„Vergebung ist der Schlüssel für Bewegung und Freiheit.“
Hannah Arendt
Hannah Arendt (1906-1975) war eine jüdische deutsch-amerikanische Politologin und Publizistin. Sie war unter anderem als Journalistin sowie Hochschullehrerin tätig und veröffentlichte wichtige Beiträge zur politischen Philosophie, von ihr als „Politische Theorie“ bezeichnet. Die Ursprünge politischer Gewalt, die Unbegreiflichkeit des Bösen, die Menschenrechte von politisch Verfolgten und Flüchtlingen und der Sinn der Arbeit waren Themen, denen sie sich besonders widmete.
Ungerecht behandelt
Marie (*) hat keine Beziehung mehr zu ihrer Tochter. Diese hat den Kontakt zu ihr abgebrochen. Als die Tochter heiratete wurde Marie nicht eingeladen. Marie fühlt sich ungerecht behandelt und leidet.
Gabriele (*) hat ebenfalls keinen Kontakt mehr mit ihrer Tochter. Das Enkelkind wird ihr vorenthalten. Sie darf es nicht kennenlernen, Kontakt mit ihm haben. Gabriele fühlt sich ungerecht behandelt und leidet.
Helen (*) hat sich sehr bei Betreuung und Pflege der Mutter eingesetzt. Der Bruder interessierte sich derweil ganz besonders für das Erbe, das die Mutter hinterlassen wird. Wenn die Mutter gestorben ist wird es einiges zu verteilen geben. Der Bruder hat schon Fakten geschaffen und verfügt schon jetzt über einen Teil des künftigen Erbes zu seinem Vorteil. Helen kommt nicht mehr an ihn heran. Ihre Versuche, mit ihrem Bruder zu sprechen, werden von ihm geblockt. Helen fühlt sich ungerecht behandelt und leidet.
Alle drei kurz angedeuteten Fälle haben eines gemeinsam: sie sind nicht frei erfunden, sondern spielen sich in der realen Welt ab. Und in allen drei Fällen kam es zu einem Stillstand. Es wird nicht mehr miteinander gesprochen.
Aus der Sicht von Maries Tochter gab es einen triftigen Grund, weshalb sie den Kontakt abbrach. Auch bei Gabrieles Tochter gab es aus ihrer Sicht einen triftigen Grund. Und bei Helens Bruder dürfte sein triftiger Grund darin zu sehen sein, dass er sich nicht „in die Karten schauen“ lassen will.
Dass Marie, Gabriele und Helen sich ungerecht behandelt fühlen und leiden ist vollkommen verständlich. Welche Mutter möchte nicht bei dem ganz besonderen Ereignis der Hochzeit ihrer Tochter dabei sein? Welche Mutter möchte nicht ihr einzigartiges Enkelkind auf dem Arm halten, ihm etwas vorlesen, mitverfolgen, wie es sich entwickelt? Und welche Schwester möchte nicht einen guten Kontakt zu ihrem Bruder, mit dem zusammen sie aufgewachsen ist und mit dem sie sich einmal gut verstanden hat?
Leidet nur eine(r)?
Ist die in den Beziehungen bzw. Nicht-Beziehungen eingetretene Verhärtung immer nur für eine Partei schmerzhaft? Oder ist sie für alle schmerzhaft? Maries Tochter, Gabrieles Tochter und auch Helens Bruder machten irgendwann in ihrem Inneren eine Rechnung auf. Diese brachte sie dazu, den Schmerz des Beziehungsverlusts geringer einzuschätzen als den Schmerz, die Beziehung auszuhalten. Dies bedeutet nicht, dass von den Töchtern und dem Bruder kein Schmerz wahrgenommen würde. Er wird allerdings überlagert.
Wie fühlt es sich für die Töchter an, wenn sie jetzt keine Beziehung mehr zu der Mutter haben, die sie geboren und großgezogen hat? Wie fühlt es sich für den Bruder an, der um des Geldes willen seine Schwester aus seinem Leben ausgeschlossen hat? Macht es ihnen wirklich nichts aus?
Ist nur eine(r) schuld?
