Die Hypothese: ‚Das individuelle Selbst befindet sich nicht im Gehirn‘ ergibt sich als Konsequenz, wenn das Loslösungsszenario das plausibelste Szenario ist. Wie lässt sich diese Hypothese unterfüttern?
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Dieser Beitrag ist Teil der Serie „Was geschieht mit mir wenn ich sterbe?“
Grobes Inhaltsverzeichnis
Die Analyse der drei dargelegten Szenarien (Erlöschungsszenario, Evakuierungsszenario und Loslösungsszenario) führt zu dem Schluss, dass das Loslösungsszenario als das plausibelste Szenario erscheint. Es lässt sich mit den diversen Transzendenzerfahrungen am besten vereinbaren. Demzufolge befindet sich das individuelle Selbst nicht im Gehirn, sondern nutzt das Gehirn gewissermaßen als „Dienstleister“. Es steht, „technisch“ gesehen, mit dem Gehirn bis zum Augenblick des Hirntodes (der unumkehrbare Ausfall der gesamten Hirnfunktionen), möglicherweise auch bis zum Augenblick des biologischen Todes, in Verbindung. Wie diese Verbindung genau beschaffen ist, bleibt zunächst ungewiss.
Die Hypothese, dass sich das individuelle Selbst nicht im Gehirn befindet, steht in krassem Gegensatz zur heute von der Wissenschaft breit vertretenen Auffassung, dass Geist, Psyche und Bewusstsein im Prinzip biologische Prozesse sind, die ausschließlich in den neurologischen Strukturen im Gehirn ablaufen. Demzufolge ist das Gehirn der „Produzent“, der im Hinblick auf die Psyche, als Beispiel, gewissermaßen eine psychische Welt „produziert“. In dieser rein materialistischen Sichtweise reicht das Gehirn aus, um das „normale“ psychische Erleben und darüber hinaus sogar einige bewusstseinserweiternde Erfahrungen zu erklären.
Ein Mensch, der nie eine Transzendenzerfahrung erlebt, hat keinen Anlass darüber nachzudenken, ob sich das individuelle Selbst im Gehirn befindet oder nicht. Die Aussage, dass sich das individuelle Selbst nicht im Gehirn befindet, erscheint zunächst unglaubhaft, ja sogar widersinnig. Erst wenn tatsächlich eine Transzendenzerfahrung erlebt wird, beispielsweise wenn das Gehirn während einer Nahtoderfahrung nicht mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt wird, entsteht Klärungsbedarf. Dann wird die Frage provoziert, wie eine derartige Erfahrung bei „abgeschaltetem“ Gehirn möglich ist.
Um Klarheit zu gewinnen und die Hypothese des gehirnexternen individuellen Selbst entweder zu bestätigen oder zu widerlegen und in der Folge zu verwerfen, ist die Frage zumindest mit hinreichender Substanz zu beantworten, wie individuelles Selbst und Gehirn interagieren. Kein Erklärungsansatz darf jedoch im Gegensatz zu empirisch bewiesenen wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen.
Das Gehirn als Empfangs- und Verarbeitungsinstanz
Der Hypothese des gehirnexternen individuellen Selbst zufolge interagiert das außerhalb des Gehirns befindliche individuelle Selbst mit dem physischen Gehirn und nutzt neurologische Strukturen im Gehirn, um „Funktionen“ des Geistes, der Psyche, des Bewusstseins und des Gedächtnisses auszuführen. Das Gehirn fungiert gewissermaßen als Empfangs- und Verarbeitungsinstanz, die vom individuellen Selbst Gedanken und Gefühle empfängt und diese in elektrische und chemische Signale umwandelt.
Das Gehirn als Empfangsinstanz
Im übertragenen Sinn – und vereinfacht ausgedrückt – übernimmt das Gehirn die Funktion eines Radios. Ein Radio empfängt von einer Sendeanlage ausgesendete Signale (ja nach Übertragungsart über elektromagnetische Wellen oder als hochfrequente elektrische Signale) und wandelt die empfangene Information in Schall um.
