Terminale Geistesklarheit – manche Menschen, bei denen man es nicht für möglich halten würde, erleben sie. Kurz vor ihrem physischen Tod erlangen sie ihre geistige Klarheit wieder zurück. Was verbirgt sich hinter diesem Phänomen?
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Dieser Beitrag ist Teil der Serie „Was geschieht mit mir wenn ich sterbe?“
Grobes Inhaltsverzeichnis
Terminale Geistesklarheit, auch als terminale Luzidität bezeichnet, beschreibt eine Episode mit Prozess und Zustand einer spontanen und unerwarteten Rückkehr geistiger Klarheit und Erinnerung bei Menschen mit schweren psychischen oder neurologischen Erkrankungen relativ kurz vor ihrem physischen Tod. Der Prozess schließt im Allgemeinen auch das Wiedererlangen des Bewusstseins und der geistigen Fähigkeiten mit ein.
Krankheitsbilder
Zu den Krankheitsbildern, bei denen zuweilen eine terminale Geistesklarheit beobachtet wird, zählen insbesondere:
- affektive Störung,
- Schizophrenie,
- Geistige Behinderung, einhergehend mit Intelligenzminderung,
- Demenz und Alzheimer-Krankheit (Morbus Alzheimer),
- Hirnhautentzündung (Meningitis),
- Hirnabszess und ‑tumor,
- Schlaganfall.
Affektive Störungen bezeichnen eine Gruppe von psychischen Störungen, die sich über einen längeren Zeitraum hinweg in einer klinisch bedeutsamen, krankhaften Veränderung der Stimmungslage zeigen. Zu den affektiven Störungen zählen die Depression (depressiv-gehemmte Stimmung mit Niedergeschlagenheit, Gleichgültigkeit, Antriebsminderung), die Manie (manisch-gehobene Stimmung mit Reizbarkeit, Antriebssteigerung) sowie die bipolare Störung (manisch-depressive Erkrankung).
Eine Schizophrenie („gespaltener Geist“) zeigt sich in psychotischen Phasen, in denen Betroffene die Welt oft völlig anders wahrnehmen als sie sie normalerweise erleben. An Schizophrenie erkrankte Menschen hören Stimmen, fühlen sich verfolgt, von anderen (nicht ausschließlich Menschen) beobachtet oder beeinflusst oder haben Wahnideen. In einer psychotischen Phase ändert sich das Verhalten markant. Manche Betroffene sprechen unzusammenhängend, springen von Thema zu Thema und können sogar den Bezug zur Realität fast völlig verlieren.
Psychische Störungen lassen sich durch geeignete Medikamente lindern. Voraussetzung ist jedoch, dass ein Betroffener die Medikamente auch der Verordnung entsprechend einnimmt.
Eine geistige Behinderung ist gemäß der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) charakterisiert „durch eine signifikante Einschränkung im Bereich der geistigen Funktionen und in Bereichen des adaptiven Verhaltens, welche sich in den konzeptionellen, sozialen und praktischen Fähigkeiten widerspiegeln.“ Die in der Regel diagnostizierte Intelligenzminderung kann auch zusammen mit weiteren Entwicklungsstörungen auftreten (z. B. Spracherwerb und Sozialverhalten).
Alters- oder krankheitsbedingter Verlust vorher beherrschter Fähigkeiten (und damit auch der Intelligenz) wird als Demenz bezeichnet. Der Begriff „Demenz“ fasst mehr als 50 Krankheiten zusammen, bei denen die Leistung des Gehirns nachlässt. Die häufig vorkommende Alzheimer-Erkrankung ist eine dieser Demenzformen.
Am Beginn einer Demenz, die sich je nach Demenzform langsam oder gar sprunghaft entwickeln kann, sind häufig Kurzzeitgedächtnis und Merkfähigkeit gestört. Im weiteren Verlauf gehen auch eingeprägte Inhalte des Langzeitgedächtnisses verloren. Auch Aufmerksamkeit, Auffassungs- und Denkvermögen, Orientierungsfähigkeit und sprachliche Ausdrucksfähigkeit werden zunehmend beeinträchtigt. Auf diese Weise verlieren Betroffene zunehmend die während ihres Lebens erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten.
Eine Hirnhautentzündung bezeichnet eine Entzündung der Hirn- und Rückenmarkshäute, d. h. der Hüllen des zentralen Nervensystems (ZNS). Sie kann, insbesondere wenn sie nicht rechtzeitig erkannt und behandelt wird, durchaus tödlich enden oder zu schwerwiegenden Folgeschäden wie einer Epilepsie, einem Hydrozephalus („Wasserkopf“), Taubheit oder kognitiven Beeinträchtigungen führen.
