Wie ist die ausgeprägte Heterogenität der Transzendenzerfahrungen mit ihren diversen Unvereinbarkeiten zu bewerten? Welche Konsequenzen und Folgerungen ergeben sich? Stellt die Heterogenität ein Problem dar?
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Dieser Beitrag ist Teil der Serie „Was geschieht mit mir wenn ich sterbe?“
Grobes Inhaltsverzeichnis
Wie bereits erkennbar wurde, können die geschilderten Transzendenzerfahrungen kein einheitliches Bild zu den Verhältnissen im Jenseits liefern und können somit auch dem Anspruch, eine endgültige Klärung herbeizuführen, nicht gerecht werden. Die ausgeprägte Heterogenität der Transzendenzerfahrungen, insbesondere auch im Hinblick auf die bereits erwähnten Referenzkriterien (Wesen Gottes, Reinkarnation), macht Gegensätze offenkundig, die sich nicht auflösen lassen.
Die Schriften der Weltreligionen geben sehr unterschiedliche, miteinander unvereinbare Vorstellungen eines Jenseits wieder. Selbst die Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum, Islam) bleiben relativ unkonkret und widersprechen sich teilweise. Über mögliche Gründe, weshalb klarere Aussagen fehlen, lässt sich nur spekulieren. Trotz allgemein mangelnder Konkretheit liefern die Schriften jedoch hinreichende Anhaltspunkte für eine Plausibilitätsbetrachtung.
In weiterer Konsequenz stellt sich unweigerlich die Frage, ob sich die erlebten Transzendenzerfahrungen in ihrer ganzen Vielfalt mit dem Schriftgut einer Weltreligion vereinbaren lassen. Bei Unvereinbarkeit ist zu klären, ob Transzendenzerfahrungen höher zu gewichten sind als die Aussagen des religiösen Schriftguts der jeweiligen Weltreligion oder – umgekehrt – die Aussagen des religiösen Schriftguts höher als die Schilderungen von Transzendenzerfahrungen.
Erklärungsversuche
Der Versuch, mögliche Erklärungen zu finden, die sowohl die Heterogenität der Transzendenzerfahrungen als auch die wesentlichen Aussagen der Schriften der Weltreligionen berücksichtigen, kann nur in Hypothesen münden. Einige mögliche Hypothesen werden kurz beleuchtet. Um nicht voreilig Denkmöglichkeiten auszuschließen, werden auch zunächst als widersinnig erscheinende Hypothesen nicht verworfen. In einem Folgeschritt werden dann sinnhaltige Hypothesen ausgewählt und diskutiert.
Hypothese 1: Produzierte Erfahrungen
Diese Hypothese basiert auf der Prämisse, dass bei Unvereinbarkeit das religiöse Schriftgut der jeweiligen Weltreligion Vorrang genießt. In der Konsequenz muss eine Erklärung gefunden werden, weshalb Transzendenzerfahrungen, die mit dem entsprechenden Schriftgut unvereinbar sind, unwirklich sind.
Eine mögliche Erklärung stellt eine Analogie zum Traumerleben her. Jeder Mensch träumt besonders viel und besonders lebhaft im Traumschlaf (REM-Phase), die hauptsächlich in der zweiten Nachthälfte auftritt. Während der REM-Phase ist das Gehirn genauso aktiv wie während der Wachphasen am Tag. Eine Erinnerung ist allerdings normalerweise nur an die wenigsten Träume möglich.
Weshalb Menschen träumen ist noch nicht abschließend geklärt. Möglicherweise haben Träume die Aufgabe, beim Problemlösen zu unterstützen. Möglicherweise sind sie einfach „Abfallprodukte“ nächtlicher Hirntätigkeit. In jedem Fall sind Träume Ausdruck eines inneren Universums des Menschen. Manche Träume „produzieren“ Konstellationen oder Szenarien, die als beängstigend, als belustigend, als absolut unsinnig oder wie auch immer empfunden werden können.
Die Hypothese knüpft an das Konzept der „Traumproduktion“ an und überträgt es auf Transzendenzerfahrungen. Eine Nahtoderfahrung wäre in der Konsequenz ein Traumerleben während eines Ausfalls der Hirnfunktionen. Wenn allerdings keine Hirnströme mehr messbar sind (Null-Linien-EEG), kann das Gehirn nichts mehr „produzieren“. Insofern wäre zu postulieren, dass ein nichtlokales individuelles Selbst die Transzendenzerfahrung „produziert“.
