„Freundschaft währt am längsten, wenn sie mit dem gegenseitigen Versprechen, sich immer die Wahrheit zu sagen, besiegelt wird.“
Ralph Waldo Emerson
Ralph Waldo Emerson (1803-1882), war ein US-amerikanischer Philosoph und Schriftsteller. Er engagierte sich für soziale Reformen, wie beispielsweise das Frauenwahlrecht. Außerdem sprach er sich gegen die Sklaverei aus.
Muss man in einer Freundschaft alles über sich preisgeben?
Stefan (*) und Christoph (*) sind schon seit mehreren Jahren miteinander befreundet. Die Freundschaft wurde nie „offiziell“ besiegelt, sondern entwickelte sich über die Zeit. Die beiden haben gegenseitiges Vertrauen zueinander aufgebaut. Sie wissen viel voneinander, und vielleicht wissen einiges davon ihre jeweiligen Ehefrauen nicht.
Obwohl Stefan im Lauf der Zeit schon viel von sich preisgegeben hat, so hat er doch über ein sehr unangenehmes Kapitel seines Lebens geschwiegen. Er hat es vor seinem Freund verborgen. Es wäre ihm peinlich, darauf zu sprechen zu kommen, denn auf sein damaliges Verhalten und Handeln war er alles andere als stolz. Sollte er das Thema von sich aus irgendwann doch einmal bei passender Gelegenheit ansprechen?
Die Frage für Stefan ist, ob es die Freundschaft betrifft und ob es für die Freundschaft mit Christoph wichtig ist. Stefan ist überzeugt, dass dieses Thema in der Beziehung mit Christoph und für ihre Freundschaft keinerlei Bedeutung hat. Ihre Freundschaft würde weder bereichert noch beeinträchtigt werden, wenn er darüber spräche.
Für Stefan ist dieses unangenehme und dunkle Kapitel seines Lebens abgeschlossen. Es ist nichts mehr zu klären. Und eine Meinung seines Freundes zu dem einen oder anderen Aspekt wünscht er sich derzeit nicht. Also beschließt er, es beim Status Quo zu belassen.
Einander immer die Wahrheit sagen?
Was wäre, wenn Christoph eines Tages zufällig auf dieses Kapitel in Stefans Leben zu sprechen kommen würde? Vielleicht etwa so: „Da war doch mal was mit … Wie ist das eigentlich weiter gegangen?“.
Stefan stünde vor der Frage, wie er darauf reagieren will. Er könnte Christoph sagen, dass er darüber nicht reden möchte. Das würde zwar Christophs Neugier reizen, aber dieser würde Stefans Wunsch respektieren, nicht darüber sprechen zu wollen.
Wenn sich Stefan dafür entscheidet, darüber zu sprechen, ist nur seine subjektive Wahrheit hilfreich. Er macht sich verletzlich, wenn er Dinge ausspricht, die ihn in Christophs Augen in ein anderes Licht rücken könnten. Er riskiert, dass sein Freund einen anderen, nicht mehr so positiven Eindruck von ihm bekommt. Andererseits ist es für Christoph ein Vertrauensbeweis, wenn Stefan ihm gegenüber offen und ehrlich ist. Die Freundschaft ist dadurch besiegelt, dass Stefan auch dann bei der Wahrheit bleibt, wenn es ihm eigentlich unangenehm ist.
Stefan hat nicht zu befürchten, dass die Freundschaft beschädigt wird, denn sie können beide auf eine solide Vertrauensbasis bauen. Er weiß, dass Christoph das Gesagte vertraulich behandeln wird. Und weil Christoph sich seiner eigenen Schattenseiten bewusst ist, hat er auch Nachsicht mit Stefan.
Schlimm wäre es, wenn Stefan zwar darüber sprechen, aber nicht die Wahrheit sagen würde. Stefan würde sich selbst eine Last auflegen. Er müsste sich genau merken, was er Christoph gesagt hat, damit er sich später nicht widerspricht, sollte das Thema irgendwann einmal wieder darauf kommen. Zum anderen wäre es durch einen unglücklichen Zufall vielleicht möglich, dass Christoph aus anderer Quelle etwas erfährt. Dann stellt er enttäuscht fest, dass Stefan ihm die Unwahrheit gesagt hat. Und dann wäre die Freundschaft tatsächlich beschädigt. Sie hätte eine schwere Schramme bekommen, weil Vertrauen verloren ging.
Die Freundschaft ließe sich retten, denn eine Freundschaft lebt auch vom Verzeihen, je länger sie andauert. Johann Wolfgang von Goethe drückte es so aus: „Ältere Freundschaften haben vor neuen hauptsächlich voraus, dass man sich schon viel verziehen hat.“. Aber die Schramme wäre unnötig gewesen.
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