Wann entsteht das individuelle Selbst? Beginnt der Prozess der Entwicklung des individuellen Selbst schon im Mutterleib? Falls ja: Ab wann kann ein Kind im Mutterleib seelische Regungen zeigen, Reize aufnehmen, sie auch erleben und auf sie reagieren?
Es ist zwar noch ein weiter Weg, bis die Selbstwahrnehmung des Kindes ausreift und es weiß, dass es ein eigenständiges Wesen ist. Dies wird erst im Alter von 18-24 Monaten soweit sein. Dennoch: nicht nur der Körper entwickelt sich, sondern auch das individuelle Selbst.
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Dieser Beitrag ist Teil der Serie „Was geschieht mit mir wenn ich sterbe?“
Grobes Inhaltsverzeichnis
Der Lebenszyklus, dem der physische Körper unterliegt, beginnt mit der Entstehung der Zygote. Diese, eine diploide Zelle mit vollständigem Chromosomensatz (23 Chromosomenpaare, entsprechend 46 Chromosomen), entsteht bei der Vereinigung von weiblicher Eizelle und männlichem Spermium zu einer Zelle. Eine befruchtete Zelle enthält demnach einen doppelten Chromosomensatz aus mütterlichen und väterlichen Erbanlagen.
Chromosomen, die jedes Lebewesen im Kern jeder einzelnen Zelle besitzt, sind Träger von Erbanlagen. Sie bestehen aus Desoxyribonukleinsäure (engl.: deoxyribonucleic acid, DNA) und Proteinen. Auf der DNA befinden sich in einzelnen Abschnitten die Gene. Ein Chromosom enthält mehrere Hundert bis mehrere Tausend Gene. Die Chromosomen unterscheiden sich somit deutlich voneinander. Während das größte Chromosom (Chromosom 1) nahezu 3000 Gene umfasst, sind es auf dem kleinsten (Y-Chromosom) nur 231.
Der Bauplan des biologischen Lebens liegt in den Genen. Doch gibt es auch eine Art „Bauplan“ des individuellen Selbst? Und was hat welchen Einfluss auf das individuelle Selbst? Inwieweit bestimmen beispielsweise die Gene, ob jemand selbstbewusst oder eher scheu ist? Werden auch Charaktereigenschaften vererbt? Was wird vererbt, was wird erlernt? Was das individuelle Selbst anbelangt, sind noch viele Fragen offen.
Um Antworten näherzukommen, erscheint es zielführend zu sein, markante Entwicklungsschritte in der pränatalen Phase und neuere Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung kurz zu betrachten. Darüber hinaus erscheint für das Verständnis hilfreich, das Konzept der Beseelung ebenfalls in Kürze zu beleuchten.
Markante Entwicklungsschritte des physischen Körpers
Aus der Zygote entwickelt sich ein neuer Organismus, der Embryo. Das Embryonalstadium währt vom ersten Tag nach der Befruchtung bis zur achten Schwangerschaftswoche. Während dieser Zeit werden immer mehr Zellen produziert. Die Basis für alle Körperstrukturen und Organe wird geschaffen.
Die Entwicklung von Gehirn und Nervensystem beginnt mit der dritten Schwangerschaftswoche. In der folgenden Woche sind die beiden Gehirnhälften sichtbar. In der sechsten Schwangerschaftswoche sind erste Hirnstrukturen, darunter das Kleinhirn und die Großhirnrinde, entstanden. Bis zum Ende der achten Schwangerschaftswoche sind Gehirn und Rückenmark fast vollständig angelegt.
Bereits ab dem 22. Tag der Schwangerschaft beginnt das Herz zu schlagen. Ab der sechsten Schwangerschaftswoche ist der Herzschlag auch auf dem Ultraschall nachweisbar.
Die Entwicklung der Lunge beginnt bereits um den 28. Tag der Schwangerschaft. Die Lunge beginnt mit Ausdehnung und Kontraktion. Jedoch haben diese Ausdehnungs- und Kontraktionsbewegungen noch nichts mit dem eigentlichen Atmungsvorgang zu tun. Bis zur Geburt übernimmt die Mutter die Sauerstoffversorgung des Kindes.
