„Niemand kann dich ohne deine Einwilligung dazu bringen, dich minderwertig zu fühlen.“
Eleanor Roosevelt
Anna Eleanor Roosevelt (1884-1962) war eine US-amerikanische Menschenrechtsaktivistin und Diplomatin. Außerdem war sie die Ehefrau des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt.
Eleanor Roosevelt wurde politisch selbst aktiv und profilierte sich zur führenden Frauenfigur der Demokratischen Partei im Bundesstaat New York. 1945, im Gründungsjahr der Vereinten Nationen, wurde Eleanor Roosevelt zur Botschafterin der USA bei dieser Organisation ernannt. Als Vorsitzende der UNO-Menschenrechtskommission gehörte sie zu den Verfassern der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sie engagierte sich sozialpolitisch bis ins hohe Alter hinein.
Minderwertigkeitsgefühle – ein häufiges Phänomen
Carola (Name geändert) fühlte sich minderwertig. Weshalb, wusste sie selbst nicht so genau. Im Vergleich mit anderen meinte sie, schlechter abzuschneiden. Doch wie und wann kam es überhaupt dazu, dass Carolas Minderwertigkeitsgefühl offenbar wurde? Schließlich würde sich Carola mit absoluter Sicherheit und nie und nimmer auf einen Marktplatz stellen und öffentlich proklamieren: „Ich fühle mich minderwertig!“ Es geschah vielmehr indirekt und im vertraulichen Gespräch.
In der Vergangenheit hatte Carola ihre Minderwertigkeitsgefühle mit sich selbst ausgemacht. Sie konnte und wollte mit niemand darüber reden. Es fehlten Menschen in ihrem Umfeld, zu denen sie ausreichend Vertrauen hatte.
Minderwertigkeitsgefühle sind an sich etwas völlig Normales. Jeder Mensch ist anderen Menschen in irgendeinem Punkt unterlegen. Insofern sind Minderwertigkeitsgefühle nicht krankhaft. Sie sind es zumindest dann nicht, wenn sie nicht mit einer negativen Einstellung zu sich selbst und einer Selbstabwertung einhergehen. Wenn beispielsweise der Bruder handwerklich viel besser begabt ist als man selbst, kann man das neidlos anerkennen. Man ist in diesem Punkt in der Tat unterlegen, hat aber sehr wahrscheinlich auf anderen Gebieten Stärken, die der Bruder nicht hat. Es besteht also kein wirklicher Grund für eine negative Einstellung zu sich selbst und eine Selbstabwertung.
Carolas Minderwertigkeitsgefühle waren jedoch sehr viel stärker ausgeprägt und hatten ihre Wurzel schon in ihrer Kindheit. Wenn ein Kind keine Anerkennung und Wertschätzung erfährt, wenn es ständig vermittelt bekommt, den elterlichen Ansprüchen nicht zu genügen, und es an elterlicher Liebe mangelt, hält das Kind dies in der frühesten Kindheitsphase für normal. Es hat schlicht keine Vergleichsmöglichkeiten.
Vor diesem Hintergrund kann es im Kindergarten und später in der Schule schwerfallen, Freundschaften aufzubauen. Das Kind entwickelt gewissermaßen schon eine Erwartungshaltung, nicht anerkannt und wertgeschätzt zu werden. Dies kann sich in Gedanken niederschlagen, wie beispielsweise „Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden“.
Problematisch können Minderwertigkeitsgefühle werden, wenn die angenommene Minderwertigkeit in den sozialen Beziehungen und durch Äußerungen von Mitmenschen wiederholt als zutreffend akzentuiert wird. Ein seelisches Empfinden, das ein Gefühl der eigenen Unvollkommenheit ausdrückt, gewinnt immer mehr Raum.
Aus einem Minderwertigkeitsgefühl kann sich ein Minderwertigkeitskomplex entwickeln, ein übersteigertes bzw. „abnorm gesteigertes Minderwertigkeitsgefühl“. Letztere Definition stammt vom Arzt und Psychotherapeuten Alfred Adler, Begründer der Individualpsychologie. Kinder mit Minderwertigkeitskomplexen verspüren, wie er in seinem 1927 erstmals erschienenen Werk „Menschenkenntnis“ darlegte, eine „Drosselung des Gemeinschaftsgefühls“. Sie beschäftigen sich eher mit sich selbst und mit dem „Eindruck, den sie auf die Umwelt machen“. Die Interessen ihrer Mitmenschen stehen im Hintergrund.
