung und Befreiung im Jenseits?Lesezeit: 22 Min.

Home » Lebensfragen » Vergebung, Versöhnung und Befreiung im Jenseits?

Vergebung und Versöhnung in zwischenmenschlichen Beziehungen wünscht sich wohl jeder Mensch. Doch oft bleiben zwischenmenschliche Konflikte am Lebensende ungelöst. Wird es möglich sein, im Jenseits zu Vergebung und Versöhnung zu gelangen? Wird es möglich sein, Befreiung von eigener Schuld zu erleben?

Inhalte:

Was geschieht mit mir wenn ich sterbe - Gestaltung: privat

Dieser Beitrag ist Teil der Serie „Was geschieht mit mir wenn ich sterbe?
Grobes Inhaltsverzeichnis

Vor einem weltlichen Gericht wird – sofern ein oder mehrere Richter unparteiisch und ohne Ansehen der Person richten -, streng nach Gesetzeslage geurteilt. Eine mögliche Versöhnung zwischen Täter und Opfer herbeizuführen liegt allerdings nicht im Aufgabenbereich eines weltlichen Gerichts. Täter werden, sofern ihre Schuld festgestellt wurde, im Rahmen des Gesetzes bestraft. Opfer müssen mit ihrem Leid fertigwerden. Ein Richterspruch kann schließlich nichts ungeschehen machen, kein Leid, keinen Schmerz und auch keinen Verlust.

Auf eine Lebensbeurteilung durch eine extrauniversale Beurteilungsinstanz (z. B. Gott) übertragen, würde eine Urteilsfindung auf Basis einer Art Gesetzeswerk einer Religion auf eine Abwägung „guter“ und „böser“ Taten hinauslaufen. Doch wie würde sich ein Urteil nach dem Buchstaben des Gesetzes auf das Zusammenleben von Individuen am Bestimmungsort auswirken?

Ungelöste zwischenmenschliche Konflikte

Wenn ein Mensch stirbt, bleiben bis dahin ungelöste zwischenmenschliche Konflikte bestehen. Wird unterstellt, dass das individuelle Selbst nach dem physischen Tod erhalten bleibt, bestehen auch ungelöste zwischenmenschliche Konflikte weiter. Zerstörte Beziehungen bleiben zerstört. Die Erinnerung ist schließlich nicht ausgelöscht.

Wie verhielte es sich beispielsweise, wenn im Diesseits bei einem erbitterten Streit um eine Erbschaft böse Worte fielen und ein Erbberechtigter in böser Absicht übervorteilt wurde? Angenommen, alle am Erbschaftsstreit Beteiligten gelangen nach ihrem biologischen Tod in das Paradies, den Himmel. Da sich alle Beteiligten noch an das zu ihren Lebzeiten Geschehene erinnern können, nahmen sie, bildlich gesprochen, ihre Konflikte und seelischen Verletzungen in den extrauniversalen Existenzraum, das Jenseits, mit. Der Grund ihrer Auseinandersetzung hat jedoch keine Relevanz mehr. Liegenschaften, Wertgegenstände und Geldvermögen konnten schließlich nicht mitgenommen werden und sind jetzt ohnehin völlig bedeutungslos. Doch die seelischen Verwundungen wurden nicht zurückgelassen, sondern sind noch vorhanden.

Müssen Individuen, die zu ihren Lebzeiten Opfer wurden und danach möglicherweise ihr ganzes restliches Erdenleben lang darunter leiden mussten, im extrauniversalen Existenzraum weiterhin ihr Leid spüren? Oder kann es zu einer wie auch immer gearteten Versöhnung und Heilung zwischenmenschlicher Beziehungen kommen?

Jede Versöhnung und in der Folge möglicherweise auch Heilung von Beziehungen setzt beim Täter aufrichtige Einsicht in sein schuldhaftes Handeln voraus. Der Täter muss sich zu seiner Schuld bekennen und sie auch aufrichtig bereuen. Dann kann das Opfer ebenso aufrichtig vergeben. Somit ist die Voraussetzung für eine Heilung der Beziehung geschaffen.

Vor einem weltlichen Gericht ist für das Strafmaß im Allgemeinen von Bedeutung, ob der Angeklagte seine Schuld einräumt. Ist dies der Fall und beurteilt der Angeklagte damit sich selbst, kann er oft eine geringere Strafe erwarten. Zeigt der Angeklagte hingegen keine Einsicht, entfällt ein strafmildernder Grund.