In der neunten Schwangerschaftswoche geht das Embryonalstadium in das Fetalstadium über, das als längste pränatale Phase bis zur Geburt dauert. Jetzt wächst der Fötus rapide und erhält langsam das Aussehen eines Babys. Die Körperstrukturen und Organe wachsen und werden weiter ausgebildet. Ein Schlaf-Wach-Zyklus beginnt. Auch die sinnliche Erfahrung und das „Lernen“ setzen ein.
In der 12. Schwangerschaftswoche ist der Fötus etwa 6 cm lang und 15 g schwer. Sein Herz schlägt 120-160 mal pro Minute. Der Herzschlag ist auch mit einem Stethoskop hörbar. Die äußeren Geschlechtsorgane sind ausgebildet. Arme, Finger und Beine sind sichtbar.
Etwa ab diesem Zeitpunkt in der Schwangerschaft lassen sich einige Reflexe beobachten, wie Saugen, Schlucken und Greifen. Die meisten Bewegungen, die auch später bei der Geburt beobachtbar sind, sind bereits jetzt schon aufgetreten.
Zu Beginn der 13. Schwangerschaftswoche sind alle Organe ausgebildet. Sie müssen nun noch an Größe zunehmen und zu ihrer vollen Funktionsfähigkeit gelangen. Die Bauchspeicheldrüse hat bereits mit der Produktion von Insulin begonnen, einem Hormon, das der menschliche Körper für die Aufspaltung von Zucker benötigt. Auch der Darm ist in dieser Schwangerschaftswoche bereits vollständig vorhanden. Der Fötus bekommt zum ersten Mal Stuhlgang. Dabei ist er immer noch nur etwa 6-7 cm groß und wiegt rund 20 g.
Im Hinblick auf das Ohr bildet sich um die 15. Schwangerschaftswoche die Hörschnecke im Mittelohr des Fötus aus. Etwa sieben Wochen später, um die 22. Schwangerschaftswoche, ist das Ohr des Fötus soweit ausgebildet, dass es erste Hörerlebnisse sammeln kann. Ab der 28. Schwangerschaftswoche kann das Hörvermögen sicher vorausgesetzt werden.
Etwa nach 28 Schwangerschaftswochen gilt ein Fötus als außerhalb des Mutterleibs lebensfähig. Das heranwachsende Kind kann jetzt hören, die Augen öffnen und das der REM-Schlaf (eine Schlafphase, die unter anderem durch schnelle Augenbewegungen bei geschlossenen Lidern gekennzeichnet ist) lässt sich beobachten.
Bei normalem Verlauf dauert die Schwangerschaft durchschnittlich 38 Wochen, gerechnet ab dem Tag der Befruchtung. Dann wird das Kind hoffentlich gesund zur Welt gebracht. Es ist zwar körperlich vollständig entwickelt, für einige Jahre jedoch auf die Fürsorge einer oder mehrerer Bezugspersonen, insbesondere die Mutter, angewiesen.
Markante Entwicklungsschritte des individuellen Selbst
Während der Schwangerschaft lassen sich die Körperfunktionen mit medizinischen Gerätschaften beobachten, messen, aufzeichnen und überwachen. Doch wie steht es um das individuelle Selbst, in dieser Untersuchung vereinfachend als das Zusammenwirken von Geist, Seele und Bewusstsein betrachtet? An dieser Stelle sei erneut auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die einzelnen Konzepte klar und eindeutig voneinander abzugrenzen. Für die Zwecke dieser Untersuchung reicht es aus, den Begriff des individuellen Selbst zu verwenden. Gleichwohl liegt ein gewisser Schwerpunkt auf dem seelischen Geschehen.
Im Unterschied zu Körperfunktionen sind die „Funktionen“ des individuellen Selbst – wenn überhaupt – nur mit Einschränkungen objektiv messbar. Während beispielsweise die Herzschlagfrequenz exakt messbar ist, entzieht sich das Gefühl der Abneigung jeglicher objektiven Messbarkeit.
Jede Gefühlsregung ist seelisches Geschehen. Doch wann zeigt sich das erste seelische Geschehen und wie entwickelt es sich im Verlauf der Schwangerschaft?