Ein Hirnabszess bezeichnet eine Ansammlung von Eiter in einer Art Kapsel im Gehirn. Je nachdem, welche Bereiche des Gehirns betroffen sind, können Krampfanfälle (epileptische Anfälle), Empfindungsstörungen, Gedächtnisprobleme und Konzentrationsschwäche auftreten.
Bei einem Hirntumor handelt es sich um gut- und bösartige Geschwulst innerhalb des Schädels. Ein wachsender Tumor drückt verstärkt auf die empfindlichen Gehirnzellen und führt dadurch zu einer vollständigen oder teilweisen Zerstörung umgebender, gesunder Gehirnzellen. Ein Tumor kann sich je nach Art in Symptomen wie epileptischen Anfällen, Lähmungserscheinungen, Sprach-, Koordinations- und Konzentrationsstörungen bis hin zur Persönlichkeitsveränderung zeigen.
Ein Schlaganfall (Hirnschlag) bezeichnet eine plötzliche Durchblutungsstörung im Gehirn. Durch Ausfälle von Gehirnfunktionen sterben so viele Gehirnzellen ab, dass der Betroffene bleibende Schäden wie Lähmungserscheinungen, Gangunsicherheit, Taubheitsgefühle, Verwirrtheit, Sprach- oder Sehstörungen davonträgt oder sogar stirbt. Bei rascher Behandlung lassen sich unter Umständen die Folgen mildern und manchmal bilden sich solche Störungen oder Ausfälle wieder zurück.
Schilderungen in der Literatur
In den letzten Jahrhunderten wurden eine dreistellige Zahl von Fällen terminaler Geistesklarheit dokumentiert. Einige davon sind im Buch „Wenn die Dunkelheit ein Ende findet“ wiedergegeben.
Die „gemütskranke“ Frau
Über den Fall einer „gemütskranken“ Frau, die an einer affektiven Störung litt, jahrelang in Anstalten und dann wieder in der Familie gelebt hatte und schließlich an einer Lungenentzündung starb, wird Folgendes berichtet (S. 28):
„Als es zu Ende ging, löste sich die Verdunklung des Gemüts, und sie erzählte ihren Kindern alles, was ihr während dieser Zeit innerlich wohlgetan und was ihr wie ein Messer durch die Seele geschnitten hätte. Auf der lichten Seite standen Lieder, Musik, und alles was mit Gott und Religion zusammenhing, auf der dunklen Seite die Lieblosigkeiten der Familie untereinander, auch wenn sie gar nicht ihr galten. »Wie oft habt ihr gesagt: Ach was, die Mutter merkt das ja nicht mehr! Und ich habe es doch gemerkt, sehr deutlich und schmerzhaft, nur fehlte mir die Möglichkeit, mich verständlich zu machen.« Sie starb nach zwei Tagen in geistiger Klarheit.“
An dieser Schilderung fällt auf, dass die vermutlich unter einer schweren Depression leidende Frau, die wahrscheinlich die letzte Zeit ihres Lebens im Bett verbrachte und am normalen Leben nicht mehr Anteil nehmen konnte, urplötzlich wieder zu geistiger Klarheit gelangte. Während ihrer depressiven Phase war sie offenkundig durchaus in der Lage, aufzunehmen was um sie herum geschah. Schließlich befand sie sich nicht in einem komatösen Zustand.
Schilderungen von Menschen über ihren während ihrer schweren Depression erlebten Zustand beziehen sich häufig auf den Aspekt nahezu vollständiger Handlungsunfähigkeit. Sie fühlen sich wie gelähmt und betäubt. Jede Bewegung scheint unendlich viel Kraft zu kosten. Selbst der Gang zur Toilette fällt überaus schwer. Vermutlich zählte die Frau zu diesem Kreis von Menschen. Umso erstaunlicher erscheint die plötzliche Veränderung in ihrem Gemütszustand, dazu noch völlig ohne Medikamente oder sonstige Maßnahmen.