In der „technischen“ Betrachtung lässt sich die Frage stellen, ob das individuelle Selbst lediglich die Signale sendet, die der Empfänger auch verarbeiten kann. Wäre dies der Fall, könnte das Gehirn die empfangene Information direkt in elektrische und chemische Signale umwandeln, die der physische Körper interpretieren kann. Sendet das individuelle Selbst hingegen nicht direkt umwandelbare Information, muss das Gehirn zusätzlich als eine Art „Filter“ wirken. Es muss dann alle Information ausfiltern, die für das diesseitige Leben nicht erforderlich ist. Wie bereits erwähnt, können Menschen, als Beispiel, nur Schallwellen in einem bestimmten Frequenzbereich wahrnehmen.
Manche Menschen, die eine Nahtoderfahrung erlebten, berichteten davon, dass ihre Gedanken während der Nahtoderfahrung nicht an ihr Gehirn gebunden gewesen seien und dass ihr Bewusstsein frei von diesseitigen Bewusstseinsgrenzen gewesen sei. Als sie wieder in ihrem Körper erwacht seien hätten sie Zusammenhänge, die für sie während der Nahtoderfahrung offensichtlich waren, nicht mehr verstehen können.
Beispielhaft bringt dies die Erfahrung von Lynn zum Ausdruck, die in „Nahtod – Grenzerfahrungen zwischen den Welten“ geschildert wird (S. 201): „Ich erinnere mich auch, dass ich, als ich zurückkam, wusste: Solange ich auf der Erde bin, werde ich das nie verstehen, weil ich nur ein menschliches Gehirn habe. Hier können wir wirklich nur über eine Sache gleichzeitig nachdenken, und dort weißt du – wirklich – alles. Man kann das nicht mit irdischen Dingen vergleichen. […] Ich werde nie fühlen können, was ich dort gefühlt habe, solange ich hier bin, weil ich mich wieder in diesem menschlichen Körper befinde. Es geht weit darüber hinaus, ist überlegener und größer als alles, was ein menschliches Gehirn verstehen kann, und auch viel wunderbarer.“
Diese stellvertretend für viele weitere ähnliche Erfahrungen geschilderte lässt sich als Hinweis darauf interpretieren, dass das menschliche Gehirn auch eine „Filterfunktion“ übernimmt. Die Funktion des Gehirns als „Schaltzentrale“ für den physischen Körper bleibt jedoch unbestritten.
Das Gehirn als Verarbeitungsinstanz
Das Gehirn interpretiert die vom individuellen Selbst empfangenen Gedanken und führt sie aus. So muss etwa der empfangene Gedanke, etwas essen zu wollen, zunächst interpretiert und dann in eine wahre Vielzahl von Körperfunktionen umgesetzt werden.
Eine aus dieser Vielzahl von Funktionen ist beispielsweise das Bewegen des Löffels aus dem Suppenteller in den Mund. Das Gehirn muss alle Bewegungen dergestalt koordinieren, dass der Löffel in die Suppe eingetaucht, dann angehoben und zielsicher in den Mund geführt wird. Dabei muss sichergestellt werden, dass der Löffel so bewegt wird, dass die aufgenommene Suppe auf dem Weg in den Mund nicht aus dem Löffel ausläuft. Die Bewegung darf nicht zu schnell erfolgen und der Löffel muss auch einigermaßen waagerecht gehalten werden.
Wohl niemand denkt beim Essen darüber nach, welche Aufgaben das Gehirn gerade bewältigt. Diese Funktionen werden gewissermaßen automatisiert ausgeführt.
Das individuelle Selbst muss keine Kenntnis darüber haben, wie Körperfunktionen ausgeführt werden. Das Gehirn als Verarbeitungsinstanz erledigt die Umwandlung in chemische und elektrische Signale bzw. Impulse.
Störungspotenziale
Im Lauf des Lebens eines Menschen kann es zu den verschiedensten Ausnahmesituationen kommen, die den Charakter von Störungspotenzialen haben und Gehirnfunktionen beeinträchtigen können. Dazu zählen nicht nur Einschränkungen von Gehirnfunktionen, beispielsweise infolge eines Schlaganfalls, sondern auch Erfahrungen eines erweiterten Bewusstseins.
Gelegentlich wird der Begriff des „erweiterten Bewusstseins“ verwendet, um damit auf Zeiten und Zustände außergewöhnlichen Erlebens hinzuweisen. Dazu zählen auch die bereits diskutierten Arten von Transzendenzerfahrungen. Durchaus viele Menschen können von Zuständen oder Phasen eines erweiterten Bewusstseins in ihrem Leben berichten. Allerdings gibt es bis dato keine allgemein anerkannte Definition dafür, was eine Bewusstseinserweiterung ausmacht.