Jede Art von Einsicht setzt eine Selbstbeurteilung voraus. Das eigene Verhalten, Handeln oder Nichthandeln, wird in Verbindung mit einer Gewissensanstrengung einer Selbstbeurteilung unterzogen. Ergebnis dieser Selbstbeurteilung kann jedoch auch die Nichteinsicht sein. Die Gewissensanstrengung führt in diesem Fall zur Überzeugung, selbst keine Schuld zu tragen.

Selbstbeurteilung vor dem Sterben

Im Hinblick auf Befreiung, Vergebung und Versöhnung gewinnt die Selbstbeurteilung besondere Bedeutung. Sie kann schon während des Erdenlebens geschehen. Zuweilen wird sie auch bei Menschen beobachtet, die mit der Tatsache ihres baldigen Sterbens konfrontiert sind. Sie erleben Träume und Visionen, auch als Sterbe- bzw. Sterbebettvisionen bezeichnet, in denen sie Menschen begegnen, die ihnen vertraut sind. Diese Träume und Visionen werden nicht als Halluzination, sondern als sehr real wahrgenommen und bleiben in Erinnerung.

Im Unterschied zum Lebensfilm während einer Nahtoderfahrung scheinen bei Träumen und Visionen einzelne Lebensphasen oder ‑episoden im Mittelpunkt zu stehen. Als Teil der Lebensenderfahrung können sie durchaus als alptraumhaft empfunden werden. Unweigerlich führen sie zu einer Selbstbeurteilung.

Eddies Lebensenderfahrungen

Der Hospizarzt Christopher Kerr schildert in seinem Buch „Die Träume der Sterbenden“ (S. 96 ff.) die Lebensenderfahrungen eines Patienten namens Eddie. Dieser, ein pensionierter Polizist, litt an unheilbarem Lungenkrebs. Träume raubten ihm den Nachtschlaf. Sie förderten unangenehme Dinge aus seinem Leben bis zurück in seine Kindheit zutage. In diesen Rückblenden, die mit fortschreitender Krankheit immer belastender wurden, erlebte er verschiedenste seiner Verfehlungen und erlittene seelische Verletzungen immer wieder.

Während seiner Tätigkeit im Polizeidienst hatte er zuweilen skrupel- und gewissenlos gehandelt. Als Ermittler hatte er beispielsweise Tatverdächtigen falsche Beweisstücke untergeschoben und Menschen zusammengeschlagen, die möglicherweise eine oder mehrere Straftaten verübt hatten. Andererseits hatte er wehrlosen Menschen den Schutz verweigert. Auch mit der ehelichen Treue nahm er es nicht genau, obwohl er seine bereits verstorbene Frau als sein allergrößtes Glück bezeichnete.

Eddie ging davon aus, dass es ein Jenseits gibt, und versuchte, sich vorzustellen, welche Strafe er im Jenseits wohl zu erwarten hätte. Angesichts der davonlaufenden Zeit wurde es für ihn immer dringlicher, seine Seele gewissermaßen in Ordnung zu bringen. So wurde es ihm zu einem Anliegen, sein Gewissen zu entlasten und über seine Vergangenheit offen zu sprechen.

Bei Gesprächen mit den Angehörigen nach Eddies Tod erweiterte sich das Bild von Eddies Leben. Eddie war – wie alle Menschen – nicht nur Täter, sondern auch Opfer. In seiner Teenagerzeit erlebte er sexuellen Missbrauch durch einen Onkel.

Seine Angehörigen hatten Erinnerungen an den anderen Eddie. Sie erzählten vom liebevollen Eddie, einem Menschen von bemerkenswerter Liebesfähigkeit, der nach den Worten seiner Angehörigen auch noch sein „letztes Hemd“ bereitwillig weggegeben hätte.

Kurz vor seinem Tod erlebte Eddie eine Zeit plötzlicher geistiger Klarheit, auch als terminale Geistesklarheit bezeichnet. Er ließ wissen, dass er mit Gott alles in Ordnung gebracht habe. Seine spontane Frömmigkeit verblüffte. Und er sagte seiner Tochter Kim, dass er jetzt zu ihrer Mutter gehe.

Eddie wandelte sich in den letzten 36 Stunden vor seinem Tod. Was genau während der stillen Zeit seines langen Schlafs geschah, lässt sich nicht ergründen. Aber in seiner Innenwelt vollzog sich eine radikale Veränderung.