Die an Demenz leidende Frau
In seinem Buch „Blicke hinter den Horizont: Nahtoderlebnisse: Deutung – Bedeutung“ schildert Jörgen Bruhn den Fall einer an Demenz leidenden Frau (S. 167):
„Ein ehemaliger Schüler von mir leitet in Schleswig-Holstein ein Alten- und Pflegeheim. Nach einer Veranstaltung kam er zu mir und wollte von einem Ereignis berichten, das er selbst miterlebt hatte. In seinem Heim wurde seit Jahren eine Frau gepflegt, die unter der Alzheimer-Erkrankung litt. In den beiden letzten Lebensjahren habe sie auf ihre Umwelt eigentlich, so meinte er, gar nicht mehr reagieren können., sondern nur noch an die Decke gestarrt. Schließlich erlitt sie einen Herzinfarkt, war klinisch tot und wurde, da keinerlei anders lautende Verfügungen vorlagen, wiederbelebt. Nach ihrer Reanimation war sie für mehrere Stunden geistig völlig klar. … Sie bedankte sich nun bei ihren Kindern, dass diese sie regelmäßig besucht hätten, obwohl sie sich nie hatte dafür dankbar zeigen können. Sie freute sich darüber, Medizinern und Pflegepersonal Dankesworte sagen zu können, und zeigte durch alle ihre Äußerungen, dass sie in den letzten beiden Jahren eigentlich alles in ihrer Umgebung ‚mitbekommen‘ hatte. Auch ihr Gefühlsleben war in dieser Zeit offenbar völlig intakt gewesen. In der folgenden Nacht beendete ein zweiter Infarkt ihr Erdenleben endgültig.“
Bei einer vorliegenden Alzheimer-Erkrankung wäre zu erwarten, dass die Betroffene nicht mehr zu geistiger Klarheit gelangen kann. Als verblüffend erscheint, dass die Frau trotz dieser schwerwiegenden Beeinträchtigung gewissermaßen am Leben in ihrem Umfeld teilnehmen konnte, ohne jedoch in der Lage sein zu können, sich zu äußern.
Die bewegungs- und sprachunfähige Frau
Eine Schilderung (S. 50) im Buch „Wenn die Dunkelheit ein Ende findet“ zeichnet das Bild einer Frau, die mit 91 Jahren einen Schlaganfall erlitt, nach dem ihre linke Körperseite gelähmt und ihre Sprachfähigkeit beeinträchtigt war. Einige Monate später folgte ein weiterer Schlaganfall, der sie vollständig lähmte und ihr auch die Sprachfähigkeit nahm. Lediglich an ihren Augen ließ sich noch erkennen, dass in ihrem Körper noch Leben war. Zu den Ereignissen kurz vor ihrem Tod ist Folgendes zu lesen:
„Schließlich war es offensichtlich, dass das Ende nahe war. Es kam etwa um halb vier nachmittags an einem schönen Herbsttag. Ihre Tochter, die sie seit ihrem ersten Gehirnschlag gepflegt hatte, saß an ihrem Bett. Ein plötzlicher lauter Ausruf der Mutter ließ sie augenblicklich aufmerken. Zu ihrer Verblüffung wurde ihr Gesicht, das seit vielen Monaten eine unbewegliche Maske gewesen war, von einem freudestrahlenden Lächeln erhellt. Die Mutter wandte sich ihrer Tochter zu, strahlte sie mit einem ‚lieblichen, wundervollen Blick‘ an und setzte sich dann ohne offensichtliche Anstrengung in ihrem Bett auf, hob ihre Arme und sagte mit klarer und freudiger Stimme »Andrew!« Und mit diesem Ausspruch des Namens ihres verstorbenen Ehemannes sanken die Arme wieder. Ihre Tochter fing den Körper, aus dem der Geist auf so freudvolle Weise gewichen war, auf und ließ ihn zurück ins Bett sinken.“
Diese verblüffende Schilderung deutet darauf hin, dass es der Sterbenden trotz aller seit vielen Monaten bestehenden Einschränkungen möglich war, sich wieder zu bewegen und auch zu sprechen. Darüber hinaus erlebte sie offensichtlich eine Sterbebettvision bzw. Sterbevision. Sie schien ihren verstorbenen Ehemann als „Abholer“ in das Jenseits zu erkennen. Die anwesende Tochter konnte ihren Vater hingegen nicht sehen. Bei Sterbevisionen tritt das Phänomen, dass ausschließlich der bzw. die Sterbende eine oder mehrere Personen oder Wesen „sehen“ können, durchaus häufig auf.
