„Der Mensch ist immer mehr, als er von sich weiß. Er ist nicht, was er ein für alle Mal ist, sondern er ist Weg.“
Karl Jaspers
Was weiß man eigentlich von sich?
Auf den ersten Blick mag die Frage als überflüssig erscheinen. Man meint, sich zu kennen. Aber ist das wirklich so? Wie verhält es sich, wenn man sich etwas mehr mit sich beschäftigt, mit seinem Körper und seiner Seele?
Der Mensch ist ein biologisches Wunderwerk – Ich bin ein biologisches Wunderwerk
Der Mensch als denkendes, fühlendes, wahrnehmendes und handelndes Wesen ist ein hochkomplexes Gebilde, ein wahres Wunderwerk. Doch bis heute weiß man nicht so genau, wie es eigentlich funktioniert. Ein kleines Beispiel mag das Argument veranschaulichen.
Damit der Mensch denken, fühlen, wahrnehmen und Handeln kann, müssen bis zu 100 Milliarden Neurone (elektrisch erregbare Nervenzellen), die mit über einer Trillion Synapsen (die Stelle einer neuronalen Verknüpfung, über die eine Nervenzelle in Kontakt zu einer anderen Zelle steht) mit einander verbunden sind, ständig miteinander kommunizieren. Ein Neuron ist mit bis zu 30 000 anderen Neuronen vernetzt. Jedes dieser Neurone kann in höchstens zwei Zwischenschritten jedes andere Neuron erreichen. Zwischen zwei Neuronen werden Signale in der Regel chemisch über Neurotransmitter (ein chemischer Botenstoff als Mittlersubstanz) übertragen.
In Millisekunden finden an tausenden Neuronen komplexe chemische und elektrische Prozesse statt. Wenn man beispielsweise einen Löffel mit Suppe zum Mund führt, aktiviert das zentrale Nervensystem mit Hilfe von auf motorische Funktionen spezialisierten Neuronen die Arm-, Hand- und Fingermuskeln, damit man den Löffel greifen und bewegen kann. Gleichzeitig senden sensorische Neuronen fortwährend Informationen an das Gehirn, beispielsweise über die Position der Hand und den Druck der Finger auf den Löffel. Diese Informationen werden im Gehirn verarbeitet und es werden Signale gesendet, damit der weitere Verlauf der Bewegung über die Motoneurone präzise gesteuert werden kann. Auf diese Weise gelingt es, den Löffel waagerecht zu halten und nichts zu verschütten.
Wie gelingt nun der Übergang von der neuronalen Interaktionsebene zur Bewusstseinsebene? Konkreter gefragt: Wie werden aus der elektrischen und chemischen Aktivität der Neuronen Gefühle und Gedanken? Diese Frage ist noch ungeklärt. Ebenso ungeklärt ist, wie genau Gefühle und Gedanken ihren Weg bis zur neuronalen Ebene finden.
Es gibt noch viele weitere ungelöste Fragen. Sicherlich kann die Wissenschaft im Lauf der Zeit einige der noch offenen Fragen beantworten. Auf manche lässt sich jedoch vielleicht sogar nie eine Antwort finden.
Der Mensch trägt Geschichte in sich – Ich trage Geschichte in mir
Kann es sein, dass die Lebensgeschichte der Vorfahren mit darüber bestimmt, ob man gesund und glücklich durch das Leben geht? Falls dies zuträfe, hätte man auch selbst Einfluss auf die Lebensgeschichte seiner Kinder. Ist dies eine abenteuerliche Vorstellung?
Mitnichten, es ist keine abenteuerliche Vorstellung! Wissenschaftler konnten aufzeigen, dass Erlebnisse im Erbgut weitergegeben werden. Beispielsweise wurde festgestellt, dass Überlebende der verheerenden Bombenangriffe auf deutsche Städte während des Zweiten Weltkriegs ihre seelischen Verletzungen an ihre Kinder weitergaben, selbst wenn diese erst nach dem Krieg geboren wurden. Spuren seelischer Verletzungen lassen sich sogar noch im Erbgut ihrer Enkel finden. Wie genau diese Übertragung geschieht, ist eine spannende Frage, der sich die Forschung widmet.
