Wodurch wird das individuelle Selbst des Ungeborenen beeinflusst? Welche Weichen werden schon im Mutterleib gestellt? Spannende Fragen!
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Dieser Beitrag ist Teil der Serie „Was geschieht mit mir wenn ich sterbe?“
Grobes Inhaltsverzeichnis
Wie bereits deutlich wurde, lässt sich seelisches Geschehen beim Ungeborenen bereits im Mutterleib nachweisen. Wann die ersten Seelenregungen auftreten ist nicht zweifelsfrei beobachtbar. Schlüsse über das Seelenleben des Kindes lassen sich jedoch indirekt über Körperbewegungen ziehen. Indikatoren sind einerseits Situationen, die vom Kind höchstwahrscheinlich als belastend empfunden werden, und andererseits Situationen, die das Kind als angenehm und wohltuend wahrnimmt.
Reaktionen auf Belastungssituationen
Schon im Mutterleib wird erkennbar, dass Babys auf Belastungssituationen ganz unterschiedlich reagieren. Bei Stress, als Beispiel, werden Babys unruhig. Ihre Bewegungen lassen sich als fahrig wahrnehmen. Andere wiederum machen sich klein und ziehen Arme und Beine dicht an ihren Körper heran.
Lebensweise und Seelenleben der Schwangeren
Der Lebensstil der schwangeren Mutter wirkt sich direkt auf das Erbgut (Genom) ihres noch ungeborenen Kindes aus. Wenn beispielsweise eine Mutter während der Schwangerschaft raucht oder übermäßig Alkohol konsumiert, beeinflusst sie auch die epigenetische Programmierung des Erbguts ihres Kindes. Diese Veränderungen sind nicht auf einzelne DNA-Regionen begrenzt, sondern lassen sich im gesamten Erbgut des Kindes nachweisen.
Auch Faktoren wie Ernährung und körperliche Bewegung der werdenden Mutter haben Einfluss auf das Erbgut des Kindes. Untersuchungen deuten darauf hin, dass beispielsweise eine ungesunde Ernährung während der Schwangerschaft das Risiko einer Fettleibigkeit des Kindes erhöht.
Aspekte des belastenden oder gar schadenverursachenden Umgangs der werdenden Mutter mit ihrem Körper spielen eine durchaus bedeutsame Rolle. Aber auch Belastungen im Seelenleben der Schwangeren hinterlassen ihre Spuren.
Wie bereits erwähnt, nimmt das Kind am emotionalen Erleben seiner Mutter Anteil. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass sich seelische Belastungen der Schwangeren auf die epigenetische Programmierung des Erbguts ihres Kindes auswirken. Beispiele für derartige seelische Belastungen während der Schwangerschaft sind: häusliche Gewalt, chronischer Stress, Depressionen und Ängste.
Die Auswirkungen des Stresshormons Cortisol auf das fetale Gehirn gelten mittlerweile als sehr gut erforscht. Cortisol hemmt das als „Zufriedenheitshormon“ bekannte Serotonin und bedingt einen erhöhten Blutdruck. Bei vorzeitigen Wehen werden jedoch bewusst Stresshormone gespritzt, um die Lunge des noch Ungeborenen schneller heranreifen zu lassen. Der Nutzen überwiegt die Risiken. Das dann gemessene pharmakologische Stressniveau kann mit dem Verhalten des Ungeborenen in Beziehung gesetzt werden. Bisher gewonnene Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Kinder noch mit acht Jahren wesentlich stressempfindlicher sind, wenn an Schwangere an nur zwei Tagen Stresshormone verabreicht wurden (siehe „Wie die Schwangere, so die Kinder?“) .
Wenn beim Fötus der Cortisolspiegel dauerhaft erhöht ist, wird dies gewissermaßen als Normalzustand festgelegt. Es wird zumindest vermutet, dass das Kind auch nach der Geburt beim kleinsten Anlass schnell und viele Stresshormone produziert, um auf seinen „Normalwert“ zu kommen. Untersuchungen konnten zeigen, dass epigenetische Veränderungen bei erneutem Stress zu einer erhöhten Sensibilität gegenüber nachfolgendem Stress führen. Epigenetische Mechanismen bewirken somit eine langfristige Veränderung der Gene.
In der Gesamtschau erfolgt während der Schwangerschaft eine Art „fetale Programmierung“, die das Verhalten des geborenen Kindes über Jahre hinweg prägt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein Mensch nach seiner Geburt sein Leben lang beispielsweise zu Ängsten verurteilt ist. Epigenetische Strukturen sind prinzipiell reversibel. Wenn bekannt ist, wie „problematische“ Gene wieder ausgeschaltet werden können, besteht die Chance, dafür eine geeignete Therapie entwickeln zu können. So kann beispielsweise auch eine Verhaltenstherapie im Endeffekt dazu führen, dass Gene wieder aktiviert oder deaktiviert werden.