Allgemein wird unter einem erweiterten Bewusstsein ein gegenüber dem „Alltagsbewusstsein“ mehr oder weniger stark gesteigertes sinnliches und soziales Erleben verstanden. Ein dergestalt „erhöhtes“ sinnliches und soziales Erleben kann nicht nur über einen Menschen, bildlich gesprochen, unbeabsichtigt hereinbrechen, wie etwa eine Nahtoderfahrung, sondern lässt sich teilweise auch gezielt hervorrufen, beispielsweise durch Einnahme einer psychotropen Substanz (z. B. LSD).
Wenn die Sauerstoff- und Nährstoffversorgung im Gehirn gestört ist und zu einer Unterversorgung der Großhirnrinde führt, kann dies Bewusstseinsveränderungen, Halluzinationen oder sensorische Ausfälle hervorrufen. Ist der für die Verortung des Körpers im Raum zuständige Scheitellappen in der Großhirnrinde betroffen, wird die Eigenwahrnehmung gestört. Es ist beispielsweise möglich, dass ein Schwebegefühl erlebt wird.
Irreale Sinneseindrücke können auch bei einer Unterversorgung des unteren und inneren Temporallappens auftreten. Plötzlich sind Geräusche oder sogar Musik zu hören, Bilder sind zu sehen. Auch ein Gefühl der Euphorie kann sich einstellen.
Menschen, die unter epileptischen Anfällen leiden, können ebenfalls frühere Ereignisse oder Gefühlszustände wiedererleben. Wahrscheinlich ist eine Reizung des für Erinnerungen zuständigen Hippocampus der Auslöser dafür. Ähnliche Flashbacks können auch von außen gesteuert durch Reizung mit Elektroden hervorgerufen werden.
Es ist bekannt, dass eine psychotrope Substanz, wie beispielsweise LSD, einen psychedelischen Rauschzustand auslösen kann, der oft als bewusstseinserweiternd erlebt wird. Unter Einfluss einer derartigen Substanz werden auffällige Gehirnaktivitäten beobachtet. Häufig wird durch eine psychotrope Substanz die Selbstwahrnehmung beeinflusst, wodurch sich auch eine Auswirkung auf die Persönlichkeit einstellt.
Die Welt wird anders wahrgenommen. Der Blick in eine Welt wird geöffnet, die größer als die eigene erscheint. Es wird von der Entdeckung neuer Räume außerhalb der eigenen Persönlichkeit berichtet. Es mag sich die Wahrnehmung einstellen, dass die Grenze zwischen dem individuellen Selbst und der Welt verschwimmt. Während dieses Transzendenzerlebnisses, dem Herausgelöst sein aus dem bisherigen Bezugsfeld, kann das Gefühl erlebt werden, einen höheren Bewusstseinszustand erreicht zu haben und eine neue Sichtweise auf etwas bekommen zu haben. Kreativität wird besonders lebhaft erfahren.
Der Konsum von psychotropen Substanzen birgt die Gefahr in sich, dass sich eine psychische Erkrankung, beispielsweise eine Psychose, entwickelt. Deshalb sollten psychisch instabile Menschen keine psychotropen Substanzen konsumieren und ihnen sollten auch keine derartigen Substanzen verabreicht werden.
Biochemische Reaktionen im Gehirn können durchaus Erfahrungen auslösen, die Nahtoderfahrungen sehr ähnlich sind. So lassen sich beispielsweise Schwebezustände und die Wahrnehmung von Bildern aus der eigenen Vergangenheit als Folge biochemischer Reaktionen erklären. Bestimmte biochemische Reaktionen lassen sich durch Reizung bestimmter Hirnareale, beispielsweise der linken und rechten Schläfenlappen, vom Prinzip her in gewisser Weise wiederholbar hervorrufen.
Mögliche Ursache von Störungen
Indizien deuten darauf hin, dass eine Störung der Filterfunktion des Gehirns eine mögliche Ursache für Wahrnehmungen erweiterten Bewusstseins sein könnte. Ein erweitertes Bewusstsein wird, wie bereits erwähnt, auch während mancher Transzendenzerfahrungen erlebt.