Christopher Kerr fasst die Lebensenderfahrungen Eddies so zusammen (S. 107): „Kein Medikament und keine medizinische Kunstfertigkeit der Welt hätten Eddies heimtückische Verzweiflung so effektiv in euphorische Heiterkeit verwandeln können, wie es, nur Stunden bevor er starb, seiner Psyche gelungen war. Keine Antidepressiva und keine Gesprächstherapie reichen auch nur annähernd an die erstaunlichen Kräfte der Selbstheilung, Sinnfindung, Versöhnlichkeit und Beruhigung heran, über die die menschliche Seele am Lebensende verfügt. Man mag spekulieren, was genau den sterbenden Menschen auf eine höhere Bewusstseinsebene katapultiert – Gebet, Meditation, Traum oder Alptraum -, doch viel wichtiger als der Auslöser dieser Transformation ist ihre wundersame, beinahe magische Wirkung.“

Dwaynes Lebensenderfahrungen

Auch der 48 Jahre alte Dwayne war Patient im Hospiz in Buffalo, USA. Ebenfalls im Buch „Die Träume der Sterbenden“ (S. 110 ff.) findet sich eine Schilderung der Lebensenderfahrungen des nach jahrelangem Drogenmissbrauch an Kehlkopfkrebs im Endstadium leidenden Patienten. Auf Dwayne passte die Bezeichnung „Krimineller“, denn er blickte auf eine lange Geschichte aus allerlei Straftaten, darunter viele Diebstähle, und Gefängnisaufenthalten zurück.

Seinem Verhalten nach zu urteilen, schien er ein reines Gewissen zu haben. Seine zurückliegenden Straftaten belasteten ihn anscheinend nicht mehr. Dieses nach außen hin zur Schau gestellte Verhalten war für ihn jedoch eine Art Überlebensmechanismus. Er glaubte, es sich nicht leisten zu können, innerlich zur Ruhe zu kommen, bildlich gesprochen, die „Pause“-Taste zu drücken. Hätte er innegehalten, wären ihm wohl die Leiden, Verletzungen und sonstigen Schäden bewusst geworden, die er Mitmenschen und sich selbst zufügte.

Hätte er sich im Hospiz gedanklich mit seiner Vergangenheit beschäftigt, hätte er sich in der Konsequenz mit den ganzen Schrecken auseinandersetzen müssen, die er während seines jahrelangen Lebens auf der Straße erlebt hatte. Auch Dwayne war nicht nur Täter, sondern auch Opfer.

Wie Eddie, so wurde auch Dwayne wiederholt von quälenden Träumen geplagt. Während der Dreharbeiten für eine Dokumentation über Lebensenderfahrungen, bei der er gefilmt wurde, übermannte ihn plötzlich die Verzweiflung. Der bisher stets als charmant, lustig, gesellig und warmherzig wahrgenommene Mann brach in Tränen aus und zeigte seine verwundbare Seele. Ab diesem Zeitpunkt lief er vor seiner Vergangenheit nicht mehr davon, sondern suchte die Konfrontation. Jetzt suchte er Erlösung.

Etwa zwei Wochen vor seinem absehbaren Tod wünschte sich Dwayne, noch einmal mit seiner Tochter Brittany zusammen sein zu können. Diese saß jedoch zu jener Zeit im Gefängnis noch eine Haftstrafe ab. Dem Antrag auf ihre Entlassung wurde stattgegeben und so konnte Brittany ihren Vater im Hospiz besuchen. Dwayne bekannte seiner Tochter, dass er sie wiederholt bestohlen habe, um seine Drogensucht zu finanzieren. Brittany gab ihm jedoch zu verstehen, dass ihr Vater ihr wichtiger sei als die von ihm entwendeten materiellen Dinge.