Über die Nabelschnur, die um die vierte Schwangerschaftswoche gebildet wird und ab der siebten Woche zu wachsen beginnt, wird der Embryo bzw. später der Fötus mit Nährstoffen versorgt. Die Versorgung über die Nabelschnur beschränkt sich jedoch nicht auf Nährstoffe. Die Mutter gibt auch ihre Stimmungslage, wie beispielsweise Wohlbefinden, Stress, Angst und Aggression, an das ungeborene Kind weiter. Sie transportiert ihr seelisches Geschehen und löst physiologische Reaktionen beim Kind aus.
Fühlt sich die Mutter beispielsweise ängstlich oder auch gestresst, kommt es zur vermehrten Ausschüttung sogenannter Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol. In der Konsequenz kommt es dazu, dass der Fötus den unverarbeiteten Stress der Mutter nicht nur aus der Gegenwart, sondern auch aus der Vergangenheit, ganz unmittelbar miterlebt. Leidet eine Mutter beispielsweise unter einer Depression, zeigen sich beim Ungeborenen die typischen Veränderungen des Hormonhaushalts: ein erhöhter Cortisol- und ein erniedrigter Dopaminspiegel. Das noch unreife Gehirn des Ungeborenen kann damit bei weitem nicht so gut umgehen als das Gehirn eines Erwachsenen.
Andererseits „erlebt“ das Ungeborene positive Gefühle der werdenden Mutter, wenn sie sich freut, Glück empfindet, mit. Im Gehirn sind Rezeptoren für die sogenannten „Glückshormone“ (die bekanntesten sind Dopamin, Serotonin, Oxytocin und Endorphin) schon früh und gut ausgereift. Fühlt sich die Mutter beispielsweise ausgeglichen und wohl und streichelt ihren Bauch, wird das Hormon Oxytocin ausgeschüttet.
Hormone überwinden die Plazentaschranke, die den mütterlichen Blutkreislauf vom fetalen Blutkreislauf trennt, und führen zu einer Veränderung im Hormonhaushalt des Fötus. Mit nur kurzer Verzögerung gibt die Mutter somit ihre Befindlichkeit und ihre Gefühle an das Kind weiter und verursacht beim Kind nicht nur die bereits erwähnten physiologischen Reaktionen, sondern auch seelische Regungen. Das Kind nimmt am emotionalen Erleben seiner Mutter Anteil und teilt gewissermaßen deren Freud und Leid.
Schon gegen Ende des Embryonalstadiums, um die achte Schwangerschaftswoche, entwickelt sich der Tastsinn. Der zu diesem Zeitpunkt etwa 2,5 cm große Embryo kann spüren, wenn sein Gesicht oder seine Lippen etwas berühren und darauf reagieren. Und es kann spüren, wenn eine Hand liebevoll auf den Bauch der Mutter gelegt wird. Etwa um dieselbe Zeit kann das heranwachsende Baby auch riechen und das Fruchtwasser schmecken.
Wie bereits erwähnt, kann der Fötus um die 22. Schwangerschaftswoche erste Hörerlebnisse sammeln. Der Fötus zeigt eine Reaktion auf Geräusche, beispielsweise auf den Herzschlag, die Atemgeräusche und die Stimme der Mutter. Manche Geräusche, wie beispielsweise ein lauter Knall, können auch Schreckreaktionen auslösen. Auch Stimmen anderer Menschen sind für den Fötus jetzt wahrnehmbar. Er kann sogar schon freundliche von aggressiven Stimmen unterscheiden. Ab der 28. Schwangerschaftswoche ist das Hörvermögen sicher vorhanden.
Im Hinblick auf den Aspekt der Sprache ist für den Fötus die Stimme der Mutter besonders wichtig. Studien konnten zeigen, dass neugeborene Babys bei gesprochenen Worten mehr Hirnaktivität aufwiesen als bei sinnfreien Worten oder gar Stille. Es wird vermutet, dass auch schon ein Fötus Sprachmuster innerhalb der Muttersprache erkennen kann. Häufige Wiederholungen, beispielsweise durch das Vorsingen von Kinderliedern, begünstigen das Erkennen von Sprachmustern.
Die Frage der Beseelung
Die Frage, wann menschliches Leben beginnt, beschäftigt Wissenschaft und Medizin schon seit vielen Jahrhunderten. Den Beobachtungen des griechischen Universalgelehrten Aristoteles (384-322 v. Chr.) zufolge begannen männliche Föten am 40. Tag mit spürbaren Bewegungen, weibliche hingegen erst am 90. Tag. Auf Aristoteles lässt sich der Gedanke der sukzessiven Beseelung zurückführen.
