Das menschliche Leben ist von kontinuierlichen psychischen Entwicklungen geprägt. Welches sind die markanten Aspekte?
Inhalte:
Dieser Beitrag ist Teil der Serie „Was geschieht mit mir wenn ich sterbe?“
Grobes Inhaltsverzeichnis
Schon bei Babys (Säuglingen) sind unterschiedliche Prägungen hinsichtlich ihres Wesens erkennbar. Wie bereits deutlich wurde, ist ein Neugeborenes keineswegs ein „unbeschriebenes Blatt“. Babys unterscheiden sich grundlegend voneinander, selbst innerhalb einer Familie (siehe auch: „Wodurch wird das individuelle Selbst des Ungeborenen beeinflusst?“). Manche Babys erscheinen als offen und neugierig, andere wiederum sind eher zurückhaltend und ängstlich. Manche machen freudig neue Erfahrungen, während andere eher eine innere Unruhe ausstrahlen und verunsichert erscheinen. Jedes Baby ist ein einzigartiges Individuum.
Babyalter
Babys haben im engen wissenschaftlichen Sinn noch keine Persönlichkeit, so wie sie sich bei Erwachsenen beobachten lässt. Der Grund dafür, noch nicht von Persönlichkeit zu sprechen, liegt darin begründet, dass Persönlichkeit in der Wissenschaft als etwas Stabiles verstanden wird. Im Babyalter wird deshalb bevorzugt der Begriff „Temperament“ verwendet, der in der Entwicklungspsychologie als biologienaher Anteil der Persönlichkeit verstanden wird. Das Temperament ist angeboren, maßgeblich bestimmt von der Erbanlage und den verschiedenen Einflüssen während der Zeit im Mutterleib.
Insgesamt sechs Aspekte machen das Temperament eines Babys aus: Aktivität (wie aktiv ein Baby ist), Rhythmus (wie regelmäßig etwas geschieht, zeigt sich beispielsweise im Schlafrhythmus), Aufmerksamkeit (wie aufmerksam das Baby gegenüber neuen Stimuli ist, zeigt sich beispielsweise daran, wie lange ein Bild betrachtet wird), Ängstlichkeit (wie ängstlich das Baby auf unbekannte Reize reagiert), Unbehaglichkeit (was ein Kind nicht mag, beispielsweise das Baden, wie schnell es „genervt“ ist), und Grundstimmung (die überwiegend vorherrschende Stimmung des Babys, wie beispielsweise fröhlich, misstrauisch oder ängstlich).
Das Formen der Persönlichkeit geschieht mit permanenten Veränderungen in einem jahrelangen Prozess, der bis in die Pubertät und Adoleszenz hineinreicht. Erst dann kann von Persönlichkeit gesprochen werden.
Schon frühzeitig macht ein Baby die Erfahrung, dass es durch sein Verhalten etwas bewirken kann. Wenn es beispielsweise hungrig ist schreit, macht es normalerweise die Erfahrung, dass jemand aktiv wird – meist die Mutter – und seinen Hunger stillt.
Bis zum Ende des ersten Lebensjahres, gleichzeitig auch Ende des Baby- oder Säuglingsalters, prägt sich das körperliche Selbstgefühl des Babys immer stärker aus. Es begreift sich zunehmend als eigenständige Person, entwickelt eine Vorstellung von sich selbst. Es nimmt wahr, dass es etwas bewirken und auch selbst bewerkstelligen kann.
Kleinkindalter
Schon mit Beginn des zweiten Lebensjahres, nunmehr im Kleinkindalter, entwickelt das Kind seinen eigenen Willen. Es wird auch wahrnehmen (müssen), dass ihm Grenzen gesetzt werden. Wenn es beispielsweise die interessanten Inhalte von Schubladen entdeckt und sich gerne ans Ausräumen machen will, wird es mit einem Verbot umgehen müssen.
Gegen Ende seines zweiten Lebensjahres kann sich das Kind erstmals im Spiegel selbst erkennen. Jetzt weiß es: das bin ich. Auch wenn das Kind noch nicht „ich“ sagt, wenn es von sich redet – dies kann noch einige Monate dauern, – nimmt es wahr, dass es etwas wollen, selbst etwas machen und auch oft zwischen mehreren Möglichkeiten wählen und sich dann entscheiden kann. Es kann sich von den Eltern mit einer Trotzreaktion abgrenzen. Die sogenannte Autonomie- oder Trotzphase dauert etwa vier Jahre lang.