Es wäre zu erwarten, dass im Einklang mit verminderter Gehirnaktivität auch die Filterfunktion des Gehirns beeinträchtigt wird. Ein unterstützendes Indiz für diese Annahme lässt sich durch die Wirkungsweise psychotroper Substanzen erkennen. Psychotrope Substanzen verringern die Gehirnaktivität stark, wie der Psychiater Bruce Greyson festhielt („Nahtod – Grenzerfahrungen zwischen den Welten“, S. 205): „Darüber hinaus zeigten kürzlich durchgeführte Neuroimaging-Studien an Menschen unter dem Einfluss psychedelischer Drogen, dass die mit diesen Medikamenten verbundenen detaillierten mystischen Erfahrungen mit einer verminderten Gehirnaktivität einhergehen. Dies ist das genaue Gegenteil dessen, was wir erwartet hatten. Traditionelle neurowissenschaftliche Erklärungen psychedelischer Drogentrips gingen davon aus, dass psychedelische Substanzen wie LSD und Psilocybin die Gehirnaktivität erhöhen und Halluzinationen auslösen. Es stellte sich jedoch heraus, dass sie die Gehirnaktivität, besonders im präfrontalen Kortex, sowie die Art der synchronisierten elektrischen Aktivität im Gehirn, die für das komplexe Denken typisch ist, stark verringern. Diese Reduktion der Gehirnaktivität könnte die Fähigkeit des Gehirns, den Geist zu filtern, herabsetzen und den Zugang zu mystischen Erfahrungen ermöglichen. Das steht im Einklang mit spirituellen Traditionen auf der ganzen Welt, die Luftanhalten, Hunger und ausgedehnte sensorische Deprivation einsetzen, um mystische Erfahrungen zu evozieren.“
Eine herabgesetzte Fähigkeit zur Filterung könnte auch ursächlich dafür sein, dass Menschen, die eine Episode terminaler Geistesklarheit erleben, plötzlich und vorübergehend wieder bereits verloren gegangene Fähigkeiten erlangen. Diese Störung der Filterfunktion würde, dieser Linie folgend, dem individuellen Selbst keine Hindernisse mehr in den Weg stellen, sich zum Ausdruck zu bringen. Da Episoden terminaler Geistesklarheit zeitlich relativ kurz vor dem Tod auftreten, kommt damit auch „Wissen“ um das bevorstehende Ende zum Ausdruck, das der im Diesseits lebende Mensch von sich aus nicht haben kann.
Während Nachtoderfahrungen, bei denen keine Hirnströme mehr messbar sind, wäre demnach die Filterfunktion vollständig deaktiviert. Der Erfahrungs- und Erlebnisfähigkeit des individuellen Selbst wären keine Grenzen gesetzt.
Folgerungen
Die Annahme einer Störung der Filterfunktion des Gehirns lässt sich mit Verhaltensweisen und Erfahrungen vereinbaren, die während außergewöhnlichen Erfahrungen beobachtet werden können. Dazu zählen insbesondere der Konsum psychotroper Substanzen, terminale Geistesklarheit, Nahtoderfahrungen und Sterbebettvisionen.
In der Konsequenz führt dies zu weiteren Aussagen, die sich auf Aspekte des individuellen Selbst beziehen, so insbesondere: der Geist befindet sich nicht im Gehirn, die Seele befindet sich nicht im Gehirn, das Bewusstsein befindet sich nicht im Gehirn, das Gedächtnis befindet sich nicht im Gehirn – jedenfalls nicht ausschließlich.
Bei alledem handelt es sich um Indizien, nicht um wissenschaftlich fundierte Beweise. Die Indizien sprechen jedoch klar dafür, dass sich das individuelle Selbst nicht im Gehirn befindet. Anders lassen sich zumindest die terminale Geistesklarheit und Nahtoderfahrungen nicht erklären.
Die durch überzeugende Indizien gestützte Hypothese des gehirnexternen individuellen Selbst ist mit den erkenntnistheoretischen Positionen des Materialismus und Naturalismus unvereinbar. Diese weltanschaulichen Positionen basieren auf der Prämisse, dass Geist, Psyche und Bewusstsein ausschließlich aus Materie bestehen.