Andererseits können auch Kinder Minderwertigkeitskomplexe entwickeln, die zu viel Aufmerksamkeit erhielten und zu stark verwöhnt wurden. Der Psychologe und Pädagoge Paul Häberlin thematisierte den in seinem Buch „Minderwertigkeitsgefühle. Wesen, Entstehung, Verhütung, Überwindung“ den „Tanz um das Kind“.
Carolas Minderwertigkeitskomplex rührte keineswegs von Überbehütung her, sondern von mangelnder elterlicher Liebe und Anerkennung. Alfred Adler brachte in seinem Werk „Menschenkenntnis“ die möglichen Folgen auf den Punkt: „Den Stachel, der ihnen in frühen Kindheitstagen eingetrieben wurde, bringen sie nicht mehr los, die Kälte, der sie begegnet sind, schreckt sie von weiteren Annäherungsversuchen an die Umgebung ab, was damit endet, dass sie sich einer lieblosen Welt gegenüber glauben, an die eine Anknüpfung nicht möglich ist.“
Vergleichen – eine Wurzel des Übels
Wie bereits angedeutet ist jeder Mensch seinen Mitmenschen in mindestens einem Punkt unterlegen. Man hat nicht den Geist eines Albert Einstein, man hat nicht den Körper einer Miss Universum, man hat keine Chance, den Marathon-Weltrekord zu unterbieten, und, und, und. Immer ist jemand anderes in dem einen oder anderen Punkt besser.
Beim ständigen Sich-Vergleichen mit anderen Menschen wird man immer wieder auf die eigenen Defizite stoßen. Dafür übersieht man die eigenen Stärken oder spielt sie herunter. Wenn das Gefühl der eigenen Unvollkommenheit permanent vorhanden ist, ist eine begleitende Selbstabwertung nur eine logische Folge. Ein Minderwertigkeitskomplex kann lähmen und zu sozialem Rückzug und der dadurch drohenden sozialen Isolation führen.
Folgen der Selbstabwertung
Wenn es schwerfällt Freundschaften aufzubauen, wird die Schuld oft bei sich selbst gesucht. Man meint, dass man ohnehin langweilig, uninteressant oder nicht attraktiv genug für andere ist. Das Potenzial, dass man in zwischenmenschlichen Beziehungen durchaus etwas Einmaliges und Wertvolles von sich selbst einbringen kann, ignoriert man.
Eine weitere Folge der Selbstabwertung besteht darin, dass man sich kaum auf unbekanntes Terrain wagt und etwas Neues versucht. Wenn mangelnde Anerkennung empfunden wird, vielleicht noch in Kindheitserfahrungen verwurzelt oder auch aus dem Umfeld vermeintlich so signalisiert, verwundert nicht, dass gleich die Gefahr des Scheiterns gesehen wird. Weshalb sollte man sich anstrengen, wenn am Ende ohnehin kein überzeugendes Ergebnis steht?
Schließlich besteht auch eine wesentliche Konsequenz in der ständigen Angst, von anderen abgelehnt zu werden. Um der Ablehnung zu entgehen, sagt man lieber „Ja“ als „Nein“, auch wenn man ein „Nein“ gewissermaßen schon auf der Zunge hat. Und es kann auch schwerfallen, seine eigene Meinung zu äußern und zu ihr zu stehen, wenn sie ohnehin nicht schon der vermeintlichen Mehrheitsmeinung entspricht. Es könnte ja sein, dass man mit seiner Meinung auf Ablehnung stößt.
Abgegebene Macht wieder zurückgewinnen
Der Preis ist hoch. Wenn man sich selbst abwertet und eine negative Einstellung gegenüber sich selbst zulässt, gibt man gleichzeitig Macht über sich ab. Anderen Menschen wird die Macht eingeräumt, darüber zu bestimmen, wie es einem geht. Man lässt Meinungen und Einschätzungen anderer für sich gelten. Dies kann so weit gehen, dass andere darüber entscheiden „dürfen“, welchen „Wert“ man hat.
Wer anders kann für das eigene Leben verantwortlich sein als man selbst? Natürlich niemand! Wenn dies so ist, dann ist man selbst dafür zuständig, welche Maßstäbe man für sich setzt.
