Die persönliche Lebensaufgabe erkennen – kann man einen Erkenntnisblitz erwarten oder erschließt sich die Lebensaufgabe in einem Erkennungsprozess?
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Was ist unter einer Lebensaufgabe zu verstehen?
Wie der Begriff schon andeutet, handelt es sich um eine Aufgabe, der eine Person ihr ganzes Leben oder zumindest einen bedeutenden Teil ihrer Lebenszeit widmet. Dieser Person ist die Lebensaufgabe so wichtig, dass sie über mehrere Jahre hinweg kostbare Lebenszeit dafür einsetzt.
Kann man eine Lebensaufgabe bewältigen im Sinne von erledigen? Oder ist es eher ein sich der Aufgabe hingeben?
Wenn es primär um das Erledigen ginge, wäre die Lebensaufgabe mit der Fertigmeldung abgeschlossen. Mögliche Beispiele wären:
- das Schreiben eines Sachbuchs zu einem sehr komplexen Thema, das bisher noch nicht hinreichend bearbeitet wurde,
- das Erfinden eines Impfstoffs für eine bestimmte Krankheit, oder
- das Entwickeln eines neuen Verfahrens, um im Sommer über eine Photovoltaik-Anlage „geernteten“ Strom über mehrere Monate hinweg für den Verbrauch im Winter zu speichern.
Was kommt danach, wenn die Lebensaufgabe erledigt ist? Würde sich eine neue, weitere Lebensaufgabe anschließen?
Steht demgegenüber die Hingabe an eine Lebensaufgabe im Mittelpunkt, wird von Vornherein nicht davon ausgegangen, dass die Aufgabe jemals erledigt oder abgeschlossen sein wird. Es handelt sich vielmehr um eine Art Daueraufgabe. Mögliche Beispiele wären:
- die kostenlose medizinische Behandlung von Menschen in einem Drittweltland, die die Behandlungskosten nicht selbst aufbringen können – es wird (leider) immer arme Menschen geben,
- das ehrenamtliche Engagement, damit sich die Lebensbedingungen benachteiligter Kinder und Familien verbessern – es wird (leider) immer benachteiligte Kinder und Familien geben, oder
- die Übernahme der Lebensaufgabe von einer anderen Person, die beispielsweise aus Altersgründen nicht mehr in der Lage ist, sich der Aufgabe weiterhin zu widmen (dabei wird implizit vorausgesetzt, dass sich die Lebensaufgaben weitestgehend decken).
In einer Lebensaufgabe stecken in jedem Fall „Herzblut“ und emotionale Bindung. Gäbe es die Lebensaufgabe nicht, würde der Person im Leben etwas Wesentliches fehlen.
Muss man eine Lebensaufgabe haben?
Wenn davon ausgegangen wird, dass jeder Mensch zu etwas berufen ist, stellt sich die Frage, wie er mit seiner individuellen Berufung umgeht. Im Begriff „Berufung“ steckt „Ruf“. Berufung steht für eine Art innerer Antrieb, der einen Menschen zur Übernahme einer bestimmten Aufgabe bewegt. Dabei kann es sich um eine Lebensaufgabe handeln, jedoch ist dies nicht Bedingung. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich, dass Berufung und Lebensaufgabe nicht dasselbe sind.
In der Konsequenz ist die Lebensaufgabe eine Konkretisierung der individuellen Berufung, die praktische Anwendung dieser Berufung im Leben. Wird der Berufung gefolgt und in Form der Lebensaufgabe umgesetzt, erhält das Leben eine klare Richtung und Struktur. Man weiß genau, was man möchte und was man nicht (mehr) möchte.
Eine Person kann durchaus ihre individuelle Berufung kennen, folgt ihr jedoch nicht. Die Berufung bleibt dann ohne Auswirkung auf das persönliche Leben. Es ist eine individuelle Entscheidung, ob und wie die individuelle Berufung ausgelebt wird.
Muss man eine Lebensaufgabe haben? Sicherlich nicht! Aber es ist gut, seine individuelle Berufung zu kennen und sie mit einer Lebensaufgabe praktisch werden zu lassen. Die Lebensaufgabe prägt und erfüllt das Leben.
Wie kommt man zu seiner Lebensaufgabe?
Drängt sich die Lebensaufgabe auf, kommt gewissermaßen wie „aus heiterem Himmel“ per Erkenntnisblitz auf einen zu? Hat man dann keine Wahl mehr und muss sie annehmen? Oder ist es in Gegensatz dazu jedem Menschen freigestellt, sich eine Lebensaufgabe zu suchen?
Der Erkenntnisblitz – und die Folgen
Der Erkenntnisblitz schlägt urplötzlich und völlig unerwartet ein. Er stellt die persönliche Lebensaufgabe glasklar und über jeden Zweifel erhaben vor Augen. Man hat sich vielleicht noch überhaupt nicht auf den Weg gemacht, die Lebensaufgabe zu finden, doch schon ist sie da. Sie wird gewissermaßen „verordnet“.