Das Konzept der sukzessiven Beseelung
Aristoteles ging von drei unterscheidbaren Stufen des Belebten aus und ordnete jeder Belebtheitsstufe eine bestimmte Form der Seele zu: den Pflanzen eine vegetative, den Tieren eine animalisch-sensitive und den Menschen eine noetische (denkfähige, erkenntnisfähige, vernunftbegabte) Seele. Eine höhere Stufe enthält Eigenschaften dieser Stufe und außerdem die Eigenschaften aller darunterliegenden Stufen.
Dieser Auffassung zufolge führt das im Mutterleib heranwachsende Kind zunächst eine Art Pflanzenleben und besitzt eine vegetative Seele. Die vegetative Seele umfasst die Funktion der Ernährung, des Stoffwechsels, des Wachstums und des Vergehens. Spätestens mit Bildung des Herzens (ab dem 22. Tag der Schwangerschaft) beginnt das Stadium des animalisch-sensitiven Lebens. Die animalisch-sensitive Seele ist zusätzlich zu Wahrnehmung, Vorstellungen, Lust- und Schmerzempfindungen, Begehren und Bewegung fähig. Erst wenn der Embryo menschliche Gestalt angenommen hat, kann das dritte und letzte Stadium beginnen: das Stadium der noetischen Seele. Er ist für die Aufnahme der Geist- oder Vernunftseele bereit. Die noetische Seele verfügt zusätzlich über Denkvermögen.
Die Geist- oder Vernunftseele kann nach Auffassung von Aristoteles nicht vom Erzeuger auf den Embryo übertragen werden, sondern muss von außen eingegeben werden. Als Zeitpunkt dafür bestimmte Aristoteles bei männlichen Embryonen den 40. Tag. In der sechsten Schwangerschaftswoche ist der Embryo etwa 2-3 mm groß, so groß wie etwa eine Linse. Das Herz schlägt bereits. Bei weiblichen Föten bestimmte er ungefähr den 80. Tag nach der Empfängnis als Tag der Beseelung. In der 12. Schwangerschaftswoche hat der Fötus in etwa die Größe einer Limette. Für Aristoteles galt das Ungeborene ab diesem Zeitpunkt vollumfänglich als Mensch.
Das Konzept der Beseelung in den Offenbarungsreligionen
Die Auffassung, dass ein im Mutterleib heranwachsendes Kind erst einige Zeit nach der Empfängnis als vollgültiger Mensch anzusehen ist, hielt sich über Jahrhunderte. Sie fand auch Eingang in die Auffassungen der Offenbarungsreligionen (Judentum, Islam, Christentum).
Im Judentum erhält das werdende Kind 40 Tage nach der Befruchtung vom Schöpfer seine Seele. Vor diesem Zeitpunkt ist zwar Leben vorhanden, jedoch es ist kein menschliches Leben.
Im Islam finden sich ähnliche Vorstellungen. Das ungeborene Leben durchläuft drei Stadien: das Tropfenstadium (40. Tag), das Blutstadium (80. Tag), und das sogenannte Fleischklümpchenstadium (120. Tag). Die Beseelung durch Gott (Allah) geschieht frühestens am 40. Tag. Es bleibt jedoch nicht genau bestimmt, wann sie abgeschlossen ist. Es erfolgte jedoch mehrheitlich eine Einigung darauf, dass die Beseelung am 120. Tag nach der Empfängnis stattfindet. Aufgrund des bis dahin erreichten Entwicklungsstandes des Gehirns wird von der Existenz eines Willens ausgegangen. Dies wiederum setzt das Vorhandensein einer Seele voraus. In weiterer Konsequenz besitzt das Ungeborene ein individuelles Selbst. Ein Embryo ist, wie im Judentum, vor dem 40. Tag nur ein potenzieller Mensch.
Auch in der christlichen Tradition wurde über Jahrhunderte hinweg ebenfalls die Annahme der Sukzessivbeseelung gelehrt. Heute wird die Sukzessivbeseelung nicht zuletzt unter dem Einfluss wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht mehr vertreten. Vielmehr setzte sich die konkurrierende Auffassung der sogenannten Simultanbeseelung durch, die schließlich im Jahr 1869 von Papst Pius IX. zur Grundlage des katholischen Umgangs mit dem menschlichen Leben erhoben wurde. Die Beseelung erfolgt dieser Auffassung zufolge bei der Einnistung der aus der befruchteten Eizelle hervorgegangenen Blastozyste in die Gebärmutterschleimhaut. Die Einnistung (Nidation) beginnt beim Menschen am fünften oder sechsten Tag nach der Befruchtung der Eizelle.
