Ist das Gewissen angeboren oder wird es anerzogen? Wie steht es um den „inneren Kompass“, der in Gewissenserlebnissen den Weg weist?
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Dieser Beitrag ist Teil der Serie „Was geschieht mit mir wenn ich sterbe?“
Grobes Inhaltsverzeichnis
Das Gewissen wird im Allgemeinen als eine besondere Instanz im menschlichen Bewusstsein angesehen. Sie bestimmt, wie bewertet, geurteilt, oder entschieden werden sollte. Das Gewissen zeigt an, ob eine Handlungsweise mit dem übereinstimmt bzw. nicht übereinstimmt, was ein Individuum als für sich richtig und stimmig ansieht. Damit diese Instanz aktiv werden kann, muss ein ethisch begründetes Bewusstsein von Gut und Böse vorhanden sein.
Immer wieder machen Menschen Erfahrungen mit Gewissenserlebnissen. Sie scheinen in konkreten Lebenssituationen instinktiv zu wissen, dass ein bestimmtes Handeln oder Verhalten „richtig“, „zweifelhaft“ oder auch „falsch“ ist. Es scheint eine Art „innerer Kompass“ vorhanden zu sein.
Gewissenserlebnisse bzw. ‑erfahrungen, die wohl jeder Mensch kennt, führen unweigerlich zu der Frage, ob es sich beim Gewissen um etwas Angeborenes oder um etwas durch Erziehung und Umwelt Geformtes handelt. Antworten lassen sich auf zwei sich ergänzenden Wegen finden: durch Beobachtung des Verhaltens von Kindern im frühen Lebensalter und auch in der Menschheitsgeschichte.
Umschreibung des Begriffs in der Geschichte
Der Begriff „Gewissen“ wurde im Wesentlichen erst durch die Bibelübersetzung Martin Luthers im 16. Jahrhundert Teil des deutschen Sprachschatzes, ist also noch relativ jung. Das Phänomen des Gewissens, durch Gewissenserlebnisse Teil menschlicher Erfahrung, ist demgegenüber wesentlich älter.
Der griechische Philosoph Sokrates (469-399 v. Chr.) umschrieb das Gewissen mit einer göttlichen Stimme, der er Gehör schenkte (Daimon), und die ihm von Dingen abriet. Auch der römische Naturforscher und Philosoph Seneca (etwa 1-65 n. Chr.) sprach von einer inneren Stimme Gottes: „Es wohnt in uns ein heiliger Geist, ein Beobachter und Wächter alles Guten und Bösen in uns”. Mit dem „heiligen Geist“ meinte Seneca jedoch eindeutig nicht den im Neuen Testament der Bibel genannten Heiligen Geist, sondern eher eine Vorstellung von einem göttlichen Licht, dass den menschlichen Verstand erhellt.
Seneca war wohl der Erste, der indirekt eine Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Gewissen traf. Es scheint eine Überzeugung gegeben zu haben – dies zeigen auch ägyptische Quellen -, dass sich gewissermaßen im Inneren des Menschen eine kritisch urteilende Instanz befindet, auf die der Mensch hören kann und auf die er achten muss.
Implizit wird vorausgesetzt, dass der Mensch mit sich selbst Zwiegespräche führen kann. Ferner wird unterstellt, dass er bestimmte Ereignisse, Erlebnisse und Erfahrungen in Bezug zu sich selbst setzen kann. Wenn beispielsweise wahrgenommen wird, dass ein anderer Mensch körperlich misshandelt wird, kann man dazu Stellung nehmen.
Im Alten Testament der Bibel wird das Gewissen mit dem Begriff „Herz“ umschrieben. Gott ist es dann, der auf „Herz und Nieren“ prüft. Damit eine derartige Prüfung überhaupt auf faire Art und Weise möglich ist, muss der Mensch ein Bewusstsein besitzen, was richtig und was falsch ist. Hätte er dieses Bewusstsein nicht, wäre jede Prüfung durch Gott willkürlich und nicht nachvollziehbar.
Verhaltensbeobachtung
Hinweise darauf, ob bzw. welche Gewissenserfahrungen im Kindesalter möglich sind, geben Verhaltensbeobachtungen. Damit nicht eher zufälliges Verhalten beobachtet wird, muss ein Kind bereits einen gewissen Entwicklungsstand erreicht haben. Zum einen muss ein Kind wissen, wer es selbst ist und wer andere sind. Mit anderen Worten: in einem Kind muss ein Bewusstsein für das individuelle Selbst vorhanden sein. Zum anderen muss sich das Kind darüber bewusst sein, dass es von Menschen in seinem Umfeld bewertet wird.
