Was bedeutet es, Kairos-Zeit zu erleben, die Gunst des Augenblicks zu nutzen? Wie kann man mehr Kairos-Zeit erleben, das pure Leben erleben?
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Der verspätete Zug
„ICE … heute etwa 60 Minuten später“ tönt es aus dem Lautsprecher. Man hat sich auf den Weg zum Bahnhof gemacht, um die Großeltern abzuholen. Bei der Abfahrt von zu Hause war der Zug noch als pünktlich ankommend gemeldet. Doch unterwegs muss es zu einem unvorhergesehenen Ereignis gekommen sein, das zu der massiven Verzögerung führte. Jetzt steht man im Bahnhof und hört die Durchsage.
Zwei Fragen stellen sich: „Wie reagiert man darauf?“ und „Was tun?“. Man hat ungeplant eine Stunde Zeit.
Die Reaktion fällt sehr wahrscheinlich ganz individuell und entsprechend den Persönlichkeitsmerkmalen aus. Das Spektrum reicht vom spontanen Wutanfall, verbunden mit wüsten Beschimpfungen und Verwünschungen des Bahnunternehmens und aller seiner Beschäftigten, bis hin zum fatalistischen stillen Hinnehmen und einem „in-sich-hineinfressen“ des Ärgers.
Was wird durch einen spontanen Wutanfall besser? Der Zug wird deshalb auch nicht früher ankommen. Auch das stille „in-sich-hineinfressen“ ändert an der Tatsache nichts.
Was tun mit und in der Stunde Wartezeit? Ist es eine verlorene Stunde oder ist es eine geschenkte Stunde? Beide Perspektiven sind möglich. Für welche entscheidet man sich?
Wie wertvoll ist Lebenszeit?
Die Lebenszeit eines jeden Menschen ist begrenzt – eine altbekannte Tatsache. Deshalb ist endliche Lebenszeit kostbar, etwas das nicht einfach so vergeudet werden sollte.
Ein kleines Rechenexempel bricht die Lebenszeit auf Sekunden herunter. Jedes Nicht-Schaltjahr hat etwa 31,5 Millionen Sekunden[1], jedes Schaltjahr etwa 31,6 Millionen Sekunden. Wenn der Einfachheit halber und beispielhaft von einer Lebenszeit von 80 Jahren ausgegangen wird, beträgt die Lebenszeit etwa 2,5 Milliarden Sekunden[2].
Natürlich brauchen wir Schlaf. Wenn von einer durchschnittlichen täglichen Schlafdauer von 7,5 Stunden ausgegangen wird, bleiben von diesen rund 2,5 Milliarden Sekunden in der Beispielrechnung noch rund 1,7 Milliarden Sekunden übrig, die bewusst erlebt werden können.
Diese eine Stunde entspricht 3600 Sekunden Lebenszeit. Als Prozentwert ausgedrückt sind es etwa 0,0000014 % der Lebenszeit. Wie wertvoll ist dieser Teil der Lebenszeit? Wenn Lebenszeit begrenzt ist, ist dann nicht jede Sekunde wertvoll?
Was ist Kairos-Zeit?
Im Griechischen gibt es – anders als im Deutschen – für Zeit zwei Begriffe: Chronos und Kairos. Chronos meint die quantitativ messbare Zeit, während Kairos die rechte Zeit bedeutet, die einzigartigen Momente, in denen einzigartige Dinge geschehen oder erreicht werden können. Kairos kann nicht gemessen werden. Es geht um die Qualität der Zeit.
Kairos-Zeit kann lose als Qualitätszeit verstanden werden. Es gibt allerdings bereits die aus dem Englischen Begriff „quality time“ und dessen Verständnis herrührende Assoziation mit Zeit, in der man seiner Familie, seinem Partner oder seinen Freunden besondere Aufmerksamkeit widmet. Diese Interpretation von Qualitätszeit greift allerdings zu kurz, denn sie berücksichtigt nicht die Zeit, die man damit verbringt, etwas seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn man sich beispielsweise seinem Hobby hingibt und sich während dieser Zeit nicht mit anderen Dingen befassen muss, wird auch dies als Qualitätszeit empfunden.
Selbst diese erweiterte Auffassung von Qualitätszeit wird noch nicht der Bedeutung von Kairos gerecht. Kairos verleiht der Zeit Tiefe. Kairos-Zeit bedeutet im Hier und Jetzt zu leben. Dies wiederum erfordert aufmerksam zu sein, denn jeder Moment ist wertvoll.
Doch Kairos bedeutet noch mehr. Kairos drückt auch aus, auf etwas zu warten, auf den Moment, wenn etwas reif ist. Wenn der rechte Zeitpunkt gekommen ist, fällt die Ernte leicht, fällt das Handeln leicht. Den Moment erkennen, bedeutet auch, die Gunst des Augenblicks zu nutzen, Verantwortung zu übernehmen, Dinge in die Hand zu nehmen.