In den folgenden vier Wochen – Dwayne hatte noch Lebenszeit gewonnen – verbrachten Dwayne und seine Tochter viel Zeit miteinander. Christopher Kerr beschreibt es so (S. 118 f.): „Die Begegnung mit seiner Tochter war für Dwayne der Kulminationspunkt eines langen Prozesses der Buße, Versöhnung und Wiedergutmachung, den seine Lebensenderfahrungen ausgelöst hatten. Und Brittany, die nichts von seinen verstörenden Träumen wusste, erlebte in der gemeinsamen Zeit den besten aller Väter – den, den sie trotz seiner Schwächen immer geliebt hatte. […] Brittany liebte ihn mit derselben Innigkeit, die er seiner Tochter entgegenbrachte, und sah in ihm so viel, viel mehr als nur seine Fehler. […] Zwar mögen Dwaynes Lebensenderfahrungen als Auslöser seiner Transformation fungiert haben, letztlich aber hatte Brittany seine Erlösung bewirkt. Denn Dwayne brauchte nicht nur Gottes Vergebung, sondern auch die seiner Tochter. Und so war es an ihr, ihm zu innerer Ruhe und Befreiung zu verhelfen.“

Auf das Hospizpersonal machte Dwaynes Verwandlung in seinen letzten Lebenswochen großen Eindruck. Der Straßengangster, als der er auch bezeichnet wurde, war während seines Lebens mittellos. Aber er starb nach dem Empfinden der Personen, die an seinem Lebensende um ihn waren, als reicher Mann.

Bezugsebenen

Es mag vermutet werden, dass die Lebensenderfahrungen einen Bezug zu einem mehr oder weniger bestimmten religiösen System haben. Dies ist jedoch nur bei einer kleinen Minderheit der Fall. Vielmehr steht die Familie als „Bezugssystem“ im Mittelpunkt. Christopher Kerr formuliert es so: (S. 264): „Unsere erste Kirche ist schließlich die Familie, und die Lehren des Glaubens sind Liebe und Vergebung – genau die Motive der Träume und Visionen auf dem Sterbebett.“

Vor diesem Hintergrund weist die Familie als Bezugsebene auf die Bezugsebene „Gott“. In der Familie wird Liebe wird bedingungslose Liebe gegeben, empfangen oder auch vorenthalten und somit nicht empfunden. Wenn Gott Liebe ist – eine der zentralen Lehren des Christentums – dann wird immer dann auch etwas von Gott erkannt, wenn etwas über die Liebe erfahren wird.

Menschen, wie Eddie und Dwayne, die sich auf ihren baldigen Tod vorbereiten mussten, hatten eine menschliche Verbindung zu Bezugspersonen. Sie konnten ganz am Ende ihres Lebens im geschützten Raum eines Hospizes auf der Bezugsebene der Familie Liebe und Vergebung erfahren. Während Eddie auch mit Gott „reinen Tisch“ machte, ist dies von Dwayne nicht explizit bekannt.

Eine weitaus größere Zahl von Menschen erleben das Ende ihres Lebens unter völlig anderen Umständen, leider nicht selten sogar völlig einsam. Wenn sie Träume und Sterbe- bzw. Sterbebettvisionen erleben, blieben sie mit ihrer Selbstbeurteilung alleine. Sie haben niemand an ihrer Seite, der ihnen bedingungslose Liebe zeigen und Vergebung erweisen könnte. Und sie haben auch niemand an ihrer Seite, der vielleicht noch eine persönliche Begegnung mit (einmal) nahestehenden Menschen arrangieren könnte.

Selbstbeurteilung nach dem Sterben

Sehr oft ist eine Selbstbeurteilung, um die Voraussetzungen für Vergebung, Versöhnung und Befreiung zu schaffen, zu Lebzeiten nicht (mehr) möglich. Menschen versterben beispielsweise plötzlich und unvorhergesehen an einem akuten Herz-/Kreislaufversagen, an den Folgen eines schweren Verkehrsunfalls oder auch durch eine Straftat. Ob bei einem plötzlich eingetretenen Tod noch Sterbevisionen auftreten können und ggf. wie viel Zeit dafür bleibt, lässt sich nicht erschließen. Anekdotische Schilderungen fehlen.

Selbst wenn der Zeitraum des Sterbens mehr oder weniger absehbar ist und der Prozess der Selbstbeurteilung erlebt wird, besteht – wenn es ein Sterbender wünscht – oft keine Möglichkeit mehr, Personen für eine Aussprache zu erreichen. Auch Eddie und Dwayne hatten vermutlich nicht nur Personen innerhalb ihrer Familie seelische Verletzungen zugefügt, sondern auch noch weiteren Menschen in ihrem Umfeld.

Tritt der Tod ein, bevor ein Wunsch nach einer Aussprache erfüllt werden kann, sind Vergebung, Versöhnung und Befreiung im Diesseits nicht mehr möglich. Somit stellt sich die Frage, ob eine Selbstbeurteilung auch im extrauniversalen Existenzraum, dem Jenseits, noch geschehen kann.