Begegnung mit dem verstorbenen Bruder
Eine weitere Schilderung, ebenfalls im Buch „Wenn die Dunkelheit ein Ende findet“ zu finden (S. 71), bezieht sich auf einen von Raymond Moody, einem Pionier der Nahtodforschung, geschilderten Fall:
„Nachdem Herr Sykes in das für viele Alzheimer-Patienten typische Endstadium eingetreten war, in dem er nicht mehr wusste, wo er war, keinerlei Anzeichen von Verständnis zeigte, seine Frau und Kinder nicht mehr erkannte und auch nicht mehr zusammenhängend reden konnte, lebte er noch etwa zwei Monate in diesem Zustand. Er hatte den Kontakt mit der Realität völlig verloren und körperliche Symptome kündigten sein nahes Ende an. Eines Tages veränderte sich sein Verhalten jedoch in sehr bemerkenswerter Weise. Herr Sykes setzte sich in seinem Bett auf und begann so klar und deutlich zu sprechen als ob er es nie verlernt hätte. Er sprach allerdings nicht zu den anwesenden Pflegern, sondern sah mit leuchtenden Augen nach oben zu einer für alle anderen unsichtbaren Gestalt, die er als seinen Bruder Hugh bezeichnete. Es schien als ob er wie in einem Café mit Hugh plauderte, und er lachte sogar ab und zu. Die Pfleger nahmen an er spräche zu einem Verstorbenen, doch die Frau von Herrn Sykes klärte sie später darüber auf, dass Hugh durchaus am Leben sei. Sie hatte noch am Tag zuvor mit ihm gesprochen, um ihm mitzuteilen, dass sein Bruder bald sterben würde. Zur Überraschung aller stellte sich alsbald jedoch heraus, dass Hugh etwa zu der Zeit, zu der sich Herr Sykes in seinem Bett aufgesetzt hatte, plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war. Noch am gleichen Tag verstarb auch Herr Sykes.“
Auch Herr Sykes erlebte am letzten Tag seines Lebens offenkundig eine Phase geistiger Klarheit. Der Schilderung zufolge erlangte er Fähigkeiten wieder, die bereits als unwiederbringlich verloren galten.
Wie im zuvor geschilderten Fall erlebte auch Herr Sykes offensichtlich eine Sterbevision. Bemerkenswert ist jedoch, dass Herr Sykes nicht wissen konnte, dass sein Bruder bereits verstorben war. Der Tod des Bruders wurde erst nach der „Begegnung“ der beiden Brüder bekannt.
Die geistig behinderte Frau
Die Schilderung der letzten Stunden einer geistig behinderten Frau, Käthe, ebenfalls zu finden im Buch „Wenn die Dunkelheit ein Ende findet“ (S. 61), wirft einen Blick auf terminale Geistesklarheit, die nach gängigem Verständnis nicht möglich sein kann. Friedrich Happich, seinerzeit pädagogischer Leiter der damals so bezeichneten Heil- und Pflegeanstalt „Hephata“, und der damalige Chefarzt Dr. Wilhelm Wittneben berichteten über diese Patientin, die von 1901 bis zu ihrem Tod im Jahr 1922 dort lebte. Happich charakterisierte die Patientin so:
„Zu den tiefststehenden Pfleglingen, die wir je hatten, gehörte Käthe. Sie war von Geburt an völlig verblödet und hat nie ein Wort zu sprechen gelernt. Stumpf vegetierte Käthe dahin. Stundenlang starrte sie auf einen Punkt, dann zappelte sie wieder stundenlang ohne Unterbrechung. Sie schlang Nahrung hinunter, schied das Aufgenommene wieder aus, stieß einmal einen tierischen Laut aus und schlief. Andere Lebensregungen haben wir in den langen Jahren an ihr nie wahrgenommen. Nie haben wir in der langen Zeit gemerkt, dass sie auch nur eine Sekunde an dem Leben ihrer Umgebung teilnahm. Auch körperlich wurde das Mädchen immer elender; ein Bein musste ihm angenommen werden, und das Siechtum wurde immer stärker.“
Über Käthes Todesstunde berichtete Happich Folgendes: „Eines Morgens rief mich einer unserer Ärzte, der als Wissenschaftler und praktischer Psychiater anerkannt ist, an: »Komm einmal gleich her, Käthe liegt im Sterben!« Als wir gemeinsam das Sterbezimmer betraten, trauten wir unseren Augen und Ohren nicht. Die von Geburt an völlig verblödete Käthe, die nie ein Wort gesprochen hatte, sang sich selbst die Sterbelieder. Vor allem sang sie immer wieder: »Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh? Ruh, Ruh, himmlische Ruh!« Eine halbe Stunde lang sang Käthe. Das bis dahin so verblödete Gesicht war durchgeistigt und verklärt. Dann schlief sie still ein. – Immer wieder sagte der Arzt, dem ebenso wie der pflegenden Schwester und mir Tränen in den Augen standen: »Medizinisch stehe ich völlig vor einem Rätsel. Durch eine Sektion kann ich, wenn es verlangt wird, nachweisen, dass Käthes Hirnrinde restlos zerstört und anatomische Denktätigkeit nicht mehr möglich war.«“
Nach klinischem Befund litt Käthe außer an ihrer geistigen Behinderung an schweren Schädigungen der Hirnrinde, verursacht durch mehrere schwere Hirnhautentzündungen. Hinzu kam noch eine Knochentuberkulose, die die Amputation eines Beines erforderlich machte. Für den Arzt, Dr. Wittneben, war vor diesem Hintergrund völlig unverständlich, wie die sterbende Käthe plötzlich klar und deutlich mit Verstand singen konnte.