Eine Nahtoderfahrung würde, dieser Hypothese folgend, einem Traumerlebnis gleichen, das im inneren Universum des Erlebenden produziert wird. Da es sich um eine individuelle Erfahrung handelt, muss kein Bezug zu einer Realität bestehen. Mit anderen Worten: Die Vorstellung des Wesens eines Gottes oder einer Gottheit und ebenso die Vorstellung einer Reinkarnation sind individuell produzierte Vorstellungen. Sie sagen nicht notwendigerweise etwas über die Realität aus.
Dieser Hypothese folgend wären sämtliche Transzendenzerfahrungen im übertragenen Sinne Hirngespinste. Ihre Aussagekraft wäre gering, jedoch könnten sich manche – wie auch Träume – bewahrheiten. Diese wären gewissermaßen „Zufallstreffer“.
Hypothese 2: Religiöse Schriften bilden nicht die Realität ab
Wie bereits erwähnt, unterscheiden sich die Erfahrungs- und Offenbarungsreligionen in ihren Glaubensinhalten fundamental. Diese Unterschiede zeigen sich bei einem Vergleich der religiösen Schriften und ihren Kernaussagen.
Stellvertretend für die vielerlei semantischen Unterschiede sei das Konzept der Erlösung genannt. Die Erfahrungsreligionen (Hinduismus, Buddhismus) vertreten das Reinkarnationskonzept, das im Prinzip den Weg der Selbsterlösung beschreibt. Der Mensch reinkarniert wiederholt und dies so lange bis ein Zustand erreicht ist, der keine weitere Reinkarnation mehr erfordert. In krassem Gegensatz hierzu steht die Lehre des Christentums (Offenbarungsreligion). Das Christentum verwehrt dem Menschen kategorisch die Selbsterlösung. Eine Erlösung alleine durch gute Werke ist nicht möglich. Sie kann nur durch den Glauben an Jesus Christus erlangt werden.
Transzendenzerfahrungen können durchaus Widersprüche offenkundig machen. Angenommen, der Erlebende einer Nahtoderfahrung begegnet einem Wesen, das er als Jesus Christus erkennt. Wenn der Erlebende sich von Jesus Christus vor die Wahl einer weiteren Reinkarnation gestellt sieht, wird ein Widerspruch evident. Das Christentum kennt das Konzept der Reinkarnation und der damit verbundenen Selbsterlösung nicht. Ein Widerspruch bestünde allerdings nicht, wenn angenommen wird, dass der Mensch durchaus zur Selbsterlösung in der Lage ist, dieses Konzept jedoch in den religiösen Schriften (Altes und Neues Testament der Bibel) gewissermaßen unterschlagen wurde. Dann allerdings würde die Bibel nicht die Realität abbilden und die Gläubigen in die Irre führen.
Wenn tatsächlich eine Möglichkeit zur Reinkarnation bestünde, wäre den Offenbarungsreligionen der Boden entzogen. Die in Altem und Neuem Testament ausgeführten Offenbarungen Gottes und seines Sohnes Jesus Christus wären reine Fantasieprodukte und für das reale Leben somit völlig irrelevant. Altes und Neues Testament erwiesen sich in der Konsequenz sogar als Irreführung der Menschheit.
Hypothese 3: Unterschiedliche Regionen im Jenseits
Der extrauniversale Existenzraum, das Jenseits, ist nicht notwendigerweise ein homogener Existenzraum. Diese Hypothese geht von einem segmentierten Existenzraum aus, wobei – dem religiösen Schriftgut von Christentum und Islam folgend -, zumindest ein Ort der Gottesferne („Hölle“) und ein Ort der Gottesnähe („Himmel“ bzw. „Paradies“) unterschieden wird.
Auch Bill und Judy Guggenheim, die viele Schilderungen zu Nachtodkontakten sammelten, greifen in ihrem Buch „Trost aus dem Jenseits“ den Gedanken einer Segmentierung des Jenseits auf (S. 310): „Manche Menschen, die ein längeres Sterbeerlebnis hatten oder das Jenseits bei einer Reihe von außerkörperlichen Erfahrungen erforschen konnten, berichten, dass es aus einer unbegrenzten Anzahl subtiler Abstufungen oder Ebenen besteht. Diese reichen offenbar von den höchsten, hellsten himmlischen Bereichen, die mit Liebe und Licht erfüllt sind, durch eine mittlere Schicht von graueren, dunkleren Ebenen bis zu den niedrigsten Welten, denen praktisch alles Licht, alle Liebe und emotionale Wärme fehlt.