Maries Tochter und Gabrieles Tochter fühlten sich im Recht, die Beziehung abzubrechen. Aus ihrer Sicht gab es etwas, was ihre jeweilige Mutter grundlegend falsch gemacht hatte und was sie sehr verletzte. Irgendwann gab es einen Punkt, an dem sich die Töchter bzw. der Bruder sagten: „Ich will nicht mehr!“. Helens Bruder ging es eher darum, ungestört seine Fäden ziehen und sich finanzielle Vorteile verschaffen zu können. Aber natürlich ging ihm Helen auch auf die Nerven und sie störte ihn bei seinem Treiben. Alle behaupten stillschweigend: „Meine Sichtweise ist die einzig Richtige“.
Wer ist schuld an einer Situation? Liegt die Schuld am Beziehungsabbruch nur bei einem bzw. einer der Beteiligten? Lassen sich die Täter-Opfer-Rollen wirklich eindeutig zuweisen? Ist immer nur und vollumfänglich der bzw. die Andere schuld? Oder haben alle ihre jeweiligen Anteile daran, dass es so weit kam?
Wie hat Marie dazu beigetragen, dass ihre Tochter sie aus ihrem Leben ausschloss? Wie hat Gabriele dazu beigetragen, dass ihr auch noch das Enkelkind vorenthalten wird? Und wie hat Helen dazu beigetragen, dass ihr Bruder sie nicht mehr an sich heranlässt?
Ist eine Klärung möglich?
In allen drei Fällen ist die Situation verhärtet. In den Beziehungen zwischen den Müttern und ihren Töchtern und zwischen Schwester und Bruder bewegt sich nichts mehr. Wenn es bei der Verhärtung bleibt, nehmen alle Beteiligten ihre jeweiligen Anteile am Konflikt irgendwann mit ins Grab.
Oft wartet eine sich als Opfer fühlende Person darauf, dass der oder die aus ihrer Sicht Schuldige das Fehlverhalten einsieht, die Initiative ergreift und um Klärung und womöglich auch Verzeihung bittet. Dann kann aus Sicht des Opfers die Beziehung wiederhergestellt werden. Doch allzu oft ist das Warten vergeblich.
Manchmal ist eine Klärung möglich. Eine(r) der Beteiligten ergreift die Initiative und der bzw. die Andere geht darauf ein. Man trifft sich und spricht miteinander. Eine dritte Person, ein Mediator bzw. eine Mediatorin, kann bei einem solchen Gespräch durchaus sehr hilfreich sein.
Leider bleibt es jedoch oft bei der Verhärtung. Das klärende Gespräch wird verweigert. Alle Beteiligten leiden auf die jeweils eigene Art und Weise weiter und empfinden Schmerz. War es Stolz, der zur Verweigerung führte, war es die als nicht wieder gut zu machend empfundene seelische Verletzung, war es die Angst, etwas abgeben zu müssen, oder war es …?
Wer sollte sich zuerst bewegen?
Findet man sich damit ab, wenn es bei Verhärtung und Stillstand bleibt? Muss man sich überhaupt damit abfinden?
Wäre es eine Möglichkeit, sich selbst zuerst zu bewegen und den Versuch zu unternehmen, zu einer Klärung zu gelangen? Schließlich wird man den Anderen nicht dazu zwingen können, sich zu bewegen. Der Andere muss es von sich aus wollen. Und wenn er es nicht will, wird es beim Stillstand bleiben.
Was würde es bringen, dem Anderen die Aufgabe oder gar die Pflicht der Kontaktaufnahme zuzuweisen? „Der Andere ist an der ganzen Situation schuld. Also soll er auch auf mich zukommen und sich entschuldigen“, so könnte ein Gedanke lauten. Der Andere wird sich jedoch möglicherweise „nicht einmal im Traum“ als den Schuldigen sehen, ist vielleicht sogar im Gegenteil der Ansicht, dass er ein reines Gewissen hat, alle Schuld beim Anderen liegt und das eigene Handeln gerechtfertigt ist. „Der Andere hat es verdient!“, mag ein Gedanke sein. Dann warten beide aufeinander und es bewegt sich nichts.
Letzten Endes kann man nur für Bewegung sorgen, wenn man sich selbst bewegt und einen Versuch startet, die Beziehung wieder zu heilen. Vielleicht fällt dieser Schritt schwer, denn es mag die Sorge mitschwingen, dass der Andere dies als eine Art Schuldeingeständnis interpretiert. „Ich habe es doch gleich gewusst. Endlich sieht er seine Schuld ein“, dieser oder ein ähnlicher Gedanke könnte durch den Kopf gehen.