Im dritten Lebensjahr äußert das Kleinkind Wünsche in der „Ich-Form“. Es zeigt auch seinen eigenen Willen, indem es „Nein“ sagt. Es liebt, Dinge selbst zu bewerkstelligen, nimmt aber Hilfe an, wenn es etwas (noch) nicht kann. Ferner kann es verschiedene Gefühle sprachlich ausdrücken.
Kindesalter
In den folgenden Lebensjahren (ab dem vierten Lebensjahr nun kein Kleinkind mehr) entwickelt sich das Kind zügig weiter. Es kann seine Affekte regulieren und akzeptiert (meistens) ein „Nein“. Auf Babyfotos kann es sich selbst erkennen. Im Alter von etwa fünf Jahren kann das Kind seine Stimmungen benennen. Im darauffolgenden Lebensjahr kann es seine Bedürfnisse verbal äußern. Es lernt immer besser, Wege zu finden, mit seinen Gefühlen umzugehen. So kann es beispielsweise auch mit Frustrationen umgehen, wenn einmal ein Wunsch nicht erfüllt wird. Außerdem kann es sich in andere Menschen hineinversetzen. In gewisser Weise kann das Kind „Abstand von sich selbst“ bekommen.
Im Grundschulalter, im Allgemeinen eine eher ruhige und stabile Entwicklungsphase, festigt sich das Kind psychisch. Seine Fähigkeit zur Selbstkontrolle und zur Regulierung eigener Gefühle nehmen stetig zu. Es besitzt zunehmend ein differenzierteres Wissen über Gefühle und ihre Ausdrucksweisen. Schon im Alter von sechs Jahren weiß das Kind, dass sich „wahre“ Gefühle einer Person von den in den körperlichen Verhaltensweisen dieser Person (z. B. Mimik, Gestik als Ausdruck psychischen Empfindens) gezeigten Gefühlen unterscheiden können. In der Konsequenz weiß es auch, dass sich Gefühle verbergen lassen.
Das Kind kann jetzt auch Bedürfnisse aufschieben und handelt nicht mehr primär von seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen gesteuert. Außerdem entwickelt das Kind ein Zeitgefühl. Langsam beginnt es damit, die Bindung zu den Eltern zu lockern und sich aus der Familie zu lösen. Das Kind betrachtet seine Eltern mit einer gewissen kritischen Distanz und mehr Sachlichkeit.
Adoleszenzphase
Mit dem Einsetzen der Pubertät, einem Teilbereich der etwa im Alter von zehn Jahren beginnenden Adoleszenz, beginnt eine herausfordernde Zeit nicht nur für die Eltern, sondern auch für das Kind. Das bisher „liebe“ Kind entwickelt sich zusehends zu einem „rebellischen“ Wesen. Maßgeblich verantwortlich dafür sind hormonelle Umstellungen. Sie sorgen dafür, dass die Stimmung innerhalb kurzer Zeit stark schwanken kann.
Gefühle spielen in dieser Lebensphase eine wichtige Rolle und bewirken eine Unstetigkeit im Hinblick auf Interessen, Beschäftigungen und der Weltsicht. Diese Unstetigkeit und Wechselhaftigkeit drücken sich in sehr unterschiedlichen Aspekten aus wie beispielsweise Misstrauen, Starrsinn und einem leicht irritierbaren Charakter.
Die Entwicklung während der Pubertät, die gewöhnlich etwa fünf bis sechs Jahre dauert, vollzieht sich zwischen zwei Polen: Bindung und Trennung. Davon abgesehen überschreitet das Kind im Verlauf der Pubertät zudem die Grenze vom Kind zum Jugendlichen (ab dem 13. Lebensjahr), häufig auch als Teenager bezeichnet.
Während der Pubertät kommt es zu Konflikten, die sich insbesondere im Inneren eines Teenagers zeigen. „Wer bin ich?“, „Wie bin ich?“, „Wie möchte ich sein?“, oder „Für wen halten mich andere?“ sind einige der Hauptfragen in dieser Lebensphase. Es kann zu einem Gefühlschaos kommen, wenn eine Kluft zwischen dem eigenen Ist-Bild und dem Soll-Bild wahrgenommen wird.