Wenn von einem nichtlokalen individuellen Selbst ausgegangen wird, ist der extrauniversale Existenzraum mit Individuen bevölkert, die sich noch an ihr Erdenleben zurückerinnern können. Unter dieser Voraussetzung wäre es möglich, „zwischenmenschliche Beziehungen“ (dieser Begriff trifft nur noch dem Sinne nach zu) im weitesten Sinne zu heilen. Auf dem Fundament von Liebe und Vergebung ist Versöhnung und Befreiung möglich.

Schmerz, Vergebung und Befreiung

Haben Individuen in einem extrauniversalen Existenzraum gegenseitig zumindest teilweisen Einblick in das individuelle Selbst anderer Individuen, ließe sich leichter ein gegenseitiges Verständnis für Einstellungen, Verhaltensweisen und Handlungen im zurückliegenden diesseitigen Leben entwickeln. Ein Täter würde erkennen können, was er im Leben seines Opfers anrichtete und es vielleicht sogar zerstörte. Ein Opfer würde erkennen können, was den Täter dazu brachte, so zu handeln wie er handelte.

Bei völliger Transparenz sehen Individuen einander wie sie wirklich waren bzw. sind. Sämtlichen Lebenslügen wird gewissermaßen der Boden entzogen. Einerseits ist dies schmerzhaft, möglicherweise sogar äußerst schmerzhaft, andererseits jedoch auch befreiend. Insofern hätte diese Selbstbeurteilung, die durchaus auch eine Art Gericht über sich selbst bezeichnet werden kann, auch einen therapeutischen Charakter.

Nicht jeder ist während des Erdenlebens nur Täter und nicht jeder ist nur Opfer. Jedes Individuum übernimmt im Leben beide Rollen. Insofern würde jedes Individuum sowohl Schmerz als auch Befreiung erfahren. Befreiung würde durch Vergebung erlebt.

Für das Christentum hat Vergebung eine sehr wichtige Bedeutung. Wenn jedes Individuum vollständigen und unverstellten Einblick in die eigenen Anteile am Leid anderer hat, erkennt es, was Vergebung für das Opfer bedeutet. Und wenn gesehen wird, wie man selbst Opfer war, wird ebenfalls deutlich, dass nur Vergebung zur Befreiung führen kann. Darüber hinaus wird Gott in der Person von Jesus Christus als der erfahren, der Vergebung schenkt. Diese Vergebung wird mit einem weiten Herzen gewissermaßen weitergegeben.

Unter dem Vorzeichen einer Weiterexistenz des individuellen Selbst, verbunden mit einem nicht mehr verweslichen Körper, könnte es schließlich zu einer Heilung „zwischenmenschlicher“ Beziehungen in einem sehr weiten Sinne kommen. Die Lasten und Einschränkungen des Lebens im Diesseits, wie beispielsweise physische Krankheiten, wären aufgehoben. Sorgen um die Zukunft hätten keinen Raum mehr. Das Leben würde sich auf das Hier und Jetzt, die Gegenwart, konzentrieren. Es könnte zu einem harmonischen Zusammenleben kommen. Paradiesische Zustände und Verhältnisse, wie insbesondere in Islam und Christentum dargelegt, wären erreichbar.

Die Schriften der Offenbarungsreligionen ignorieren völlig, wie Individuen im extrauniversalen Existenzraum, dem Jenseits, „zusammenleben“ können. Zwar wird der Eindruck vermittelt, dass im Paradies, dem Himmel, irgendwie alles gut sein wird, doch bleibt, bildlich gesprochen, der Vorhang zugezogen.

Konkretere Hinweise könnten Nahtoderfahrungen geben. Relativ viele Menschen erlebten im Verlauf der Geschichte rund um den Erdball Erfahrungen, in denen sie sich außerhalb ihres physischen Körpers in einer – verkürzt ausgedrückt – anderen Welt wahrnahmen. Da es sich um Nahtoderfahrungen handelt und die Schwelle des physischen Todes nicht endgültig überschritten wurde, haben diese Erfahrungen jedoch nur eine beschränkte Aussagekraft.