Diese so interessanten wie komplexen Zusammenhänge sind Forschungsgegenstand der Epigenetik, das als Forschungsgebiet seit den 1990-er Jahren an Bedeutung gewinnt. Der Begriff „Epigenetik“ ist zusammengesetzt aus den Wörtern „Genetik“ und „Epigenese“, also der Entwicklung eines Lebewesens. Die Epigenetik ist ein Fachgebiet, ein aufstrebender Forschungszweig der Biologie. Sie befasst sich mit der Frage, welche Faktoren die Aktivität eines Gens und damit die Entwicklung der Zelle zeitweilig festlegen und ob bestimmte Festlegungen an die Folgegeneration vererbt werden.
Epigenetische Veränderungen spielen in Pflanzen, im Tier und im Menschen eine sehr wichtige Rolle für die Steuerung von Veränderungsprozessen. Epigenetik gilt als das Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und Genen. Sie bietet konzeptionell neue Ansätze für das Verständnis genetischer Steuerung von Entwicklungs- und Erkrankungsprozessen.
Carl Gustav Jung, Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie, beschäftigte sich aus dem Blickwinkel der Psychologie mit dem Einfluss der Lebensgeschichte der Vorfahren auf die eigene Lebensgeschichte. Er ging sogar so weit, zu formulieren: „Der Mensch trägt immer seine ganze Geschichte und die Geschichte der Menschheit mit sich.“.
Der Mensch – Körper und Seele wirken zusammen
Die Erkenntnisse der Epigenetik halten von dem Gedanken ab, man wäre als erwachsener Mensch ausentwickelt und könnte keinen Einfluss auf seinen Körper und seine Seele nehmen. Vielmehr gilt als gesichert: Die menschliche Ernährung, Umwelteinflüsse sowie psychische und physische Reaktionen (z.B. Stress) können sich über epigenetische Veränderungen oder andere Mechanismen auf die Körperzusammensetzung und die Neigung zu Gesundheit oder Erkrankung auswirken.
In der Konsequenz ist der Mensch nicht nur physisch, sondern auch psychisch auf einem Weg. Zwischen Körper und Seele ergeben sich Wechselwirkungen. So bewirkt beispielsweise körperliches Training nachweislich Veränderungen auf genetischer Ebene und wirkt gleichzeitig auch positiv auf die Psyche. Deshalb wird – wenn dies aufgrund des körperlichen Zustands möglich ist – Sport erfolgreich als Therapie bei Krebserkrankungen eingesetzt und gewinnt gewissermaßen den Charakter eines Medikaments.
Weg sein – auf dem Weg sein
Karl Jaspers hatte noch keinen Zugang zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen des 21. Jahrhunderts. Seine Feststellung, dass der Mensch immer mehr ist, als er von sich weiß, dass er nicht „fertig“, sondern Weg ist, trifft jedoch vollinhaltlich zu. Als Menschen können wir immer nur Teilaspekte unseres Daseins erkennen, aber wir wissen nie, wer oder was wir letztlich im Ganzen unseres Wesens sind.
Wie kann man am besten erkennen, dass man selbst Weg und auf dem Weg ist? Dies gelingt wohl am ehesten, wenn man auf seine bisherige Entwicklung zurückblickt und sie Revue passieren lässt. Wie ist die persönliche Entwicklung verlaufen? War sie geradlinig, zielorientiert, strategisch geplant? War man sich immer bewusst, in welchem Stadium des Wegs man sich gerade befand? Hatte man immer den souveränen Überblick über das große Ganze? Gab es nie Bedenken, Unsicherheit, Zweifel?
Wie haben sich die eigenen Überzeugungen, Einstellungen und Werte geformt? War alles in Bewegung, hat sich an Erkenntnissen, Erlebnissen und Erfahrungen immer wieder neu orientiert und ausgerichtet? Oder ist im Lauf der Zeit etwas erstarrt und haben sich Sichtweisen verfestigt, vielleicht sogar „festgefressen“?