Diese Bereiche lassen sich als Bewusstseinsebenen oder Ebenen der Liebe deuten. Äußere ‚Landschaften‘ entsprechen demnach der spirituellen Wachheit oder Liebesfähigkeit derjenigen, die sich dort aufhalten. Diejenigen, die Gott wahrhaft lieben und anderen dienen wollen, leben auf helleren, höheren Ebenen weiter, in denen eine unbeschreibliche Schönheit herrscht, während diejenigen, die sehr eigensüchtig und ichbezogen sind, sich – zumindest vorübergehend – zu einem Aufenthalt in niedrigeren, dunkleren Regionen verurteilt haben.“
Wenn dieser Hypothese gefolgt wird, lässt sich ohne Weiteres erklären, dass Gott sehr unterschiedlich wahrgenommen wird. Wie bereits erwähnt, reicht die Bandbreite der Erfahrungen von direkter Kommunikation mit Gott und/oder Jesus Christus bis hin zu fehlender Wahrnehmung Gottes. Beispielsweise würde ein Individuum, das sich in einer dunkleren Region befindet, von der Präsenz Gottes wahrscheinlich nur wenig oder überhaupt nichts wahrnehmen können. Dann verwundert nicht, dass bei einer Transzendenzerfahrung Entsprechendes wiedergegeben wird. In Wirklichkeit würde dies jedoch die Realität nicht abbilden. Sinnentsprechend verhielte es sich ebenso, wenn sich ein Individuum in einer helleren Region in Gottesnähe befindet. Es würde wahrscheinlich die dunkleren Regionen nicht wahrnehmen.
Hypothese 4: Absichtliche Irreführung
Diese Hypothese basiert auf der Prämisse, dass Individuen, die eine Transzendenzerfahrung erleben, bewusst irregeführt werden können. Denkbar ist diese Hypothese auf Basis des christlichen Verständnisses vom Satan als Gegenspieler Gottes und Feind der Menschen. Im Islam ist Satan (Iblis oder Eblis) Feind der Menschen.
Im Neuen Testament der Bibel wird Satan als eine Person charakterisiert, die sich als „Engel des Lichts“ ausgibt (2 Kor. 11, 14): „Kein Wunder, denn auch der Satan tarnt sich als Engel des Lichts.“. Dementsprechend gelten auch Dämonen als Handlanger Satans und böse Geistwesen als Verführer und Feinde der Menschen.
Es wäre beispielsweise denkbar, dass bei einer beabsichtigten Kommunikation mit einem Verstorbenen im Rahmen einer spiritistischen Sitzung ein Dämon dessen Stelle einnimmt und sich als der Verstorbene ausgibt. Dies würde allerdings voraussetzen, dass Persönlichkeit und Geschichte des Verstorbenen im Jenseits offengelegt sind.
Des Weiteren wäre denkbar, dass eine frühere Inkarnation vorgegaukelt wird, die in Wirklichkeit nie stattgefunden hat. Satan selbst oder Dämonen könnten als Geistwesen diese Art von „Bewusstseinserweiterung“ bewerkstelligen. Von Jesus Christus wird berichtet, dass er von Dämonen „besessene“ Menschen von diesen befreit habe. Wenn dies schon im irdischen Leben möglich ist, kann davon ausgegangen werden, dass diese Möglichkeit auch im Jenseits besteht, womöglich in anderer Form.
Auch in der Gegenwart ist der Glaube daran, dass Menschen von bösartigen Geistwesen besessen sein können, durchaus verbreitet. Als Beispiele genannt seien Südostasien und Südamerika, wo Geistwesen, etwas überspitzt ausgedrückt, gewissermaßen Teil des realen Lebens sind. In Europa wird bei auffälligem und ungewöhnlichem Verhalten eines Menschen hingegen in erster Linie von einer psychischen Erkrankung ausgegangen. Es wäre in der Tat fatal und unverantwortlich, vorschnell eine Besessenheit zu unterstellen. Dennoch stellt sich die Frage, weshalb im Neuen Testament der Bibel durchaus eine nennenswerte Anzahl an Fällen von Besessenheit berichtet werden, heutzutage Besessenheit jedoch nicht mehr vorkommen soll.