Fortschritte in Wissenschaft und Forschung
Aristoteles verfügte zu seiner Zeit nicht über die Mittel moderner medizinischer Forschung und Diagnostik. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis grundlegende Mechanismen der Fortpflanzung entdeckt und schließlich verstanden wurden. Erst im Jahr 1827 gelang Karl Ernst Ritter von Baer, Mediziner und Naturforscher, die Entdeckung der Eizelle. Im Jahr 1843 beobachtete der britische Mediziner, Embryologe und Histologe Martin Barry erstmals unter dem Mikroskop das Vorhandensein eines Spermiums in einer Eizelle und entdeckte den Mechanismus der Empfängnis. Oskar Hertwig, Anatom, Zoologe und Entwicklungsbiologe, konnte 1875 erstmals am nahezu durchsichtigen Seeigel-Ei in seinen einzelnen Stadien unter dem Mikroskop die Befruchtung einer weiblichen Eizelle durch eine männliche Samenzelle beobachten.
Heute ist weitgehend unstrittig, dass mit der Verschmelzung von Ei und Spermium neues menschliches Leben entsteht. Wenn ein diploides Erbgut vorhanden ist beginnt eine humanspezifische Entwicklung.
Auch von der Genetik, der Lehre der Vererbung, konnte Aristoteles noch keine Kenntnis haben. Die Genetik ist eine relativ junge Wissenschaft. Sie beschäftigt sich mit der Ausbildung von erblichen Merkmalen sowie der Weitergabe von Genen an die Folgegeneration. Als „Vater“ der modernen Genetik gilt der Augustinermönch Gregor Johann Mendel, der im Jahr 1865 die sogenannten Mendelschen Regeln formulierte.
Erst recht konnte Arostoteles noch nichts von Epigenetik wissen. Dieses Teilgebiet der Biologie beschäftigt sich mit zellulären Prozessen, die die Aktivität von Genen beeinflussen, nicht aber auf einer Änderung der DNA-Sequenz beruhen. Die Epigenetik gewann erst in den 1940er Jahren an Bedeutung.
Argumente gegen das Konzept der Beseelung
Die bisher gewonnenen Erkenntnisse in der Epigenetik lassen den Schluss zu, dass die Mutter epigenetische Markierungen an ihr Kind weitervererben kann. Epigenetische Informationen, beispielsweise durch Traumata „codiert“, können somit die Grenze der Generationen überschreiten.
Wie bereits erwähnt, transportiert die werdende Mutter über die Nabelschnur ihr seelisches Geschehen an das Ungeborene und löst physiologische Reaktionen bei ihm aus. Vor dem Hintergrund der Reaktionsmuster beim Kind im Mutterleib kann gesichert davon ausgegangen werden, dass das seelische Geschehen der Mutter auch auf das seelische Geschehen des Kindes wirkt.
Neuere Untersuchungen konnten beispielsweise zeigen, dass Eltern psychische Störungen, wie beispielsweise Depressionen und Ängste, an ihre Kinder weitergeben können. Wenn ein Elternteil unter einer Depression leidet, besitzt das Kind ein drei bis fünfmal höheres Risiko, selbst an einer Depression zu erkranken. Leiden beide Elternteile unter Depressionen, liegt die Wahrscheinlichkeit noch höher. Auch bei Angststörungen konnten ähnliche Folgen beobachtet werden. Allerdings werden Angststörungen geschlechtsspezifisch weitergegeben: Mütter geben ihre Ängste in erster Linie an ihre Töchter weiter, Väter an ihre Söhne.
In der Konsequenz erscheint das Konzept der Beseelung durch eine externe Instanz „von außen“ als nicht schlüssig. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass das Kind im Mutterleib ohne Einwirkung „von außen“ schon frühzeitig ein eigenes individuelles Selbst entwickelt, das jedoch maßgeblich von den Eltern, insbesondere der Mutter, beeinflusst wird.