Die wenigsten Menschen werden auf einen geradlinigen Weg zurückblicken können. Bei den allermeisten verlief der Weg auf und ab, man geriet in Sackgassen und manchmal lief man sprichwörtlich im Kreis. Vielleicht wurde man sogar sprichwörtlich „aus der Bahn geworfen“ und durchlebte eine Phase der Orientierungslosigkeit.
Jetzt, in der Gegenwart, befindet man sich an einem bestimmten Punkt auf seinem Weg. Man weiß aber nicht genau, wo man sich befindet. Man kann es nicht wissen, denn es ist unbekannt, wie viel Zeit noch vor einem liegt.
In der Bewegung werden immer wieder Wegbiegungen und Wegkreuzungen erreicht. Vielleicht weiß man nicht gleich, wie der Weg weitergeht. Man hat ein Ziel und auch einen Plan, wie man es erreichen möchte. Aber wie genau der Weg weitergeht, liegt nicht ausschließlich in der eigenen Hand. Die Zukunft liegt noch im Dunkel.
Der eigene Weg – ein „Bewältigungsweg“
Über das Erbgut können, wie bereits erwähnt, Belastungen von Vorgängergenerationen weitergegeben, gewissermaßen vererbt, werden. Und auch frühkindliche Erlebnisse und Erfahrungen können im Leben ihre Auswirkungen zeigen. So kommt beispielsweise ein Forschungsbericht des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie zu dem Ergebnis, dass frühkindlicher Stress tiefe Spuren auf unseren Genen hinterlässt und zeitlebens das Risiko für Depressionen programmiert (Quelle: Gene lernen aus Stress, Dr. Dietmar Spengler, Forschungsbericht 2010 – Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München).
Wenn Belastungen, in welcher Form auch immer, auf dem persönlichen Lebensweg auftreten, wird der eigene Weg zu einem Bewältigungsweg. Es gilt das, was belastet, zu bearbeiten, um zu einem sinnerfüllten und zufriedenen Leben zu gelangen. Dies kann, je nach den persönlichen Lebensumständen, eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe sein.
Wenn sich psychische Belastungen auf mehrere Folgegenerationen auswirken können, bedeutet dies wahrscheinlich im Umkehrschluss: positive Erlebnisse müssten ebenfalls ihre Spuren hinterlassen. Ein sinnerfülltes und zufriedenes Leben müsste eine Wirkung haben, in erster Linie natürlich für einen selbst, aber auch für seine Nachkommen.
Zwischenmenschliche Beziehungen – welche Konsequenzen ergeben sich?
Kein Mensch kann das Ganze seines eigenen Wesens auf dem Weg überschauen. Wenn man dieser Aussage zustimmt, dann kann auch kein Mitmensch mehr über einen wissen als man selbst. Karl Jaspers drückte es so aus: „Der Mensch ist immer mehr als er von sich weiß und wissen kann und als irgendein anderer von ihm weiß.“.
Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wenn man sich selbst nicht wirklich kennt, kann man natürlich auch keinen anderen Menschen wirklich kennen. Und man kann es auch nicht erfragen, da ja der Andere auch nicht alles von sich weiß.
Was kann das alles für zwischenmenschliche Beziehungen im gewöhnlichen Alltagsleben bedeuten? Wenn man immer nur Teilaspekte sehen kann, ist in der Konsequenz über keinen Menschen ein endgültiges Gesamturteil möglich. Man kann stets nur einzelne Aspekte beurteilen, aber nie den Menschen an sich. Davon abgesehen befindet sich jeder Mensch auf einem Weg und kann sich verändern, wenn er es wirklich will.
Wenn sich ein Urteil, welcher Art auch immer, nicht auf den ganzen Menschen erstreckt, gibt es immer auch die Möglichkeit der sogenannten „zweiten Chance“. Diese zweite Chance wünscht man sich manchmal für sich selbst, beispielsweise wenn man etwas „vermasselt“ hat. Auch der Mitmensch verdient dann eine zweite Chance, vielleicht auch erst nach Verbüßung einer Strafe, falls eine strafbare Handlung vorlag.
Man ist auf dem Weg und man ist selbst Weg – und der Weg ist noch nicht zu Ende.
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