Während der Schwangerschaft ist es ausschließlich die Mutter, die ihr Seelenleben mit ihrem heranwachsenden Kind gewissermaßen teilt. Sie ist schließlich über die Nabelschnur physisch mit ihm verbunden. Das seelische Geschehen des Vaters kann sich nur über Berührungen der Bauchdecke der Schwangeren oder seine Stimme mitteilen. Für das Kind ist jedoch kaum unterscheidbar, ob die Mutter oder der Vater die Bauchdecke berührt.
Wenn das Ungeborene bereits hören und Stimmen von außerhalb des Mutterleibs wahrnehmen kann, wird es auch unterschiedliche Stimmungen wahrnehmen können. Vermutlich werden durch die Stimme wahrgenommene negative Gefühle des Vaters (z. B. Aggressionen) ähnlich bewertet wie solche der Mutter.
Überlebenswille von Frühgeborenen
Eine Frühgeburt stellt für das Ungeborene zweifellos eine enorme physische wie psychische Belastung dar. Heute haben Föten schon ab der 24. vollendeten Schwangerschaftswoche reelle Überlebenschancen. Um diese Zeit misst der Fötus normalerweise um die 29 cm und wiegt etwa 500 bis 550 Gramm.
Eigenschaften des individuellen Selbst zeigen sich auch in Frühgeborenen. Der Neonatologe (Neugeborenen-Mediziner) Hubert Messner, ein Bruder des Extrem-Bergsteigers Reinhold Messner, nahm manche Frühgeborene in seiner langjährigen beruflichen Tätigkeit als Kämpfer wahr. Doch was veranlasst ein beispielsweise in der 24. Schwangerschaftswoche frühgeborenes Kind dazu, um sein Leben zu kämpfen? Ist es ein angeborener Instinkt oder hat das Kind im Fetalstadium bereits eine Art „Willensentscheidung“ getroffen, um sein Leben zu kämpfen? Letzteres hätte zur Konsequenz, dass das individuelle Selbst bereits im Fetalstadium wirksam ist.
Nach Messners Beobachtung kommunizieren Babys über den Gesichtsausdruck und über ihre Möglichkeiten an Bewegungen. Babys, die einen starken Lebenswillen haben, kommunizieren völlig anders als Babys, die keinen großen Lebenswillen haben. Um bei einem Baby seelische Regungen erkennen und mit ihm kommunizieren zu können, muss der Neonatologe genau beobachten. Über den Gesichtsausdruck und die Bewegungen kann er sehr viele Schlüsse ziehen. Es erscheint sehr wahrscheinlich, dass sich die Intensität des Lebenswillens schon einige Zeit vor der Geburt herausbildet.
Reaktionen auf Bindungsförderung
Wenn sich das emotionale Erleben der Mutter auf das Kind auswirkt, liegt der Gedanke nahe, die seelische Entwicklung des Kindes schon möglichst frühzeitig positiv zu beeinflussen. Aus diesem Gedanken heraus entstand das Konzept der vorgeburtlichen Bindungsförderung, der Bindung zwischen Mutter und Kind. Dieses Konzept und die auf dessen Grundlage entwickelte Methodik wurden von den ungarischen Psychoanalytikern Jenö Raffai und György Hidas in den 1990-er Jahren erarbeitet. Im Idealfall beginnt die vorgeburtliche Bindungsförderung noch vor der 20. Schwangerschaftswoche.
Wie schon deutlich wurde, gewinnt der Fötus von seiner Mutter über ihr emotionales Erleben ein pränatales Bild. Im Konzept von Raffai und Hidas kommuniziert die Mutter jedoch darüber hinaus auch Bilder und Vorstellungen, die dem Bewusstsein der Mutter nicht zugänglich sind. Dazu zählen beispielsweise Fantasien, was aus dem Kind einmal werden könnte.
Die kommunizierten Botschaften werden nach Raffai vom Fötus in Form von Körperempfindungen festgehalten und wirken als unbewusste Seeleninhalte auf die weitere Entwicklung ein. Je nach Ausgestaltung des pränatalen Bildes kann bereits im Mutterleib eine Anbahnung von krankhaften Veränderungen des Seelenlebens (beispielsweise eine spätere Psychose) erfolgen.
Die Methodik sieht vor, einen sogenannten „Bindungsraum“ zu schaffen, der für beide, die Mutter und den Fötus, durchdringbar und verstehbar ist. In diesem Raum können Emotionen miteinander geteilt und ausgetauscht werden. Mutter und Fötus können über Bilder und Symbole miteinander in eine Kommunikation kommen. Die Mutter kann versuchen, über Gedanken und das „Verschicken“ innerer Bilder Kontakt aufzunehmen. Das Kind antwortet ebenfalls über Bilder und kann in der Mutter intuitive Körperwahrnehmungen auslösen.
