Du kannst dein Leben nicht verlängern, nur vertiefen …Lesezeit: 9 Min.

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„Du kannst dein Leben nicht verlängern, nur vertiefen, nicht dem Leben mehr Jahre, sondern den Jahren mehr Leben geben.“

Martin Buber
Du kannst dein Leben nicht verlängern, M. Buber - Gestaltung: privat
Gestaltung: privat

Martin Buber (1878-1965) war ein österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph, Pädagoge und Schriftsteller. Sein besonderes Anliegen war es, dem Dialog zum Durchbruch zu verhelfen, sowohl in persönlichen zwischenmenschlichen Beziehungen als auch im politischen, sozialen und religiösen Bereich. Seinen Ausdruck fand dies vor allem im Bemühen um den Dialog mit dem Christentum, den Dialog zwischen den Generationen und der Verständigung zwischen Israelis und Arabern. Er ist Autor zahlreicher Bücher.

Den Jahren mehr Leben geben – aber wie?

Anton hatte das hohe Alter von 108 Jahren erreicht. In Tage umgerechnet hatte er rund 39 000 Tage gelebt. Und auf Stunden bezogen kamen über 940 000 Stunden an Lebenszeit zusammen. Eine ganze Menge. Über 940 000 wertvolle Stunden.

Ein derart hohes Lebensalter ist auch heute noch die absolute Ausnahme. Manche Menschen sterben auch schon in jungen Jahren. Das Leben ist nicht kalkulierbar, es hängt am sprichwörtlichen seidenen Faden. Zwar kann man versuchen, beispielsweise durch eine gesunde Lebensweise, möglichst viele Lebensjahre zu erleben, eine Gewähr gibt es jedoch nicht. Niemand hat die absolute Kontrolle über seine Lebensdauer.

Im Lauf der Geschichte verlängerte sich die durchschnittliche Lebensdauer durchaus. Um das Jahr 1900 konnte in Deutschland ein Mann, der das 40. Lebensjahr erreicht hatte, damit rechnen, auf ein Lebensalter von 66 Jahren zu kommen. Frauen konnten ein um etwa drei Jahre längeres Leben erwarten. Das Renteneintrittsalter der 1889 in Kraft getretenen Invaliditäts- und Altersversicherung war damals mit 70 Jahren festgelegt. Nur rund fünf Prozent der deutschen Bevölkerung erreichten es. Ein Leben als Rentner oder Pensionär, so wie es heute als nahezu selbstverständlich angesehen wird, gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht.

Trotz vieler Fortschritte im Bereich der Medizin, der Ernährungswissenschaft usw. bleibt der rechnerische Zuwachs an Lebenszeit als biologischen Gründen begrenzt. Die Grundaussage, dass sich das Leben nicht verlängern lässt, gilt nach wie vor.

Wie kann man dann dem Leben mehr Leben geben? Sollte man so viel wie nur irgend möglich in jede Stunde hineinpacken? Oder sollte man eher auf den Aspekt der Lebensqualität schauen? Mit anderen Worten: Soll es eher um Quantität oder um Qualität gehen? Und möchte man eher spontan sein und die Gunst der Stunde nutzen oder legt man eher Wert auf ein geplantes Leben?

Die Erlebnismenge im Blick

Vielleicht hat man dergestalt einen Plan für sein Leben, dass man möglichst viel in sein Leben packen möchte. Und vielleicht hat man sich schon so eine Art Bucket List zusammengestellt, auf der die ganzen Lebensträume aufgeführt sind. Zum Thema „Bucket List“ gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Büchern, so z.B. „101 Dinge, die man getan haben sollte, bevor das Leben vorbei ist“.

Einige Menschen haben ihre persönliche Bucket List im Internet veröffentlicht. Da ist dann beispielsweise zu lesen, dass jemand mit der Transsibirischen Eisenbahn reisen möchte, jemand anderes möchte Karneval in Rio feiern, und wieder jemand anderes möchte in Bolivien eine Mountainbike-Tour auf der „gefährlichsten Straße der Welt“ unternehmen. Fantasie und Wünsche kennen (fast) keine Grenzen.

Mit einer Bucket List wird das Leben gewissenmaßen zur To do-Liste. Die Lebensplanung richtet sich an dieser To do-Liste aus. Zumindest könnte es sich so entwickeln. Was man erreicht habt, kann abgehakt werden. Dann wendet man sich einem anderen Punkt auf der Liste zu. Irgendwann ist dann die Liste vollständig abgearbeitet, oder vielleicht auch nicht. Es kann ja sein, dass man seine Liste nicht ganz schafft.