Sich bewegen kann äußerst schmerzhaft sein. Doch ist es wirklich unbedingt wichtig, erst einmal zweifelsfrei festzustellen, wer Täter und wer Opfer ist? Könnte man nicht sogar etwas für sich selbst tun, indem man wenigstens für sich selbst etwas bewegt?
Vergebung – wer könnte wem vergeben?
Leider bleibt es allzu oft bei der Verhärtung. Man fand bis heute nicht zusammen, weil der Andere sich einem Gespräch verweigerte. Alle Beteiligten befinden sich in einer Art Gefangenschaft. Möglicherweise empfinden sich sogar alle Beteiligten als Opfer.
Marie, als Beispiel, sieht sich als Opfer. Aus ihrer Sicht hat ihre Tochter sie einfach „aus ihrem Leben geworfen“. Ihre Tochter sieht sich möglicherweise ebenfalls als Opfer, weil aus ihrer Sicht ihre Mutter sich „Dinge geleistet“ hat, die nie hätten vorkommen dürfen.
Was wäre, wenn Marie sich dazu durchringen würde, ihrer Tochter zu vergeben? Was würde bei Marie geschehen?
Durch Vergebung spricht Marie ihre Tochter von ihrer (moralischen) Schuld gewissermaßen frei. Die Schuld wird ausgeräumt, nicht notwendigerweise entschuldigt. Schuld und Unrecht werden nicht beschönigt, nicht relativiert oder verniedlicht, nicht unter den Teppich gekehrt. Vergebung bedeutet nicht, Unrecht zu akzeptieren. Unrecht bleibt Unrecht. Aber Schuld und Unrecht werden nicht mehr angelastet und auch nicht mehr vorgehalten.
Marie befreit durch ihre Vergebung sich selbst von einer nicht einklagbaren Wiedergutmachung. Sie lässt die Last des ungelösten Konflikts los. Rein äußerlich wird erst einmal keine Veränderung des Verhältnisses zwischen Mutter und Tochter sichtbar sein. Kontakt besteht zwischen ihnen weiterhin nicht. Doch Marie hat sich entscheidend bewegt. Sie hat etwas losgelassen und sich dadurch auch selbst aus ihrer Gefangenschaft befreit. Im Prinzip hat sie gegenüber sich selbst erklärt: „Ich bin nicht vom Verhalten meiner Tochter abhängig, ich bin frei.“
Zweifellos wird Marie auch weiterhin seelischen Schmerz empfinden, wenn sie an das zerrüttete Verhältnis mit ihrer Tochter denkt. Vielleicht wird sie, wenn sie nachts aufwacht, daran denken. Doch jetzt gibt es ein Gegengewicht: sie hält ihrer Tochter nichts mehr vor. Jetzt ist Marie sogar dazu fähig, ihrer Tochter von Herzen alles Gute zu wünschen. Wenn sich die schmerzerfüllten Gedanken wieder melden, kann sie ihnen etwas entgegensetzen: „Ich habe ihr vergeben, und dabei bleibt es. Ich laste es ihr nicht mehr an, sondern wünsche ihr von Herzen alles Gute!“.
Es mag sein, dass Maries Tochter weiterhin Kontaktversuche ihrer Mutter blockiert. Für Vergebung gibt es leider keine Erfolgsgarantie dergestalt, dass eine Beziehung wieder geheilt wird.
Vergebung als Schlüssel?
Ist Vergebung wirklich der Schlüssel für Bewegung und Freiheit? Zur Klärung scheint eine andere Frage zielführend: Was sonst außer Vergebung könnte dazu führen, dass eine zerrüttete Beziehung wieder geheilt werden kann? Das Beharren auf der eigenen Position ist es sicher nicht! Beharren bedeutet Stillstand und dazu noch oft auch Verhärtung – und das Bleiben in Gefangenschaft.
Wenn es keine überzeugenden Alternativen gibt, ist Vergebung tatsächlich der Schlüssel für Bewegung und Freiheit. Und man gibt sich selbst die Chance, seine kostbare Lebenszeit anders zu verbringen als in Unbeweglichkeit und Gefangenschaft.
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