Wäre es tatsächlich so, dann würde sich der Erkenntnisblitz nicht nur auf die Lebensaufgabe erstrecken, sondern auch auf den Lebenssinn und auf die individuelle Berufung. Es wäre gewissermaßen eine „Erleuchtung auf einen Schlag“. Der bisherige Lebenssinn – sofern man sich schon Gedanken darüber gemacht hat – und auch die bisherige Berufung wären möglicherweise zu überdenken.
Der Erkenntnisblitz hätte tatsächlich das Potenzial, das gesamte Leben von einem Moment auf den anderen grundlegend zu verändern. Könnte man einer grundlegenden Neuausrichtung des Lebens überhaupt entgehen?
Natürlich würde sich auch die Frage stellen, unter welchen äußeren Bedingungen sich dieser Erkenntnisblitz ereignet hat. Waren etwa Alkohol und/oder Drogen im Spiel? Falls ja, wäre infrage zu stellen, ob es sich wirklich um einen Erkenntnisblitz gehandelt hat. Eine Halluzination wäre jedenfalls wahrscheinlicher.
Dennoch ist die gefühlte Zuweisung der Lebensaufgabe durch eine Art Erkenntnisblitz nicht so weit hergeholt, wie es zunächst den Anschein hat. Albert Schweitzer, Arzt, Philosoph und Theologe, schrieb in seinem Buch „Selbstzeugnisse“ (S. 205): „Wenn ich es als meine Lebensaufgabe betrachte, die Sache der Kranken unter fernen Sternen zu verfechten, berufe ich mich auf die Barmherzigkeit, die Jesus und die Religion befehlen. Zugleich aber wende ich mich an das elementare Denken und Vorstellen. Nicht als ein „gutes Werk“, sondern als eine unabweisliche Pflicht soll uns das, was unter den Farbigen zu tun ist, erscheinen.“
Zitate von Albert Schweitzer:
„Man muss etwas tun“ – „Ich muss etwas tun – und ich könnte es, weil ich die Gaben und Fähigkeiten dazu habe, und weil ich mich auch dafür begeistern kann.“ Vielleicht dachte Albert Schweitzer so oder so ähnlich. Jedenfalls gab er seinem Leben eine neue Richtung, begann im Alter von 30 Jahren ein Medizinstudium und gründete 1913 nach dessen erfolgreichen Abschluss in Lambaréné im zentralafrikanischen Gabun ein Krankenhaus.
Der Weg über die Berufung
Dass man seine Lebensaufgabe durch einen Erkenntnisblitz gewissermaßen empfängt ist nicht auszuschließen, aber sicherlich der seltene Ausnahmefall. Ein alternativer Weg zur Lebensaufgabe führt über das Erkennen der individuellen Berufung. Ist die Berufung bekannt, stellt sich die Frage, wie diese im Leben konkret zur Wirkung gebracht werden kann.
„Was kann ich mit meinen Gaben und Fähigkeiten anfangen, wie kann ich sie zur vollen Wirkung bringen?“, „Wie ist das, was ich schon herausgefunden habe, mit meinen Interessen und Visionen vereinbar?“ und „Wofür kann ich mich wirklich begeistern?“ – diese oder ähnliche Fragen sind geeignet, den Weg zur Lebensaufgabe zu weisen. Ein Nachdenkprozess wird in Gang gesetzt, der sich nicht nur auf der rationalen Ebene bewegt, sondern auch die Seele „sprechen“ lässt.
Wie „spricht“ die Seele?
Vielleicht wird etwas in Bewegung gebracht, so ähnlich wie bei Albert Schweitzer, nur in einem völlig anderen Umfeld. Man erkennt eine ganz praktische Notlage, ein Defizit oder einen Engpass – strukturell und dauerhaft – und man ist davon berührt. Man nimmt beispielsweise wahr, dass schon seit längerem etwas Wichtiges fehlt, etwa eine Anlaufstelle für Menschen mit einem ganz bestimmten Krankheitsbild. Und erkennt, dass man seine Gaben und Fähigkeiten dazu einsetzen kann, um dem Mangel abzuhelfen oder ihn zumindest etwas zu mildern. Plötzlich sieht man es als seine Lebensaufgabe, etwas aufzubauen und weiterzuführen. Etwas, was zuvor schon in der Seele mehr unbewusst schlummerte, bricht auf einmal an die Oberfläche durch.
Es mag auch ein Impuls durch einen oder mehrere Dritte sein, der einen seine Lebensaufgabe erkennen lässt. Jemand macht auf etwas aufmerksam und dass man mit seinen Gaben und Fähigkeiten wie geschaffen dafür sei, etwas zum Positiven hin zu verändern. Man beginnt, sich damit zu beschäftigen und mit der Zeit wird immer deutlicher, dass man tatsächlich auf seine Lebensaufgabe gestoßen ist.