Wird man zum Gefangenen?

Die Gefahr, dass man zum Gefangenen seiner Vorhaben und Pläne – vielleicht in Form einer Bucket List – wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Vielleicht hat man schon zu viele Wünsche auf seine Bucket List gesetzt. Wenn man sich selbst zu sehr unter Druck setzt, gerät man sich selbst gegenüber in Erklärungsnot, wenn man etwas nicht schafft. Man wird enttäuscht sein.

Wie beurteilt man sein Leben, wenn man noch die Möglichkeit hat, es gewissermaßen aus der Vogelperspektive zu resümieren? Angenommen, auf einer Liste stünden 50 Lebenswünsche. Und angenommen, man hätte es am Ende seines Lebens geschafft, 41 von 50 Lebenswünschen zu erfüllen. Hieße dies dann, dass das Leben zu 82% erfüllt gewesen wäre? Diese Vorstellung wäre sicherlich absurd!

Wie weit lässt man sich von seinen Wünschen bestimmen? Macht man sich tatsächlich zu einem Gefangenen seiner Wünsche?

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Wird man am Ende erfüllt und glücklich sein?

Ist man am Ende wirklich erfüllt und glücklich, wenn man auf seine abgearbeitete Liste schaut? Sicherlich wird man sich erfüllt und glücklich fühlen, wenn man sich die Gefühle in Erinnerung ruft, die man bei seinen Erlebnissen hatte. Da ist vielleicht dieses einzigartige und nie mehr so erlebbare Gefühl bei der Abfahrt mit dem Rad auf der gefährlichsten Straße der Welt. Ja, man hat es erlebt! Und jedes Mal, wenn man sich daran erinnert, wird vor dem inneren Auge alles wieder ganz lebendig.

Doch erfüllte auch jeder abgehakte Punkt auf der Liste die Erwartungen? Wurde die Vorfreude bestätigt oder doch eher enttäuscht? Vielleicht konnte man zwar einen Punkt abhaken, aber etwas Wesentliches hat nicht gepasst. Vielleicht hatte man einfach mehr erwartet. Im Prospekt sah alles so super aus. Möglicherweise spielte das Wetter nicht mit. Oder man war mit anderen unterwegs und in der Gruppe gab es Streit.

Die Lebensqualität im Blick

Betrachtet man das Leben eher unter einem „Qualitätsaspekt“, spielt die Quantität der Erlebnisse eine untergeordnete Rolle. Dann geht es nicht um ein „je-mehr-desto-besser“, sondern mehr um den Aspekt der Erlebnistiefe.

Lebensqualität lässt sich objektiv nach Kriterien messen, beispielsweise der Grad der Lebensqualität in einer bestimmten Stadt, gemessen an Verkehrsnetz, Kultur- und Bildungseinrichtungen usw. Doch Lebensqualität hat auch eine ganz individuelle Note. Die subjektiven Merkmale der Lebensqualität, wie beispielsweise Zufriedenheit, gute zwischenmenschliche Beziehungen usw., entziehen sich jedoch einem Schema. Die subjektiv empfundene Lebensqualität orientiert sich an den eigenen Werten (z. B.  Zuverlässigkeit, Freundschaft, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit) und in welchem Umfang diese gelebt werden.

„Was bedeutet für mich Lebensqualität?“, wäre eine Ausgangsfrage, die einen dazu hinleiten kann, den Jahren qualitativ mehr Leben zu geben. Lebensqualität ist dann auch keine Momentaufnahme, sondern verbindet sich mit den Aspekten Dauerhaftigkeit und Nachhaltigkeit.

Den Jahren mehr Leben zu geben könnte beispielsweise darin bestehen, Zeit in die Pflege bereichernder zwischenmenschlicher Beziehungen zu investieren. Man investiert etwas, aber man bekommt auch etwas zurück. Man erlebt beispielsweise, dass einem mit der Zeit immer mehr Vertrauen, etwas Kostbares, geschenkt wird. Und dadurch fühlt man sich auch von anderen wertgeschätzt.

Eine gesunde Balance finden

Was könnte geschehen, wenn man Quantität den Vorrang vor Qualität gibt, notorisch und nachhaltig? Dann reiht man ein Erlebnis an das andere, verliert aber vielleicht den Bezug und die innere Bindung zu seinen Mitmenschen. Möglicherweise würde man sich sogar selbst irgendwann in die Erschöpfung führen, denn man muss im Grunde ja ständig aktiv sein.

