Wie ist die Verifikation der EIS-Hypothese (siehe „Hypothese: Das individuelle Selbst befindet sich nicht im Gehirn“) möglich? Welchen Beitrag kann die Analyse der terminalen Geistesklarheit bei der Verifikation leisten?
Inhalte:
Dieser Beitrag ist Teil der Serie „Was geschieht mit mir wenn ich sterbe?“
Grobes Inhaltsverzeichnis
Als terminale Geistesklarheit (siehe auch „Terminale Geistesklarheit – Was verbirgt sich dahinter?“) wird, wie bereits erwähnt, eine Episode mit Prozess und Zustand einer spontanen und unerwarteten Rückkehr geistiger Klarheit und Erinnerung bei Menschen mit schweren psychischen oder neurologischen Erkrankungen relativ kurz vor ihrem physischen Tod verstanden. Hirnströme sind messbar, jedoch sind, je nach Krankheitsbild, Hirnbereiche schwer geschädigt.
Phasen terminaler Geistesklarheit werden im Verhältnis zur Häufigkeit der Beobachtung entsprechender Krankheitsbilder nur bei äußerst wenigen Menschen wahrgenommen. Zumindest wurden weltweit lediglich eine dreistellige Anzahl von Fällen dokumentiert. Relativ häufig wurden Phasen terminaler Geistesklarheit im Zusammenhang mit Sterbebettvisionen (siehe auch „Was sind Sterbebettvisionen und wie werden sie erlebt?“) berichtet.
Abgrenzungen und Erklärungstypen
Prinzipiell sind zwei Erklärungstypen für eine terminale Geistesklarheit denkbar. Der erste Erklärungstyp betrachtet eine terminale Geistesklarheit als Ergebnis biochemischer Prozesse, die eine Funktionsstörung im Gehirn beseitigen. Der zweite Erklärungstyp schließt biochemische Prozesse aus.
Erster Erklärungstyp
Für den ersten Erklärungstyp kommen insbesondere Erkrankungen infrage, die nicht mit irreversiblen Schädigungen von Hirnbereichen verbunden sind. Dazu zählen insbesondere psychische Störungen. Durch geeignete Therapien kann es möglich werden, dass Betroffene wieder zu geistiger Klarheit gelangen. Die Therapie der progressiven Paralyse im Zusammenhang mit Syphilis vor der erfolgreichen Einführung von Antibiotika (ab etwa 1940) mag als Beispiel dienen.
Der Psychiater Julius Wagner-Jauregg (1857-1940) beobachtete, dass bei von Syphilis, einer Geschlechtskrankheit, betroffenen Patienten im fortgeschrittenen Stadium durch Fieberschübe eine deutliche positive Veränderung hinsichtlich der Symptome der progressiven Paralyse (psychotische Symptome, wie beispielsweise Wahn, Persönlichkeitsstörungen und eine fortschreitende Demenz) erzielt werden konnte. Um Fieberschübe gezielt hervorzurufen, infizierte er Patienten im Anfangsstadium der Erkrankung gezielt mit bestimmten Malaria-Erregern. Für diese Malaria-Therapie, die oft eine deutliche Besserung der geistigen Verwirrtheit und Demenz und in manchen Fällen sogar eine Heilung bewirken konnte, erhielt er 1927 den Nobelpreis für Medizin.
Durch biochemische Prozesse bewirkte Zustandsverbesserungen stehen nicht unbedingt oder unmittelbar im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Lebensende. Viele Erkrankungen werden, als Beispiel, mit Antibiotika behandelt, die biochemische Prozesse gewissermaßen anstoßen. Gleichwohl kann durch derartige Prozesse kurz vor dem Tod auch eine Phase terminaler Geistesklarheit bewirkt werden.
Zweiter Erklärungstyp
Der zweite Erklärungstyp bezieht sich auf Erkrankungen, die mit bereits eingetretenen irreversiblen Schädigungen von Hirnbereichen verbunden sind. Biochemische Prozesse, insbesondere durch geeignete Medikamente induziert, können keine oder nur eine geringfügige Zustandsverbesserung bewirken. Allerdings ist es bei manchen Krankheitsbildern (beispielsweise Schlaganfall) durch anhaltendes Training möglich, dass andere Gehirnregionen bestimmte Aufgaben übernehmen, um Funktionsverluste auszugleichen. Darüber hinaus können sich, bedingt durch neuronale Plastizität, Nervenzellen in bestimmten Bereichen so verändern, dass sie neue Funktionen übernehmen können.