Schließlich mag man es selbst sein, der sich eines Tages aus eigenem Antrieb bewusst auf den Weg macht, die Lebensaufgabe zu erkennen. Vielleicht ist der Anlass eine gewachsene Unzufriedenheit mit dem bisherigen Leben, vielleicht ist es auch ein erzwungener Lebensumbruch oder die Seele „sagt“ einfach: „Du kannst viel mehr aus deinem Leben machen“. Man lässt sich auf den Prozess ein, die persönliche Lebensaufgabe zu entdecken.
Was darf man erwarten?
Wohl niemand würde überhaupt nur daran denken, seine Lebensaufgabe entdecken zu wollen, wenn von Vornherein klar wäre, dass sie mit Entbehrungen, Unzufriedenheit, Verzweiflung usw. verbunden ist. Im Gegenteil: man erwartet sich vor allem Erfüllung, Zufriedenheit, Wohlbefinden, Lebensqualität, Lebensfreude – und Heilung. Auf den ersten Blick scheint etwas unverständlich, weshalb man die Lebensaufgabe ausgerechnet mit Heilung in Verbindung bringen sollte. Heilung steht für Sinnhaftigkeit des Lebens, das Leben mit einem Sinn zu erfüllen. Heilung steht für den Wunsch, das Unvollkommene im Leben, das Kranke, das Zerrissene, in etwas Gutes zu wenden. Insofern ist Heilung keine fehlgeleitete Erwartung.
So wird deutlich: die Lebensaufgabe erfüllt im tiefsten Grund die Bedürfnisse der Seele. Deshalb ist es folgerichtig die Seele, die die Lebensaufgabe erkennt. Die Seele wird zu gegebener Zeit zu erkennen geben: „das ist jetzt deine Lebensaufgabe“. Einen Zeitrahmen kann und darf man nicht vorgeben. Vielleicht muss erst noch manches ausreifen, denn möglicherweise ist man zum jetzigen Zeitpunkt für seine Lebensaufgabe noch nicht wirklich bereit. Vielleicht sind noch weitere Erfahrungen notwendig, die die spätere Erkenntnis umso klarer erscheinen lassen.
Muss man seine Lebensaufgabe selbst erkennen?
Wenn man seine Lebensaufgabe gefunden hat und sie mit Leben erfüllt, darf man nicht erwarten, dass das weitere Leben ohne Probleme verläuft. Es mag durchaus sein, dass Widerstände zu überwinden sind, dass man unfairen Anfeindungen ausgesetzt ist, dass man diskreditiert wird usw. Albert Schweitzer, als Beispiel, erlebte vielerlei Widrigkeiten und ihm wurden auch unlautere Motive unterstellt. Er drückte seine Erfahrungen mit folgenden Worten aus: „Wer sich vornimmt, Gutes zu wirken, darf nicht erwarten, dass die Menschen ihm deswegen Steine aus dem Wege räumen, sondern muss auf das Schicksalhafte gefasst sein, dass sie ihm welche darauf rollen.“
Vor diesem Hintergrund bedarf es einer tiefen Überzeugung, im Einklang mit seinem Lebenssinn, seiner Berufung und seiner Lebensaufgabe zu leben. Fehlt die tiefe Überzeugung, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass man bei Widerständen nicht durchhalten kann und aufgibt. Diese tiefe Überzeugung kann nicht von einer oder mehreren anderen Personen gewissermaßen „von außen“ vermittelt werden. Sie muss sich über eine Art „existenzielles Erkennen“ in einem selbst formen.
Was für die Berufung gilt, lässt sich auch auf die Lebensaufgabe übertragen. Andere Menschen (z. B. ein Berater oder Coach) können durchaus unterstützen und hinführen, aber nicht mehr. Kein Berater oder Coach darf in übergriffiger Weise den Anspruch erheben, besser als der Klient zu wissen, was dessen Lebensaufgabe ist.
Welche Rolle spielen Anerkennung oder Geld?
Wohl den meisten Menschen, die in ihrer Lebensaufgabe aufgehen und ihre Gaben und Fähigkeiten darin zur Wirkung bringen, geht es nicht um Anerkennung und auch nicht darum, reich zu werden. Ganz im Gegenteil: sie setzen ihre kostbare Lebenszeit ein ohne zu erwarten, dass sie durch ihre Lebensaufgabe zu Ruhm und Ehre gelangen. Sie haben ihren Weg bewusst gewählt. Wenn sie dennoch die verdiente Anerkennung erfahren, freut es sie natürlich. Aber sie machen sich nicht von der Anerkennung Anderer abhängig.