Die vorstehenden Schilderungen werfen eine Reihe von Fragen auf. Käthe musste in der Lage gewesen sein, das in ihrer Umgebung Geschehene aufzunehmen, obwohl dies für die Menschen in ihrem Umfeld nicht erkennbar war. Wie konnte sie den Text des genannten Liedes aus dem Gedächtnis wiedergeben? Wie konnte sie Inhalt und Bedeutung des Textes kognitiv erfassen? Und wie konnte sie Sterbelieder mit ihrer aktuellen Situation, dem Sterben, in Verbindung bringen?
Dr. Wittneben sah sich vor einem medizinischen Rätsel. Immerhin hatte er den Mut, den Fall in Fachzeitschriften und Aufsätzen vorzustellen und auch bei Konferenzen darüber zu berichten.
Folgerungen
Die geschilderten Fälle terminaler Geistesklarheit geben lediglich einen kurzen Überblick über dieses kaum erforschte Feld. Das Buch „Wenn die Dunkelheit ein Ende findet“ behandelt dieses Phänomen sehr viel ausführlicher und breiter.
Im Verhältnis zur Weltbevölkerung wurden bisher eine äußerst geringe Zahl von Fällen terminaler Geistesklarheit berichtet. Daraus lässt sich jedoch keinesfalls schließen, dass dieses Phänomen unbedeutend wäre. Schließlich werden beispielsweise in der Medizin auch Fälle, in denen Menschen ohne ein Kleinhirn leben, trotz der äußerst geringen Zahl nicht ignoriert.
Auf Basis der zu dem Phänomen der terminalen Geistesklarheit zugänglichen Schilderungen lässt sich festhalten, dass sich ein Moment oder eine Phase terminaler Geistesklarheit auffallend oft zum letztmöglichen Zeitpunkt vor dem physischen Tod ereignete. Zwar lebten manche der Betroffenen danach noch einige Tage oder gar wenige Wochen, jedoch waren sie dann nicht mehr ansprechbar. Sie fielen gewissermaßen in den der Geistesklarheit vorhergehenden Zustand zurück.
Unweigerlich stellt sich die Frage, wie Sterbende erkennen können, dass der letztmögliche Zeitpunkt für Geistesklarheit gekommen ist. Gibt es ein Signal, das der Sterbende empfängt und auf dieses reagiert? Falls ja, muss der Sterbende in der Lage sein, das Signal korrekt zu interpretieren und den Zugang zu bereits verlorenen Funktionen wieder ermöglichen. Woher kommt dieses Signal und woher weiß der Sterbende, dass es sich um dieses bestimmte „Wiedererwecken“-Signal handelt? Ein Mensch kann es während seines Lebens schließlich nicht „erlernen“ – es lässt sich in keinem Verzeichnis finden.
Außerdem stellt sich die Frage, wie es einem Betroffenen trotz aller langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen möglich ist, Ereignisse und Erlebnisse im Langzeitgedächtnis zu speichern und im Moment bzw. der Phase der terminalen Geistesklarheit wieder abzurufen. Bedeutet dies beispielsweise, dass Erinnerungen bei dementen Personen möglicherweise doch nicht endgültig ausgelöscht sind?
Es fällt auf, dass terminale Geistesklarheit auch von Sterbebettvisionen bzw. Sterbevisionen begleitet sein kann. Zuweilen werden Sterbevisionen als wunschinduzierte Halluzinationen betrachtet. Zumindest die zu Herrn Sykes vorliegende Schilderung passt jedoch nicht zur Annahme einer Halluzination, denn niemand wusste vom Tod des Bruders. Herr Sykes sah und erkannte seinen Bruder in etwa zum Zeitpunkt von dessen Tod.
Die vielerlei Fragen, die sich zum Komplex der terminalen Geistesklarheit stellen, werden im Teil „Queranalyse“ wieder aufgegriffen.