Kairos-Zeit wirkt sich im Leben ganz praktisch aus. Aus Kairos-Momenten, wie beispielsweise dem anerkennenden Wort eines Freundes, das einen sehr berührt, kann man neue Energie schöpfen. Wenn man etwas besonders Eindrückliches erlebt, mag es einem so vorkommen als stünde die Zeit still. Es mag sogar sein, dass man die Zeit völlig vergisst. Vielleicht ergibt sich bei einer Wanderung ein grandioser Ausblick oder etwas ganz Kleines fasziniert. Von der Schönheit der Natur ist man ganz gefesselt und staunt aus tiefstem Herzen. Vielleicht ergibt sich unversehens eine spannende Unterhaltung. Oder vielleicht lächelt einen das eigene Kind zum ersten Mal an und es fließen Freudentränen. Es gibt so viele Möglichkeiten, das pure Leben in der Tiefe wahrzunehmen.
Verwundert es, wenn Kairos-Momente in lebendiger und positiver Erinnerung bleiben? Bis ans Lebensende wird man sie nicht vergessen. Die Erinnerung mag zwar verblassen, doch wirklich verloren geht sie nicht.
Wie drückt sich die individuelle Qualität der Zeit aus?
Jeder Mensch hat seine ganz individuellen Maßstäbe, was die Qualität der Zeit ausmacht. Diese Maßstäbe sind mit den persönlichen Werten verknüpft. Beispiele für persönliche Werte sind Authentizität, Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Gewaltlosigkeit, Mitgefühl, Nächstenliebe, Offenheit, Professionalität, Treue und Zuverlässigkeit.
Wenn persönliche Werte im täglichen Leben die Richtung vorgeben, wird damit auch das Qualitätsempfinden der Zeit bestimmt. Wenn einem beispielsweise Gewaltlosigkeit als persönlicher Wert wichtig ist, wird man sich kaum einen Thriller ansehen, in dem massenhaft gemordet wird. Oder wenn man Ehrlichkeit als persönlichen Wert gewählt hat, wird man seine Zeit kaum für betrügerische Handlungen einsetzen. Persönliche Werte helfen dabei, die verfügbare Zeit einzuteilen.
Ein hohes Maß an Qualität der Zeit wird dann empfunden, wenn sie im Einklang mit den persönlichen Werten verbracht bzw. gelebt wird. Auch die langjährige berufliche Tätigkeit kann diesen Ansprüchen genügen.
Auswählen ist unbedingt notwendig
Nahezu unüberschaubar Vieles konkurriert tagtäglich um unsere Aufmerksamkeit und damit auch um unsere wertvolle Lebenszeit. Da ist die Werbung, die auf Produkte und Dienstleitungen aufmerksam machen will, an denen man aber überhaupt kein Interesse hat. Da sind die Artikel im Internet, die vorgeben, wichtige Informationen und Erkenntnisse zu bieten. Beim Lesen stellt man jedoch fest, dass der jeweilige Inhalt bei weitem nicht das hält, was die reißerische Überschrift verspricht, und nur einen geringen oder gar überhaupt keinen Mehrwert bietet. In Wirklichkeit ist das sogenannte „Clickbaiting[3]“ das Motiv hinter der Veröffentlichung inhaltlich (äußerst) dürftiger Artikel. Es geht darum, Neugierde zu wecken und Nutzer dazu zu bewegen, Artikel anzuklicken. Und da sind die sozialen Medien mit den vielen Chats und mit Themen, die einen persönlich nicht interessieren.
Alles was um unsere wertvolle Lebenszeit buhlt, kann sich als Zeiträuber entpuppen. Wenn man dem Reiz oder der Versuchung nachgibt, die Zeit aber letztlich nicht im Einklang mit den persönlichen Qualitätsmaßstäben einsetzt, vergeudet man in der Konsequenz wertvolle Lebenszeit. Kairos-Zeit wird man nicht erleben.
Geht es ohne konsequentes Auswählen wofür man seine wertvolle Lebenszeit einsetzt? Wohl kaum. Auswählen bedeutet auch sich zu beschränken. Doch das Auswählen und Beschränken lohnt sich. Wenn man am Ende eines Tages reflektiert, was an diesem Tag alles geschehen ist und womit man sich beschäftigt hat, wird man unwillkürlich ein persönliches Fazit ziehen. Es kann lauten: „Ich habe meine Zeit gut eingesetzt und ich habe Kairos-Zeiten oder zumindest Kairos-Momente erlebt.“ Es kann aber auch lauten: „Ich habe kostbare Lebenszeit verplempert.“
Leider ist es nicht möglich, einen Tag zu wiederholen. Es gibt keinen zweiten Versuch. Doch man kann sich vornehmen, es am nächsten Tag besser zu machen.
Was könnte man aus dieser einen Stunde machen?