Schwerwiegende und irreversible Schädigungen von Hirnbereichen können sehr unterschiedliche Ursachen haben. Zu den heute am häufigsten auftretenden Krankheitsbildern mit neurologischen Beeinträchtigungen zählt die Demenz. Bedingt durch das Absterben von Nervenzellen im Gehirn können Fähigkeiten, wie beispielsweise Lernen, Planen, Sprache, Erkennen, Orientierung und Gedächtnis – allesamt kognitive Fähigkeiten – im Verlauf der Erkrankung zunehmend beeinträchtigt sein. Gleiches gilt auch für emotionale und soziale Fähigkeiten. Zu Beginn der Erkrankung sind häufig Kurzzeitgedächtnis und Merkfähigkeit gestört. Später gehen auch bereits eingeprägte Inhalte des Langzeitgedächtnisses verloren.
Vor diesem Hintergrund irreversibler Schädigungen von Hirnbereichen stellt sich die Frage, wie es möglich sein kann, dass Betroffene überhaupt eine Phase terminaler Geistesklarheit erleben können. Obwohl Nervenzellen im Gehirn bereits abgestorben sind, werden kognitive, emotionale und soziale Fähigkeiten für eine gewisse Zeit wiederlangt. Auch das Gedächtnis scheint (wieder) intakt. Mit dem Ende der Phase terminaler Geistesklarheit fallen Betroffene dann jedoch wieder in den vorherigen Zustand zurück und sterben in der Regel bald danach.
Szenario einer Phase terminaler Geistesklarheit
Dieses Szenario geht davon aus, dass Hirnregionen nicht entwickelt sind. Es lässt sich aber genauso anwenden, wenn Hirnregionen durch ein schwerwiegendes Ereignis, beispielsweise einen schweren Unfall mit Hirnverletzung, irreversibel geschädigt werden.
In diesem Szenario wird ein Mensch – sein Name sei Helmut – mit einer schweren geistigen Behinderung geboren und muss dauerhaft in einem Heim leben (wie im bereits geschilderten Fall der geistig behinderten Käthe, siehe „Terminale Geistesklarheit – Was verbirgt sich dahinter?“). Helmut ist nach allen medizinischen Diagnosen und Einschätzungen nicht in der Lage, am normalen Leben teilzunehmen. Da er nicht sprechen lernte, kann er sich auch nicht verständlich artikulieren. Untersuchungen seines Gehirns mit bildgebenden Verfahren, wie beispielsweise Magnetresonanztomographie (MRT), ergaben, dass sein Gehirn schwer geschädigt ist. Nach Einschätzung des medizinischen Fachpersonals wird er nie dazu fähig sein, ein selbstständiges Leben zu führen.
Nach Jahren im Heim erlebt Helmut für alle überraschend eine Phase terminaler Geistesklarheit. Plötzlich wird erkennbar, dass Helmut in allen Jahren dennoch in irgendeiner Weise am Leben teilgenommen haben musste. Plötzlich kann Helmut verständlich sprechen und er kann etwas wiedergeben, was er offenkundig in seiner Umgebung wahrnahm. Er kann es sogar in den Kontext einordnen. Es geht um seinen eigenen Tod, der für das medizinische Fachpersonal nicht absehbar zu sein schien, aber jetzt unmittelbar bevorsteht. Kurz nach dieser Phase terminaler Geistesklarheit stirbt Helmut.
„Technische“ Betrachtung
Wie ist es möglich, dass Helmut unmittelbar vor seinem Tod zu etwas in der Lage war, was in der ganzen Zeit seit seiner Geburt nie beobachtet werden konnte? Rein „technisch“ betrachtet wäre davon auszugehen, dass Helmut ein externes individuelles Selbst haben musste. Dieses musste sich irgendwann vor oder nach seiner Geburt entwickelt haben. Es konnte alles wahrnehmen und im Gedächtnis registrieren, was in Helmuts Leben geschah. Sein physisches Gehirn war jedoch aufgrund der neurologischen Beeinträchtigungen dazu nicht fähig. Darüber hinaus war es auch nicht dazu fähig, es Helmut zu ermöglichen, mögliche Wahrnehmungen und Empfindungen in verständlicher Sprache auszudrücken.
Unweigerlich stellt sich die Frage, wie Helmut plötzlich Fähigkeiten erlangen konnte, die aufgrund des Zustands seines Gehirns nicht mehr für möglich erachtet wurden. Gab es eine Art „Umschaltvorgang“ auf das externe individuelle Selbst? Falls ja, wie könnte dieser Umschaltvorgang initiiert worden sein?