Wenn dieser kommunikative Kontakt gelingt, fühlt sich das Kind als Persönlichkeit wahrgenommen. Und es fühlt sich wertgeschätzt, da es ja die Mutter ist, die versucht, mit ihm auf eine Weise zu kommunizieren, die es verstehen kann.
Wie schon erwähnt, werden über die Nabelschnur auch seelische Regungen der Mutter transportiert. Mit der vorgeburtlichen Bindungsförderung entsteht, bildlich gesprochen, eine weitere Nabelschnur, eine Nabelschnur der Seele (so lautet auch ein Titel eines Buchs von György Hidas und Jenő Raffai), als bidirektionaler Kommunikationskanal.
Die Erfahrungen mit der vorgeburtlichen Bindungsförderung sind positiv und lassen deren Wirksamkeit erkennen1. Mutter und Kind wachsen gewissermaßen zu einem guten Team zusammen und erleben während der Geburt wesentlich weniger Ängste und Schmerzen. Die Geburt wird natürlicher und zeitlich kürzer, wobei die natürliche vaginale Geburt die Regel ist. Kaiserschnittentbindungen sind bei weniger als 6 % der Schwangerschaften erforderlich, im Vergleich zu durchschnittlich 30 %. Außerdem treten deutlich weniger Frühgeburten auf (0,02 % im Vergleich zu durchschnittlich 8 %). Im Rückblick wurde bei den 1200 Bindungsanalysen von Raffai von keiner Wochenbettdepression (postpartale Depression), die in den ersten Wochen nach der Geburt auftritt, berichtet.
Neugeborene werden als emotional stabil, sozial kompetent und positiv der Welt zugewandt charakterisiert. Bereits zu diesem Zeitpunkt lässt sich ihr Selbstbewusstsein als gesund bezeichnen. Ferner sind sie geduldig und verstehen auch die Bedürfnisse ihrer Eltern.
Eltern haben deutlich weniger Grund, über Schlafdefizite zu klagen, da die Babys tagsüber weniger und dafür nachts länger schlafen. Nach wenigen Wochen schlafen die Babys bereits 6 bis 8 Stunden. Auch die Verständigung mit den Babys wird als deutlich einfacher beschrieben.
Eltern entscheiden über das individuelle Selbst mit
In der Gesamtschau lässt sich festhalten, dass das menschliche Leben mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt. Ab diesem Zeitpunkt entwickelt sich nicht nur der Körper, sondern – etwas verzögert – auch das individuelle Selbst des heranwachsenden Kindes. Damit sich das individuelle Selbst entwickeln kann, müssen die dafür notwendigen Organe hinreichend gebildet sein.
Das im Mutterleib heranwachsende Kind erbt mit dieser Verschmelzung in gewisser Weise die Geschichte seiner Eltern, jedoch besonders unmittelbar die seiner Mutter. Es ist in keiner Weise ein „unbeschriebenes Blatt“. Die folgende Zeit im Mutterleib stellt wichtige Weichen für sein späteres Leben. Mit ihrem eigenen Seelengeschehen und ihrem Verhalten während der Schwangerschaft drückt die werdende Mutter, bildlich ausgedrückt, einen Stempel in eine (noch) weiche Modelliermasse.
Die Konsequenz kann nur lauten, im Interesse des im Mutterleib heranwachsenden Kindes nach Möglichkeit alles zu vermeiden, was seiner Entwicklung schaden könnte. Dies betrifft nicht nur Verzicht auf Mittel oder Gewohnheiten, die der körperlichen Entwicklung des Kindes schaden (beispielsweise Rauchen, übermäßiger Alkoholgenuss). In erster Linie die Mutter, in zweiter Linie der Vater sind gefordert, gut für ihr eigenes Seelenleben zu sorgen, um das Kind vor Belastungen zu bewahren, die es in seine nachgeburtliche Kindheit gewissermaßen als „Rucksack“ mitnimmt.
Es erscheint hilfreich, nicht nur die Schwangere dazu zu ermutigen, die Bindung zu ihrem Kind schon möglichst frühzeitig zu fördern, sondern auch den Vater. Die Möglichkeiten der werdenden Mutter sind ungleich vielfältiger als die des Vaters. Aber auch er kann mit dem Ungeborenen kommunizieren.
- Schroth, Gerhard (2009): Bindungsanalyse nach Raffai und Hidas – Eine Einführung. In: International Journal of Prenatal and Perinatal Psychology and Medicine 21 (3/4), S. 343–347. ↩︎