Jetzt hat man ungeplant eine Stunde Zeit. Wie kann man sie nutzen? Höchstwahrscheinlich fällt einem vieles ein, was man alles tun könnte oder müsste, wenn man nicht gerade am Bahnhof wäre. „Ich könnte … anrufen, aber die Unterlagen sind zu Hause“ oder „Ich müsste … besorgen, aber hier kann ich das nicht“ stehen beispielhaft für zu Erledigendes.
Angenommen, man hat diese eine Stunde zur Verfügung. Dann gilt es, etwas mit ihr anzufangen, sie aktiv zu gestalten.
Kairos-Zeit gibt dem Leben, wie bereits angedeutet, mehr Tiefe. Das Leben können wir nicht wirklich verlängern – wir können es aber vertiefen. Martin Buber, Religionsphilosoph, Pädagoge und Schriftsteller, formulierte es so: „Du kannst dein Leben nicht verlängern, nur vertiefen, nicht dem Leben mehr Jahre, sondern den Jahren mehr Leben geben.“
Wie also könnte man, Martin Bubers Gedanken folgend, das Leben in dieser einen Stunde am Bahnhof vertiefen? Wie könnte man in dieser einen Stunde Kairos-Momente erleben?
Der erste Schritt besteht sicherlich darin, sich selbst für Kairos-Momente zu öffnen. Die Folgen: negativen Gefühlen wie Ärger oder Wut wird kein Raum (mehr) gegeben und man lässt sich auf das Hier und Jetzt ein. Man macht sich bewusst, dass Ärger oder Wut an der Situation, der Verspätung, nichts ändern. Und man entscheidet sich auch dafür, die Wartezeit nicht einfach nur irgendwie totzuschlagen, sondern sie zu gestalten. Man nimmt die Zeit als geschenkte Zeit und nicht als verlorene Zeit wahr.
Der zweite Schritt besteht darin, sich über Möglichkeiten zu freuen. Welche Möglichkeiten dies konkret sind oder sein werden, ist noch nicht bekannt. Vielleicht kommt man mit anderen Menschen ins Gespräch und vielleicht bekommt man dadurch sogar unerwartet einen anregenden und bereichernden Impuls für das eigene Leben. Vielleicht geschieht auch nichts Besonderes. In jedem Fall wird man aufmerksam sein, beobachten, Eindrücke aufnehmen.
Offenheit wirkt sich unweigerlich auf die eigene Ausstrahlung aus: „Was du denkst, das bist und fühlst du. Was du bist und fühlst, das strahlst du aus. Was du ausstrahlst, ziehst du an …“. Kann es sein, dass man mit einer positiven Ausstrahlung nicht anziehend auf andere Menschen wirkt?
Man kann während dieser Zeit beispielsweise auch an jemand denken, zu dem eine positive emotionale Beziehung besteht. Wahrscheinlich erinnert man sich dabei an schöne gemeinsame Begegnungen. Und vielleicht entschließt man sich dazu, über ein soziales Netzwerk einen kurzen Gruß zu schicken. Es gibt vielfältige Möglichkeiten, mehr qualitativ hochwertige Zeit zu erleben.
Mehr qualitativ hochwertige Zeit erleben
Das ganze Leben Kairos-Zeit? Schön wär’s! Nie Kairos-Zeit? Das wäre schlimm! Dann wäre man auf eine Art Bio-Maschine reduziert.
Die Lebenswirklichkeit liegt irgendwo dazwischen. Doch was man in einer Stunde an Kairos-Momenten erleben kann, wenn man sich öffnet, lässt sich auf das weitere Leben übertragen. Der Blick wandert von den 3600 Sekunden zu der unbekannten Zahl von Sekunden, die einem noch bleiben.
Die Herausforderungen des Lebens verstellen immer wieder den Blick auf die Chance, mehr qualitativ hochwertige Zeit zu erleben. Negative Gefühle, insbesondere Ärger und Wut, ändern jedoch nichts an einer Situation (siehe auch „In jeder Minute, die du im Ärger verbringst, versäumst Du 60 glückliche Sekunden Deines Lebens.“). Ist es dann nicht besser, Zeit als ein Geschenk zu verstehen, mit dem man aktiv gestaltend umgehen kann?
Es ist jedem Menschen möglich, das Leben mit mehr Kairos-Zeit zu füllen, mehr qualitativ hochwertige Zeit zu erleben. Es geschieht allerdings nicht von selbst.
[1] 365 Tage * 24 Stunden = 8760 Stunden * 60 Minuten = 525 600 Minuten * 60 Sekunden = 31 536 000 Sekunden. Ein (kalendarisches) Schaltjahr mit 366 Tagen hat 31 622 400 Sekunden.
[2] 80 Lebensjahre * 31 536 000 Sekunden = 2 522 880 000 Sekunden (Schaltjahre bleiben der Einfachheit halber unberücksichtigt).
[3] Mit „Clickbaiting“ wird versucht, mit reißerischen Phrasen und Überschriften Klicks zu sammeln, um die Anzahl der Seitenaufrufe und damit auch die Werbeeinnahmen für das Unternehmen zu erhöhen.