Interner Stimulus
Zur selbstinitiierten Einleitung des „Umschaltvorgangs“ hätte Helmut wissen müssen, dass sein Tod relativ nahe bevorsteht. Allerdings stellt sich die Frage, wie er dieses Wissen hätte erlangen können. Jedenfalls hätte er dann mit diesem Wissen als Stimulus – so wäre es theoretisch denkbar – auf sein externes individuelles Selbst umschalten können. Anschließend wäre es ihm möglich gewesen, auf früher Wahrgenommenes und Erlebtes zurückzugreifen und es wiederzugeben. Doch wie konnte er sich plötzlich trotz der neurologischen Beeinträchtigungen verständlich artikulieren? Diese Frage muss ungeklärt bleiben.
Externer Stimulus
Alternativ ist vorstellbar, dass Helmuts nicht an Raum und Zeit gebundenes externes individuelles Selbst seinen Todeszeitpunkt bereits kannte. Es sendete Helmuts Gehirn ein Signal als Stimulus, der die Phase terminaler Geistesklarheit einleitete. Daraufhin konnten Gedächtnisinhalte des externen individuellen Selbst abgerufen werden. Somit konnte Helmut wiedergeben, was während seiner Krankheitszeit wahrgenommen und erlebt wurde.
Allerdings muss auch hier die Frage unbeantwortet bleiben, wie Helmut trotz der neurologischen Beeinträchtigungen verständlich sprechen konnte. Eine rationale Erklärung für dieses Phänomen liegt außer Reichweite.
Konsequenzen der Gegenposition
Trotz der verhältnismäßig geringen Zahl anekdotischer Schilderungen von Fällen terminaler Geistesklarheit darf dieses Phänomen nicht als bedeutungslos deklariert werden. Schließlich wurden einige dieser Fälle von medizinischem Fachpersonal berichtet. Die berichtenden Personen gingen bewusst das Risiko ein, der Phantasterei bezichtigt zu werden.
Eine zumindest in Ansätzen plausible Erklärung setzt ein externes individuelles Selbst voraus. Wird diese Prämisse abgelehnt, müssen alle der folgenden Fragen überzeugend und plausibel beantwortet werden:
- Wie ist es möglich, dass eine Phase terminaler Geistesklarheit im direkten zeitlichen Zusammenhang mit dem bevorstehenden Tod steht?
- Woher kommt das Signal, das die Phase terminaler Geistesklarheit einleitet? Und woher kommt das Signal, das diese Phase beendet?
- Wie ist es möglich, dass das neurologisch irreversibel geschädigte Gehirn nach längerer Zeit wahrgenommener Dysfunktionalität, die sich auch auf medizinische Befunde stützt, plötzlich und vorübergehend wieder annähernd normal „funktioniert“?
- Wie ist die Erinnerung an Erlebnisse und Ereignisse möglich, die während der Zeit der Funktionsstörung des Gehirns stattgefunden haben?
Folgerungen
Das Phänomen der terminalen Geistesklarheit fordert, wenn bereits irreversible Schädigungen von Hirnbereichen eingetreten sind, eine plausible Erklärung, wie beispielsweise Gedächtnisinhalte abgerufen werden und sich Betroffene wieder an ihr Leben erinnern können. Des Weiteren stellt sich die Frage, wie ein betroffener Mensch plötzlich wieder sprechen kann, nachdem die Sprechfähigkeit bereits als verloren galt.
Das mit der EIS-Hypothese postulierte externe individuelle Selbst ist von der irreversiblen Schädigung eines oder mehrerer Hirnbereiche nicht betroffen. Es wäre denkbar, dass aktuelle Wahrnehmungen und Gedächtnisinhalte gewissermaßen per Direktübertragung aus dem externen individuellen Selbst gespeist werden. Das physische Gehirn übernimmt als Dienstleister die Funktionen, die ihm noch möglich sind.
Berichten zufolge kann die Sprechfähigkeit während einer Phase terminaler Geistesklarheit temporär wiedererlangt werden. Unter der Voraussetzung, dass die dazu erforderlichen Hirnregionen nicht irreversibel geschädigt sind, kann angenommen werden, dass ein Impuls des externen individuellen Selbst erfolgt. Dieser Impuls würde dafür sorgen, dass eine betroffene Person nach langer Zeit des Schweigens plötzlich wieder sprechen kann.
In der Gesamtschau lässt die EIS-Hypothese deutlich weniger Fragen offen als wenn von einem lokalen (internen) individuellen Selbst ausgegangen wird. Offensichtliche Gründe, die eine Falsifizierung der EIS-Hypothese im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit terminaler Geistesklarheit erzwingen, sind nicht erkennbar. Vertretern der Gegenposition kommt jedenfalls die Aufgabe zu, schlüssig und überzeugend darzulegen, wie das Phänomen der terminalen Geistesklarheit sonst zu erklären ist.