Was könnte andererseits geschehen, wenn man Qualität überbetont? Könnte es sein, dass man sich dann zu sehr auf jemand oder etwas einlässt? Vielleicht verliert man sogar den Kontakt zu sich selbst, „sieht“ sich selbst nicht mehr. Man pflegt eine Art „Schwarz-/Weiß-Denken“. Qualitativ gut ist etwas nur dann, wenn die 100 % erreicht sind. Ist dies nicht so, ist es „schlecht“. Übersteigertes Qualitätsbestreben führt letztlich zu Unzufriedenheit. Wenn etwas nicht so (geworden) ist, wie es sein soll, ist Unzufriedenheit eine natürliche Konsequenz.

Sind Quantität und Qualität wirklich zwei Gegenpole? Und muss man für sein Leben eine Grundsatzentscheidung treffen, die dann für alle Zukunft gilt? Schließlich kann man sich auch nicht gleichzeitig in der Arktis und der Antarktis aufhalten. Oder ist es besser, gedanklich einen Schritt zurückzutreten und sich auf das zu konzentrieren, was im Hier und Jetzt ansteht und möglich ist?

Gutes und Sinnvolles tun – ganz praktisch

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Dem Leben Tiefe geben

Im Griechischen gibt es für Zeit zwei unterschiedliche Begriffe: „Chronos“ bezeichnet die Zeit, die man messen kann, während „Kairos“ die qualitativ gefüllte Zeit meint. Kairos kann nicht gemessen werden. Es geht um die Qualität der Zeit und auch darum, das Richtige zur rechten Zeit zu tun.

Kairos verleiht der Zeit Tiefe. Kairos-Zeit bedeutet im Jetzt zu leben. Was bedeutet es dann, sich für Kairos-Momente aufzuschließen? Es bedeutet, achtsam zu sein. Und es kann auch bedeuten, auf etwas zu warten, auf den Moment, wenn etwas reif ist. Wenn der rechte Zeitpunkt gekommen ist, fällt das Handeln leicht und Dinge fügen sich. Wenn man beispielsweise Samen zur falschen Zeit ausstreut, war man zwar aktiv, aber das gewünschte Ergebnis wird sich nicht einstellen. Man hätte das Ausstreuen genauso gut auch lassen können.

Im Jetzt zu leben, bedeutet auch, das „Sein“ zu erleben. Man kann beispielsweise einen Himbeerstrauch auf ganz unterschiedliche Art und Weise einpflanzen. Zum einen kann man danach streben, die Arbeit möglichst schnell zu erledigen. Man schaut auf die Leistung, gräbt ein Loch und setzt die Pflanze ein. Fertig, das war’s! Zum anderen kann man darauf achten, möglichst alles richtig zu machen. Man schaut auf die Qualität der Arbeit. Das Loch muss die richtige Größe haben, der richtige Dünger muss zugegeben werden usw. Wenn man alles richtig gemacht hat, ist es gut.

Zum Dritten kann man auch auf das schauen, was man gerade mit allen seinen Sinnen erlebt. Man nimmt bewusst die Beschaffenheit der Erde wahr, wie die Blätter aussehen und wie sie sich anfühlen, wie sich die Sonnenstrahlung auf der Haut anfühlt, wie man den Wurzelballen in die Erde setzt usw. Man lebt in der Zeit, aber diese Art der Zeit entzieht sich der Messbarkeit. Und das Leben gewinnt an Tiefe. Weder mit einem Leistungsdenken noch einem Qualitätsdenken wäre diese Tiefe erlebbar gewesen.

Jede(r) muss für sich selbst herausfinden, wie Kairos-Zeit erlebt werden kann. Eine allgemeingültige Anleitung gibt es leider nicht. Aber es lohnt sich ungemein, sich auf den Weg des Entdeckens zu machen und seinem Leben Tiefe zu geben, sein Leben mit Kairos-Zeit anzureichern.

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Ich bin Dieter Jenz, Begleiter, Berater und Coach mit Leidenschaft. Über viele Jahre hinweg habe ich einen reichen Schatz an Kompetenz und Erfahrung erworben. Meine Themen sind die "4L": Lebensaufgabe, Lebensplanung, Lebensnavigation und Lebensqualität.