Umfassendes gegenseitiges Verständnis

In ihrem bereits genannten Buch „7 Botschaften des Himmels“ schildert Mary C. Neal, wie sie während ihrer Nahtoderfahrung ihren Lebensrückblick erlebte (S. 36 f.). Vor Jesus Christus und ihr seien Szenen ihres Lebens sichtbar geworden, „projiziert gleichsam auf eine große, dreidimensionale und multisensorische Leinwand. […] Statt Sorge und Angst empfand ich nichts als Liebe.“

Manche Szenen aus ihrem Leben seien von Jesus Christus herausgegriffen worden. Sie habe das Geschehen sofort noch einmal aus jedem Blickwinkel und mit absolutem Verständnis erlebt. „Als ich jeden Aspekt eines Ereignisses betrachtete, konnte ich im Nu die Lebensgeschichte der beteiligten Personen erkennen. Ich begriff vollkommen ihre Gemütszustände, Motivationen und Stimmungen. Ich erfasste ihren Standpunkt, was sie zur Situation beitrugen und wie dadurch ein jeder von uns verändert wurde.“

Durch den Einblick in die Vorgeschichten, Erfahrungen, Lebensumstände, Kummer und Sorgen beteiligter Mitmenschen sei in ihr ein Verständnis von Gnade gewachsen. Sie habe sich selbst als Empfängerin der Gnade Gottes empfunden, die ihre eigenen Verfehlungen während ihres Erdenlebens in den Hintergrund gedrängt habe. Empfangene Gnade könne an andere Menschen weitergegeben werden. Diese „Gnadenerfahrung“ habe nach ihrer Rückkehr in den physischen Körper auf ihr Leben rückgewirkt. Sie sei ihren Mitmenschen gegenüber nachsichtiger geworden, beispielsweise in Alltagssituationen im Straßenverkehr.

In ihrem Buch finden sich keine konkreten Ausführungen dazu, wie seelische Verletzungen, die von zwischenmenschlichen Konflikten während des Erdenlebens herrühren, geheilt werden können. Sie hält lediglich fest, dass Beziehungskonflikte aufgrund gegenseitigen Verständnisses geschlichtet werden. Ihre Eindrücke drückt sie so aus (S. 120): „Menschen, die im Diesseits verbittert und gemein waren, sind liebevoll und frohgemut im Himmel. Das mag keine willkommene Nachricht sein für diejenigen, die von Verwandten und Freunden verletzt wurden, und sich geschworen haben, ihnen keinesfalls zu verzeihen oder sie nie wiedersehen zu wollen. Ich hingegen stieß im Himmel auf tiefes Verständnis. Beziehungen, auf Erden kontrovers und zerbrochen, werden dort erneuert und mit Liebe erfüllt.“

Interuniversale Wirkungen

Viele zwischenmenschliche Konflikte bleiben bis zum Lebensende ungelöst. Oft besteht kein Kontakt zwischen Täter und Opfer zu deren Lebzeiten mehr, da das Opfer aufgrund der empfundenen Schwere der seelischen Verletzungen jeglichen Kontakt verweigert. In der Konsequenz könnten Konflikte erst dann gelöst werden, wenn sich die Beteiligten im extrauniversalen Existenzraum, dem Jenseits, wieder begegnen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Möglichkeiten denkbar sind, Vergebung, Versöhnung und Befreiung interuniversal zu bewirken. Nachtodkontakte können Hinweise darauf geben, ob und wie sich Auswirkungen von Vorgängen über die Grenzen von Existenzräumen hinweg ergeben können. Eine von einer im Diesseits lebenden Person willentlich getroffene Entscheidung und eine nachfolgende Handlung könnten sich auf ein im Jenseits existierendes Individuum auswirken. Auch der umgekehrte Fall wäre denkbar. Aufgrund der geringen Zahl einschlägiger anekdotischer Schilderungen ist eine generalisierende Aussage jedoch nicht möglich.

Nachtodliche Entlastung

In „Trost aus dem Jenseits“ findet sich eine Schilderung der zu diesem Zeitpunkt 39-jährigen Rosalyn, einer Drogenberaterin (S. 297 f.): „Onkel Mickey kam nach der Scheidung meiner Eltern zu uns, ich war damals sieben Jahre alt. Er war Alkoholiker, und meine Mutter wollte ihm helfen. Aber während der zwei Jahre, in denen er bei uns wohnte, wurde ich von ihm sexuell missbraucht. Das war für mich eine sehr traumatische Zeit.