Im Alter von in etwa vier Jahren beginnen Kinder damit, ihre Gefühle zu reflektieren und durch Worte auszudrücken. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass es auch die Gefühle anderer Menschen benennen kann. Genauso wenig ist gesagt, dass es bereits verstanden hat, dass andere Menschen individuelle Gefühle haben können, die sich von den eigenen unterscheiden. Erst wenn die Entwicklung so weit vorangeschritten ist, kann es die Gefühle seiner Mitmenschen in seinen Handlungsweisen berücksichtigen.
Ein Bewusstsein für Unrecht und verursachte Schuld setzt im Allgemeinen im Alter zwischen vier und fünf Jahren ein. Jetzt kann sich das Kind auch in die Gedanken und Empfindungen seiner Mitmenschen hineinversetzen. Dies bedeutet jedoch noch nicht unbedingt, dass das Kind auch eigenes Fehlverhalten eingestehen und wie auch immer gearteten Schaden in kindgerechter Form wieder gut machen kann.
Wenn sich das Gewissen in etwa im Alter von fünf Jahren herausbildet, hat das Kind schon eine Menge gelernt und auch verstanden. Es hat viel über für das menschliche Zusammenleben wichtige gesellschaftliche Regeln, Werte und Normen (beispielsweise Besitz- und Eigentumsverhältnisse) erfahren – insbesondere auch durch das Verhalten der wichtigen Bezugspersonen in seinem Umfeld. Und es hat sie gedanklich auch schon bearbeitet und kann sie in seiner weiteren Entwicklung über sein eigenes Wohl stellen. Somit kann es auch Verstöße dagegen erkennen, nicht nur in Bezug auf seine Mitmenschen, sondern auch auf sich selbst. Es kann eigenes Fehlverhalten bzw. ‑handeln einsehen, Schuld empfinden und ein Gefühl der Reue entwickeln. Durch sein Gewissen schützt das Kind diese gesellschaftlichen Regeln, Werte und Normen in seinem weiteren Leben.
Gewissenserfahrungen stehen insbesondere mit zwei Gefühlen in Beziehung: Scham und Schuld. Beide Gefühle sind in gesellschaftlichen Regeln, Werten und Normen verankert. Neben diesen beiden Gefühlen zählen Mitgefühl und Reue zu den sogenannten prototypischen moralischen Gefühlen. Auf die beiden letztgenannten wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen.
Scham
Im Hinblick auf Scham bildete sich in der Wissenschaft bis dato noch keine einheitliche Überzeugung, ob Scham angeboren oder anerzogen ist. Jedenfalls ist Scham neurophysiologisch in derselben Hirnregion verortet wie Angst und Schmerz. Scham erzeugt Stress.
Scham setzt stets die Interaktion mit anderen Menschen voraus. Sie wird empfunden, weil entweder befürchtet wird, dass Menschen im Umfeld negativ reagieren, oder weil diese negative Reaktion bereits erfolgt ist. Schamhaftes Verhalten lässt sich bei Kindern in etwa im Alter von drei Jahren beobachten. Jedoch auch erst zweijährige Kinder zeigen in bestimmten Situationen, dass sie sich schämen.
Unstrittig ist, dass das Schamgefühl stark mit den Wertevorstellungen einer Kultur und auch mit dem sozialen Umfeld, dem man sich zugehörig fühlt, zusammenhängt. Soziale Normen spielen in jeder Kultur eine wichtige Rolle und sie unterscheiden sich auch von Kultur zu Kultur. Gleiches gilt sinngemäß auch für das soziale Umfeld.
Beispielhaft sei in Kürze die Problematik des Lügens angedeutet. Ehrlichkeit und Vertrauen spielen in einer Gesellschaft eine umso größere Rolle je intensiver sich die Spezialisierung entwickelt. Kein Mensch kann alles wissen oder nachprüfen. Deshalb ist es wichtig, dass man sich auf die Ehrlichkeit seiner Mitmenschen verlassen kann. Eine Lüge zerstört jedoch das Vertrauen und wirkt im weitesten Sinne gemeinschaftsschädlich.
Lügen sind jedoch Teil des realen Lebens und schon in der Kindheit stellt sich für wohl jedes Kind irgendwann die Frage: „Soll ich jetzt lügen?“. Sehr junge Kinder können noch nicht lügen. Um lügen zu können, muss das Bewusstsein vorhanden sein, dass die andere Person nicht das gleiche weiß wie man selbst. Wenn demgegenüber davon ausgegangen wird, dass die andere Person all das genauso weiß wie man selbst, ergibt das Lügen keinen Sinn.