In dieser Konfliktphase, die durch erhöhte Sensibilität und Launenhaftigkeit gekennzeichnet ist, stellt sich ein Teenager der Herausforderung, gewissermaßen eine passende Identität für sich zu finden. Dies geschieht nicht zuletzt auch durch Vergleichen mit Menschen, die bewundert werden (insbesondere prominente Personen) und dadurch eine Orientierung vermitteln. Außerdem entwickelt der Teenager eigene Weltanschauungen und Zukunftsperspektiven.
Die Auswirkungen im Äußeren werden durch das intensiver werdende Streben nach Autonomie wahrnehmbar. Der Teenager widersetzt sich heftig den von seinen Eltern gesetzten Grenzen. Oft lässt sich beobachten, dass Gegenpositionen zu den moralischen Vorstellungen, Werten und Normen der Eltern eingenommen werden. Dies hat jedoch nicht zur Folge, dass sich ein Teenager grundsätzlich von den Wertvorstellungen der Eltern löst. Gleichzeitig besteht aber auch der Wunsch nach Nähe und Unterstützung seitens der Eltern.
Diese Konfliktphase mit den Eltern ist, so heftig sie zuweilen sowohl vom Teenager als auch den Eltern empfunden werden mag, für die Persönlichkeitsentwicklung des Teenagers notwendig. Der Teenager folgt naturgemäß dem Bedürfnis, sich unabhängig zu fühlen und eigene Entscheidungen zu treffen.
In der Teenagerzeit werden verschiedenste soziale Erfahrungen erlebt. Teenager lernen, sich in unterschiedlichen sozialen Kontexten zu verorten. Viele orientieren sich vermehrt an Gleichaltrigen. Diese Verortung und Orientierung bleiben nicht ohne Einfluss auf ihr Selbstwertgefühl. Es wird gestärkt, wenn ein Teenager wahrnehmbar Anerkennung erfährt, und geschwächt, wenn Anerkennung ausbleibt.
Nicht zuletzt entwickeln, verändern und verfestigen sich individuelle Interessenprofile und Moralvorstellungen. Dies geschieht auch in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Moral, den Werten und Regeln, die in einer Gesellschaft allgemein anerkannt sind. Nicht zuletzt formt sich auch die sexuelle Orientierung.
In der Adoleszenzphase mit allen ihren Konflikten und Krisen können sich auch psychische Auffälligkeiten mit ihren Folgewirkungen zeigen. Dazu zählen beispielsweise depressive Episoden, Angststörungen (wenn Angstreaktionen in eigentlich ungefährlichen Situationen auftreten), Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten (freiwillige, direkte Zerstörung oder Veränderung des Körpergewebes ohne suizidale Absicht), Alkohol- und Drogenkonsum, und ein gestörtes Sozialverhalten. Dies kann, abhängig von der jeweiligen Ausprägung dazu führen, dass ein davon Betroffener auf dem Weg in die Selbstständigkeit an bestimmten Meilensteinen wie Schulabschluss oder Berufsausbildung (zunächst) scheitert.
Erwachsenenalter
Mit dem Ende der Adoleszenzphase, im Alter von etwa 20 Jahren, ist die Persönlichkeitsentwicklung noch keineswegs abgeschlossen. Auch im Alter kann sich die Persönlichkeit genauso stark verändern wie in der Adoleszenzphase. Untersuchungen konnten die naheliegende Annahme, dass die Persönlichkeit im Laufe des Lebens zunehmend stabiler wird, widerlegen. In Wirklichkeit ist die Persönlichkeitsentwicklung nie abgeschlossen.
Eine Studie („Stability and change of personality across the life course: The impact of age and major life events on mean-level and rank-order stability of the Big Five“) konnte zeigen, dass sich etwa jeder Fünfte nach dem 60. Geburtstag noch einmal stark verändert. Kleinere Veränderungen sind typischer. Persönlichkeitsveränderungen sind, verglichen mit den von jedem Teenager durchlebten Umbrüchen während der Zeit der sich formenden Persönlichkeit, im fortgeschrittenen Alter sehr individuell.
Spätestens im Alter von etwa 30 Jahren sind etwa 50 % der Persönlichkeitseigenschaften von der Umwelt abhängig. Mit zunehmendem Lebensalter lässt sich nicht mehr hinreichend genau unterscheiden, ob Gene oder Umwelt die Persönlichkeit eines Menschen geformt haben. In der Konsequenz unterscheiden sich selbst eineiige Zwillinge im Alter hinsichtlich ihrer Persönlichkeitseigenschaften.