Mit siebzehn war ich selbst Alkoholikerin. Und mit achtzehn nahm ich schon harte Drogen. Jahrelang gehörten Alkohol und Drogen zu meinem Alltag, bis ich irgendwann damit aufhörte.

Um trocken und clean zu bleiben, musste ich meine Vergangenheit aufarbeiten – alle Menschen, Orte und Dinge, die mich verletzt hatten, noch einmal unter die Lupe nehmen. Und ich musste mich so ehrlich wie möglich fragen, inwieweit diese Menschen oder Geschehnisse mein Leben beeinflusst hatten. Mir war es auch wichtig, mit meinem Onkel Frieden zu schließen, denn ich glaube, er hätte mich nicht missbraucht, wenn er nicht Alkoholiker gewesen wäre. Also schickte ich Onkel Mickey einen Brief, in dem ich ihm meine Gefühle ihm gegenüber beschrieb und ihm versicherte, dass ich keinen Groll mehr gegen ihn hegte. Ob er ihn je bekommen hat, weiß ich bis heute nicht. All die Jahre betete ich zum Herrn [Jesus Christus, Anm. des Autors], er möge die Sünde meines Onkels mit meiner Liebe aufwiegen.

Im vergangenen Frühling wachte ich eines Nachts plötzlich auf. Ich drehte mich um und sah Jesus und Onkel Mickey direkt neben meinem Bett stehen! Ich sah nur ihre Oberkörper, und darunter war helles Licht. Ein überwältigendes Gefühl der Liebe überkam mich, doch ich nahm auch den Ernst der Situation wahr. Der Herr stellte eine Frage, die ich in meinem Innersten vernahm. In seiner Stimme lagen Autorität und Macht, aber auch Freundlichkeit.

Jesus fragte: »Willst du diesem Mann irgendetwas zur Last legen?« Ich antwortete: »NeinDann sah Jesus meinen Onkel an und sprach zu ihm: »Auch ich lege ihm nichts zur LastDa wusste ich, dass Onkel Mickey seinen Frieden beim Herrn gefunden hatte – und dass er frei war.

Wenige Tage später schrieb mir meine Mutter, dass Onkel Mickey gestorben war.

Es ist davon auszugehen, dass es sich um einen Nachtodkontakt handelte. Der Onkel wäre Jesus Christus vor seinem physischen Tod nicht begegnet. Möglicherweise ereignete sich die Erfahrung während einer Lebensbeurteilung des Onkels.

Den Anlass zu dieser Begegnung scheinen Gebete Rosalyns gegeben zu haben. Ansonsten wäre eine Beteiligung von Jesus Christus an der Begegnung nicht zu erklären.

Die Vergebungsbereitschaft Rosalyns erscheint sehr außergewöhnlich. Die allermeisten Missbrauchsopfer erwarten eher, dass der jeweilige Täter den Weg zu ihnen findet und sie um Vergebung bittet. Rosalyns Entscheidung, ihrem Onkel von sich aus gewissermaßen die Hand der Vergebung auszustrecken, mag als Hinweis darauf dienen, dass sie sich durch ihre Vergebungsbereitschaft auch selbst eine Last nehmen wollte.

Bitte um Verzeihung aus dem Jenseits

Ebenfalls in „Trost aus dem Jenseits“ wird die Erfahrung von Kurt, einem Therapeuten, geschildert (S. 78 f.): „Ich hatte mich immer gefragt: »Warum hasst mich mein Vater?« Zu seinen Lebzeiten war er kein liebevoller Mensch gewesen. Er war sehr streng zu uns Kindern und verprügelte uns auch. Ich habe sogar erlebt, dass er meine Mutter schlug. Am dritten Tag nach seinem Tod erschien er mir. Er sah aus, wie immer, nur konnte ich durch ihn hindurchsehen. Seine Gestalt erschien mir wie ein grauer Nebel, aber er war deutlich zu erkennen. Und hinter ihm sah ich ein helles, weißes Licht.

Mein Vater weinte und bat mich um Verzeihung. Er sagte, was er mir und der ganzen Familie je angetan hatte, täte ihm sehr leid. Er habe erkannt, dass es falsch war. Wir sollten verstehen, dass er als Kind unter Gewalt gelitten und dadurch gelernt hatte, sie selbst auszuüben. Mein Vater sagte mir auch, dass er mich doch liebe – und mich immer geliebt habe -, aber aufgrund seiner Erziehung das nicht habe zeigen können. Und dann war er verschwunden. Nachdem er weg war, weinte ich, will ich das Gefühl hatte, dass mir eine schwere Last von den Schultern genommen worden war.