Ein allererster Schritt besteht darin, dass man aus tiefstem Herzen anerkennt: „Ich bin ein Unikat!“ Kein anderer Mensch auf der ganzen Erde weist dasselbe Profil an Eigenschaften, Begabungen und Fähigkeiten auf. Ein Unikat entzieht sich jedem Vergleich. Dies bedeutet in der Konsequenz: „Ich bin nicht durchwegs unterlegen – ich bin anders!“
Wie sich im Gespräch herausstellte, machte Carola ihr Minderwertigkeitsgefühl an diffusen Leistungskriterien fest. Andere Menschen in ihrem Umfeld können manches besser als sie. Dass sie als Mensch – ein Mensch hat keinen Wert, sondern Würde, wie Immanuel Kant es ausdrückte – nicht an Leistung messbar ist, machte sie sich nicht bewusst. Sie hatte unzutreffende Maßstäbe an sich anlegen lassen. Würde kann man sich nicht verdienen – man hat sie, völlig unabhängig von Leistungskriterien. Und Würde ist auch nicht vom Zeitgeist abhängig.
Carola leistet in dem einen oder anderen Punkt nicht so viel wie andere. Das muss sie anerkennen. Aber dies bedeutet noch lange nicht, dass sie sich deswegen selbst abwerten muss. Auf anderen Gebieten kann sie dafür ihre Stärken einbringen und darf sich dafür auch selbst Anerkennung geben.
Je mehr es Carola gelingt, zu sich selbst und zu ihren Stärken und Schwächen zu stehen, desto weniger macht sie sich von Erwartungen und Maßstäben anderer abhängig. Und desto mehr gewinnt sie wieder Macht über sich zurück. Ausschließlich sie kann Macht über sich zurückgewinnen. Niemand kann ihr Macht über sich geben.
Die stillschweigende Einwilligung erkennen
Es bedurfte eines vertraulichen Gesprächs mit einer zum Schweigen verpflichteten Person außerhalb ihres Familien-, Freundes und Bekanntenumfelds. Erst dann konnte sich Carola öffnen.
Eigentlich ging es Carola in diesem Gespräch um ein anderes Thema, das auf den ersten Blick keineswegs etwas mit ihrem Minderwertigkeitskomplex zu tun hatte. Die Frage: „Wie denken Sie über sich selbst?“ öffnete dann jedoch nicht nur für ihren Gesprächspartner, sondern auch für Carola den Zugang zu ihrer negativen Einstellung zu sich selbst und ihrer Selbstabwertung.
Carola gab anderen stillschweigend die Erlaubnis, sie dazu zu bringen, sich minderwertig zu fühlen. Mahatma Gandhi, ein Kämpfer für Gleichberechtigung, brachte den Gedanken der stillschweigenden Erlaubnis in den größeren Zusammenhang mit seelischen Verletzungen. Er formulierte es so: „Niemand kann mich ohne meine Erlaubnis verletzen.“
Für seine Gefühle ist man selbst verantwortlich
Vielleicht hatte man es in der Kindheit nicht leicht und nahm eine „Gefühlshypothek“ in sein Erwachsenen-Dasein mit. Doch jetzt ist man erwachsen und muss im Leben und allen seinen Herausforderungen bestehen. Dazu gehört auch, diese Fragen zu klären: „Wer ist für meine Gefühle verantwortlich?“ und „Wer kann sie kontrollieren?“
Wenn man sich selbst als verantwortlich erkennt und annimmt, achtet man in Alltagssituationen sehr viel intensiver auf sich. Immer wieder gibt es Situationen, in denen Mitmenschen durch ihre Erwartungen, Ansichten, Meinungen oder Behauptungen Minderwertigkeitsgefühle „antriggern“. Doch je besser es gelingt, sich immer wieder bewusst zu machen, dass man für seine Gefühle selbst verantwortlich ist und sie auch kontrollieren kann, desto besser wird einem „Trigger“ (Auslöser) die Wirkung genommen.
Für meine Gefühle bin ich selbst verantwortlich!
Für Eleanor Roosevelt als Mitverfasserin der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte war klar, dass alle Menschen gleich sind, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Herkunft. Von daher erschließt sich auch die Logik: Wenn alle Menschen gleich sind, dann gibt es auch niemand, der sich minderwertig fühlen muss. Und wenn sich niemand minderwertig fühlen muss, sich aber dennoch minderwertig fühlt, dann geschieht dies aufgrund eigener Einwilligung. In welchem Bezugsrahmen Minderwertigkeit empfunden wird, ob wegen Zugehörigkeit oder Herkunft oder im ganz normalen Alltagsleben mit seinen zwischenmenschlichen Beziehungen, ist im Prinzip unerheblich.
Der Selbstabwertung kann eine gesunde Selbstwertschätzung entgegengesetzt werden. Dann haben Minderwertigkeitsgefühle keine Chance mehr, sich in eine krankhafte Richtung zu entwickeln. Und man gibt keine Macht über sich ab!
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