„Wenn wir uns in einer Krise zu bewähren haben, dann werden uns auch die Kräfte zuwachsen.“
Richard von Weizsäcker
Richard Karl Freiherr von Weizsäcker (1920-2015) war ein deutscher Jurist und Politiker. Nach dem zweiten Weltkrieg bekleidete er verschiedene Führungspositionen in Wirtschaft und Politik. Von 1981 bis 1984 war er Regierender Bürgermeister von Berlin. Von 1984 bis 1994 war er der sechste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der erste Bundespräsident des vereinten Deutschlands.
Bewähren in der Krise? Welche Bewährung?
Das Zitat stammt aus der Weihnachtsansprache des Jahres 1993. Der damalige Bundespräsident blickte auf ein Rezessionsjahr zurück. Zum vierten Mal seit Kriegsende rutschte 1993 die Wachstumsrate des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) ins Minus (‑1,1 %). Eine hohe gesamtdeutsche Arbeitslosigkeit (8,9 %), bei einer Arbeitslosenrate von 7,8 % in den alten und 15,1 % in den neuen Bundesländern, eine Inflationsrate von 4,5 %, eine Flaute im Exportgeschäft, sowie wachsende Staatsschulden, bildeten den Hintergrund.
Kaum verwunderlich prägten wirtschaftliche und soziale Sorgen die Stimmung im seit 1990 wiedervereinigten Deutschland. Was mochte das Jahr 1994 wohl bringen? Würde sich die Situation verbessern? Der Bundespräsident nahm die Stimmungslage auf und sprach von einem bevorstehenden schwierigen Jahr 1994, das ein Jahr der Bewährung sei.
Der damalige Bundespräsident verstand Bewährung auch als Zuwendung, wenn Menschen sich einander persönlich zuwenden. Zuwendung wirkt einer Spaltung der Gesellschaft entgegen. Und er rechnete damit, dass dann Kräfte freigesetzt werden und zuwachsen, auch in einer Krise.
Und die individuelle Bewährung in der Krise?
Eine Bewährung einer Gesellschaft bedeutet stets auch eine Bewährung des Einzelnen. Während der eine von der schwierigen Situation des Jahres 1993 überhaupt nicht betroffen war, litt der andere darunter, beispielsweise durch Arbeitslosigkeit. Dennoch haben sich in einem schwierigen Umfeld beide zu bewähren. Der Nichtbetroffene bewährt sich beispielsweise durch Solidarität, der Betroffene durch Ausharren und Hoffnung.
Bewährung setzt voraus, dass man nicht aufgibt, dass man vor allem sich selbst nicht aufgibt. Und Bewährung gründet auch auf der Perspektive, dass etwas überwunden werden kann, dass es nicht so bleiben muss, wie es gerade ist.
Mit einer Krise wird die Vorstellung verbunden, dass sie eine gewisse Zeit andauert. Eine Krise, die nur sehr kurz dauert, beispielsweise nur einen Tag, zählt zu den absoluten Ausnahmen. Das Durchstehen einer Krise und somit das Bewähren in einer Krise verlangen seelische Kräfte.
Woher kommen die Kräfte?
In der Medizin ist die heilsame Wirkung von menschlicher Beziehung und Vorstellungskraft durch verschiedene Studien gut belegt. Patienten mit positiven Erwartungen und Vertrauen in die Behandlung haben eindeutig bessere Chancen auf Heilung. Diese Erfahrung machte wohl als einer der ersten der französische Apotheker und Autor Émile Coué, der als Begründer der modernen, bewussten Autosuggestion gilt. Als Apotheker erkannte er die heilsame Wirkung der Vorstellungskraft.
Schon wenn sich ein Arzt einem Patienten mit beruhigenden Worten zuwendet, kann der Hirnstoffwechsel des Patienten positiv beeinflusst werden. Die Auswirkungen können sich auf den ganzen Körper erstrecken. Suggestion kann beispielsweise die Herzfrequenz verringern und Endorphine (körpereigene Opioidpeptide), also gewissermaßen körpereigene „Schmerzmittel“, freisetzen, sowie die Hormonausschüttung und das Immunsystem aktivieren.
Auch in der Placeboforschung wurde nachgewiesen, dass die Vorstellungskraft wirkmächtig ist. Wenn ein Arzt ein Placebo, ein Scheinmedikament, verabreicht, kann genau die Wirkung hervorgerufen werden, die der Arzt der Versuchsperson in Aussicht stellt. So zeigen es diverse Experimente und Untersuchungen.
So sind es auch in einer Krise die menschlichen Beziehungen, die Kräfte verleihen können. Das mutmachende Wort einer guten Freundin oder eines guten Freundes können durch schwierige Zeiten tragen. Und dann sind es auch die Vorstellungskraft und vor allem die Hoffnung, die Kräfte freisetzen. So wachsen Kräfte zu, wenn es darauf ankommt.
Die Krise wird ein Ende haben. Es wird eine Zeit nach der Krise geben. Aber in der Krise kann das Leben sehr hart sein. Dennoch darf auch in einer schwierigen Zeit die Hoffnung nicht verlorengehen. Die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger drückte es so aus: „Man kann ja ohne sehr viel leben. Man kann leben, ohne etwas zu haben. Aber man kann nicht leben, ohne etwas vor sich zu haben. Man kann nicht ohne Hoffnung leben.“ Wenn die Hoffnung verlorengeht, geht auch die Kraft verloren. Wenn die Hoffnung bleibt und genährt wird, bleibt auch die Kraft.
* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)