Diese Schilderung lässt darauf schließen, dass auch nach dem Übergang in den extrauniversalen Existenzraum, das Jenseits, das zurückliegende irdische Leben noch reflektiert werden kann. Offenbar wurde es dem verstorbenen Vater zum Anliegen, etwas nachzuholen, was er auch schon zu seinen Lebzeiten hätte tun können.

Folgerungen

Die Offenbarungsreligionen halten sich sehr zurück, was eine Beschreibung des gesellschaftlichen Zusammenlebens im weitesten Sinne im extrauniversalen Existenzraum, dem Jenseits, anbelangt. In den religiösen Schriften ist dazu kaum etwas zu lesen. Im Neuen Testament der Bibel wird im Buch „Offenbarung“ lediglich zum Befinden der Individuen im Paradies, in der Gegenwart Gottes, etwas ausgesagt (Kap. 21, 4): „Er [Gott] wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“

Viele Menschen fragen sich, wie das Zusammenleben der vielen Individuen im Jenseits vorstellbar ist. Viele Individuen kennen sich aus dem früheren Erdenleben. Sehr wahrscheinlich begegnen sich auch frühere Täter und Opfer. Es wäre beispielsweise vorstellbar, dass ein Individuum, das während seines Erdenlebens unter Alkoholeinfluss einen schweren Autounfall verursachte und dabei den anderen Autofahrer schwer verletzte, seinem Opfer wieder begegnet. Der damals Schwerverletzte litt während seines weiteren Erdenlebens an einer Querschnittslähmung und war an das Bett gefesselt. Seine Zukunftspläne waren nicht mehr realisierbar. Er hegte Zeit seines Lebens einen Groll gegen den Unfallverursacher und konnte ihm nicht vergeben.

Muss der in diesem Szenario beispielhaft dargestellte Unfallverursacher mit nicht vergebener Schuld „leben“? Oder kann es doch zu einer Vergebung, gefolgt von Versöhnung und Befreiung kommen? Die religiösen Schriften geben auf diese Frage keine klare Antwort. Über den Grund lässt sich nur spekulieren. Möglicherweise wird implizit davon ausgegangen, dass Vergebung, Versöhnung und Befreiung möglich sind, auch geschehen, und dieser Aspekt deshalb nicht besonders hervorzuheben ist.

Nahtoderfahrungen, wie die bereits geschilderte, lassen darauf hoffen, dass Vergebung, Versöhnung und Befreiung geschehen. Allerdings wird dieser Aspekt nur in äußerst wenigen Nahtoderfahrungen angesprochen. Außerdem geben Nahtoderfahrungen nur einen begrenzten Einblick in das Jenseits. Menschen, die eine Nahtoderfahrung erleben, kehren schließlich wieder in das diesseitige Leben zurück.

Im Neuen Testament der Bibel lässt sich auch erschließen, dass der biologische Familienverbund nicht mehr die Bedeutung wie im Diesseits hat. Vielmehr scheint die „himmlische Gesellschaft“ eine große Familie zu sein. Eine Fortpflanzung ist nicht mehr erforderlich. Individuen sind geschlechtslos. Wie sich dies auf das individuelle Selbst auswirkt, bleibt unklar. Davon abgesehen beziehen sich Vergebung, Versöhnung und Befreiung auf die gesamte „himmlische Gesellschaft“.

Wie bereits erwähnt, erleben manche Menschen vor ihrem Sterben Träume und Visionen, die zu einer Selbstbeurteilung und auch zu einer Aussöhnung hinführen. Dies mag ein Hinweis darauf sein, dass sich diese Selbstbeurteilung im extrauniversalen Existenzraum fortsetzt – ansonsten wäre eine Aussöhnung mit nicht (mehr) erreichbaren Menschen nicht möglich – und sich mit einer Lebensbeurteilung durch einen göttlichen Richter verbindet.

Ich bin Dieter Jenz, Begleiter, Berater und Coach mit Leidenschaft. Über viele Jahre hinweg habe ich einen reichen Schatz an Kompetenz und Erfahrung erworben. Meine Themen sind die "4L": Lebensaufgabe, Lebensplanung, Lebensnavigation und Lebensqualität.