Wenn man bei einer Lüge ertappt wird, empfindet man Scham und bewertet sich damit einhergehend auch negativ („ich bin falsch“). Gleichwohl ist das Schamgefühl unterschiedlich stark ausgeprägt. Das soziale Umfeld und auch persönliche Wertvorstellungen beeinflussen maßgeblich, wie intensiv das Schamgefühl empfunden wird.
Untersuchungen zeigen, dass die Neigung zum Lügen umso ausgeprägter ist, wenn man gegenüber sich selbst das Lügen „schönreden“ kann. Gewohnheitsmäßiges Lügen bewirkt Veränderungen im Gehirn. Beim Lügen wird Aktivität der Amygdala gemessen. Die Amygdala ist ein Teil des Gehirns, der für emotionale Reaktionen zuständig ist. Mit häufigerem Lügen werden die „negativen Signale“ der Amygdala schwächer und die Neigung zu dreisteren Lügen nimmt zu. Entsprechend schwächer sind auch Schamgefühle.
Während in westlichen Kulturen unbedingte Ehrlichkeit als hoher Wert gilt, ist dies in vielen anderen Kulturen nicht der Fall. Insbesondere in Asien haben beispielsweise Höflichkeit und Hilfsbereitschaft einen höheren Stellenwert als bedingungslose Ehrlichkeit. Durch die gesellschaftliche Prägung ist Lügen in vielen Fällen weniger schambesetzt.
Schuld
Im Unterschied zum Gefühl der Scham steht die Frage nicht im Raum, ob das Schuldgefühl angeboren ist. Ein Schuldgefühl ist bei Kindern in etwa im Alter von vier Jahren beobachtbar. Es stellt sich ein, wenn ein Kind vermeintlich oder tatsächlich etwas falsch gemacht hat. Etwa in diesem Alter ist auch das Bewusstsein für eigenes und fremdes Eigentum entwickelt. Bis dahin denken Kinder undifferenziert, egoistisch und teilen nicht.
Wie das Gefühl der Scham ist auch das Schuldgefühl ein bewusstes Gefühl. Es ist ein Gefühl des Bedauerns, das im individuellen Selbst entsteht, wenn eine Person Schaden oder Leid verursacht hat und sein Fehlverhalten erkennt und akzeptiert. Voraussetzung ist auch, dass die Perspektive eines oder mehrerer Personen (gewissermaßen die Geschädigten) übernommen werden kann. Im Unterschied zur Scham („ich bin falsch“) bewertet sich die verursachende Person so: „ich habe etwas Falsches getan“.
Das Gefühl der Schuld führt, wenn das Fehlverhalten nicht nur erkannt, sondern auch akzeptiert wurde, zu einem Gefühl der Reue (gefühlsmäßige Einsicht in fehlerhaftes Handeln) und darauffolgender Wiedergutmachung. Schuld wird nicht verdrängt und lässt sich tilgen, wenn Wiedergutmachung möglich ist und gelingt.
Das Gewissen – ein Prozess der Entwicklung
Die bisherigen Erkenntnisse der Wissenschaft belegen, dass das Gewissen nicht schon bei der Geburt angelegt und somit nicht angeboren ist. Es lässt sich auch nicht gezielt durch Indoktrination einpflanzen. Vielmehr muss sich das Gewissen aus der eigenen Einsicht entwickeln.
Im Lauf des Lebens wirken die verschiedensten Einflussfaktoren auf die weitere Entwicklung des Gewissens. Weltanschauliche Strömungen, kulturelle Prägungen, der Einfluss sich als autoritativ gebender moralischer Instanzen, und persönliche Erfahrungen seien als einige der wesentlichen Faktoren genannt.
Weltweit betrachtet gibt es eine Vielfalt an ethischen und moralischen Theorien und Normen. In den ersten etwa sechs Lebensjahren, in denen sich das Gewissen formt, wächst das Kind im Normalfall bei seinen Eltern, an einem bestimmten Ort und eingebettet in ein bestimmtes soziokulturelles Umfeld auf. Das von ihnen und weiteren für das Kind wichtigen Bezugspersonen vermittelte und gewissensprägende Wertesystem werden vom Kind als „Normalität“ empfunden.
Im weiteren Leben eines Menschen können sich durchaus tiefgreifende Wandlungen einstellen. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn sich ein Mensch willentlich einem anderen Werte- oder Glaubenssystem (Religion) zuwendet. Dadurch wird das Gewissen gewissermaßen umgeprägt und neu „justiert“. In der Konsequenz werden auch Einstellungen, Handlungen und Gefühle der Vergangenheit neu bewertet. Möglicherweise werden prototypische moralische Gefühle (Scham, Schuld, Mitgefühl, Reue) erneut erlebt.