Im Neuen Testament der Bibel werden die bereits im Alten Testament explizit ausgesprochenen Warnungen vor okkulten Praktiken nicht weiter vertieft. Dort findet sich lediglich eine zusammenfassende Aussage (Offenbarung 21, 8): „Schlimm jedoch wird es denen ergehen, die sich feige zurückziehen und den Glauben verraten, deren Leben in meinen Augen verabscheuungswürdig ist, die andere umbringen, sich sexueller Ausschweifung hingeben, okkulte Praktiken ausüben oder Götzen anbeten. Auf sie und auf alle, die es mit der Lüge halten, wartet der See aus Feuer und brennendem Schwefel, und das bedeutet: Auf sie wartet der zweite Tod.“
Mit dieser Aussage soll vermutlich auf die mit okkulten Praktiken verbundenen Gefahren hingewiesen werden. Der „Gefahrenhinweis“ wäre völlig überflüssig, wenn derartige Praktiken unbedenklich wären.
Folgerungen
Jeder Berichtende einer Transzendenzerfahrung schildert, keine unlauteren Absichten vorausgesetzt, eine subjektive Wahrheit – seine subjektive Wahrheit. Eine subjektive Wahrheit muss jedoch nicht, wie auch im realen Leben (beispielsweise bei Auseinandersetzungen in einer Partnerschaft) zu beobachten, der objektiven Wahrheit entsprechen.
Um einer objektiven Wahrheit zumindest näherzukommen, bietet es sich an, sich auf die Schilderungen zu konzentrieren, die sich inhaltlich zumindest ähneln. Wenn beispielsweise von vielen Erlebenden geschildert wird, dass ihnen während ihrer außerkörperlichen Erfahrung im Kontext einer Nahtoderfahrung der endgültige Übergang in das Jenseits verwehrt wurde, dürfte dem ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit zugemessen werden als einem singulären Erlebnis.
Hypothese 1 geht davon aus, dass das Gehirn, ähnlich wie beim Träumen, Transzendenzerfahrungen kreativ produziert. Gegen diese Hypothese spricht jedoch die keineswegs geringe Anzahl verifizierter Transzendenzerfahrungen. Eine Art Erträumen einer Transzendenzerfahrung erscheint nicht plausibel, wenn sich die Transzendenzerfahrung verifizieren lässt.
Hypothese 2 stellt die subjektive Transzendenzerfahrung über religiöses Schriftgut. Bei einer Offenbarungsreligion bedeutet dies, die tradierte Offenbarung Gottes abzulehnen.
Hypothese 3 bietet eine Erklärung dafür, weshalb Gott oder ein göttliches Wesen sehr unterschiedlich wahrgenommen wird. Für das Christentum wäre beispielsweise nachvollziehbar, weshalb ein Verstorbener, der zu seinen Lebzeiten in Gottesferne lebte, im Jenseits ebenfalls in Gottesferne existiert und Gott möglicherweise überhaupt nicht oder nicht als personales Wesen wahrnimmt.
Hypothese 4 geht von der Möglichkeit aus, dass im extrauniversalen Existenzraum, dem Jenseits, eine Art „Identitätsdiebstahl“ möglich ist. Diese Hypothese stellt in der Konsequenz die Aussagekraft aller Transzendenzerfahrungen infrage. Nicht nur alle nicht verifizierbaren Transzendenzerfahrungen wären potenzielle Täuschungen, sondern sogar auch verifizierbare. So könnte beispielsweise eine verifizierbare Schilderung eines früheren Lebens (einer früheren Inkarnation) die Folge einer Täuschung sein (möglicherweise stammt das Wissen von einem Dämon).
In der Gesamtschau lassen sich keine sicheren Aussagen über die Verhältnisse im Jenseits treffen. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei einer jeden Transzendenzerfahrung um eine subjektiv wahrgenommene Realität, deren Glaubwürdigkeit immer dann angezweifelt werden kann, wenn sie nicht verifizierbar ist. Selbst dann wäre jedoch noch denkbar, dass Verifizierbares das Ergebnis einer Täuschung (Hypothese 4) ist. Aus dem Blickwinkel des Diesseits lässt sich jedenfalls diese Hypothese nicht sicher ausschließen.
Letzten Endes resultieren alle Folgerungen in Vermutungen. Eine Gewissheit kann es nicht geben.