„Die einzige Person, der nicht geholfen werden kann, ist diejenige, die anderen die Schuld gibt.“
Carl Rogers
Carl Rogers (1902-1987) war ein US-amerikanischer Psychologe und Psychotherapeut. Er gilt als wichtiger Vertreter der humanistischen Psychologie. Darüber hinaus ist auf ihn die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie (Personenzentrierter Ansatz) zurückzuführen. Hier wird der Mensch nicht als Objekt, sondern als gleichberechtigte Person betrachtet, die in ihrer gegenwärtigen Lebensphase Hilfe benötigt.
Wer ist schuld?
Bastian (Name geändert) fühlt sich in der Gesellschaft als Außenseiter. Er lebt isoliert, hat so gut wie keine sozialen Kontakte. Seine Eltern sind schon vor Jahren verstorben. Zu Verwandten hat er keinen Kontakt mehr, und er möchte auch überhaupt keinen Kontakt haben. Das familiäre Umfeld, in dem Bastian aufwuchs, bot keine guten Voraussetzungen für eine gute Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen. Wenn man ihn jetzt erlebt, nimmt man Wut und Aggression bei ihm wahr.
Obwohl Bastian sehr intelligent ist und über eine gute Schulbildung verfügt, konnte er im Berufsleben nie richtig Fuß fassen. Beruflich wäre für ihn wesentlich mehr drin gewesen. Gering bezahlte Arbeitsverhältnisse und Zeiten, in denen er von staatlicher Unterstützung lebt, wechseln einander ab.
Wer ist schuld an seiner Situation? Bastian gibt anderen die Schuld. Andere sind dafür verantwortlich, dass er es nicht „gepackt“ hat. Würde man in der richtigen Weise auf ihn eingehen, würde man ihm die „richtige“ berufliche Qualifizierung anbieten, würde man … Und so sieht sich Bastian auch als Opfer.
Eine Lebensaufgabe, etwas, wofür es sich einzusetzen lohnt, etwas, was sein Leben erfüllen und ausfüllen könnte, hat Bastian für sich (noch) nicht entdeckt. Es scheint nichts zu geben, wofür er sich begeistern könnte. Er scheint auch nicht sehr daran interessiert zu sein, es zu entdecken.
„Für nichts mehr sich erwärmen und begeistern können, ist das Zeichen jener, die zu viel nehmen und zu wenig geben wollen.“. Vordergründig scheint diese Diagnose des Schweizer Schriftstellers und Verlegers Emil Oesch auf Bastian zuzutreffen. Aber ist es nur dieses Defizit, sich für nichts erwärmen und begeistern zu können, oder liegen die Ursachen tiefer?
Selbst Verantwortung übernehmen oder andere verantwortlich machen?
Fehleinschätzungen, Misserfolge und Fehlschläge gehören gewissermaßen zum Leben eines jeden Menschen dazu. Wenn einem bewusst wird, dass etwas „schiefgelaufen“ ist und man an der misslichen Situation selbst schuld ist – übernimmt man dann die Verantwortung und versucht, daraus zu lernen? Dies wäre „normales“, erwachsenes Verhalten. Die Schuld wird nicht anderen Menschen, der Gesellschaft als Ganzes, oder sogar Gott oder irgendwelchen „finsteren Mächten“ angelastet. Aber manche Menschen suchen die Schuld gewohnheitsmäßig und immer bei den anderen und erkennen sie nicht bei sich selbst. Weshalb ist dies so?
Wie Schuldzuweisungen klingen können
Schuldzuweisungen klingen häufig in etwa so: „Ich wäre ja damit fertig geworden, aber weil …“, „Hätten die anderen …, dann hätte ich …“ oder „Ich hätte ja …, wenn nicht …“. Eine Bedingung, die außerhalb des eigenen Einflussbereichs liegt, wird als nicht erfüllt angesehen. Eine Schuldzuweisung kann jedoch auch nach dem „Ja, … aber“-Muster konstruiert sein. „Ja, … ist schiefgelaufen, aber weil … konnte ich nicht …“, ist dafür ein Beispiel.
Manchmal ist es nicht gleich erkennbar: Handelt es sich einfach um Ausreden oder um eine zum Charakter gehörende Eigenschaft, ständig anderen Schuld für eigene Fehler zuzuweisen?
Ausreden sind nicht selten durch Bequemlichkeit motiviert. Sie werden genutzt, um nicht selbst handeln zu müssen. Oft wird auch „ausgetestet“, ob andere den „Köder“ einer Ausrede „schlucken“ und wie weit man gehen kann. Wenn es gelingt, anderen die Schuld zuzuweisen, muss man bei sich selbst nichts ändern.
Schutz des Selbstwertgefühls
Hinter Schuldzuweisungen an andere verbirgt sich jedoch häufig sehr viel mehr. Wenn man beispielsweise einen folgenschweren Fehler begeht, geht dies am Selbstwertgefühl nicht spurlos vorüber. „Ich bin auch zu doof, weil ich da nicht aufgepasst habe“, wäre beispielsweise ein Gedanke, der das Selbstwertgefühl angreifen kann. Jemand anderem die Schuld zuweisen ist eine Art Selbstschutz: „Weil … mir in die Quere kam, konnte ich nicht …“, wäre eine Möglichkeit, den eigenen Fehler zu leugnen und das Selbstwertgefühl zu schützen.
Verlorene Zuversicht
Verlorene Zuversicht kann ein weiteres Motiv für Schuldzuweisungen an andere sein. So könnten Bastians Schuldzuweisungen an andere auch dadurch motiviert sein, dass er die Zuversicht verloren hat und keine Perspektive für eine „gute“ Zukunft mehr sieht. Er ist entmutigt, hat vielleicht schon innerlich resigniert, weil er beruflich und auch sonst weit hinter seinen Möglichkeiten geblieben ist und sich auch im sozialen Miteinander nicht integrieren konnte.
Bei nüchterner Betrachtung wird sich an seiner Situation nicht mehr viel ändern. Selbst im mittleren Lebensalter, das er schon erreicht hat, lassen sich berufliche Weichen durchaus noch anders stellen. Doch dazu fehlt es ihm an Initiative. Der Weg in die Selbstständigkeit, die aufgrund seiner Fähigkeiten und Kompetenzen sicherlich auch überlegenswert und möglich wäre, ist für ihn keine Option.
Indem er eine Art „Blitzableiter“ für seine Frustration, Wut und Aggression sucht und anderen die Schuld zuweist, flüchtet er aus der Verantwortung, entlastet sich selbst von Verantwortung. So bleibt es dabei: die anderen sind schuld.
Schuldzuweisung als Merkmal einer Persönlichkeitsstörung?
Fehlendes Schuldbewusstsein kann auch Anzeichen für eine dissoziale Persönlichkeitsstörung sein. Diese Form der Persönlichkeitsstörung, auch als antisoziale Persönlichkeitsstörung (APS) bezeichnet, gilt als schwere und potenziell gefährliche Persönlichkeitsstörung (Code F60.2 gemäß ICD 10, Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen).
Bei Menschen mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ist die Frustrationstoleranz oft nur gering ausgeprägt. In ihre Mitmenschen können sie sich kaum oder sogar überhaupt nicht einfühlen. Sie handeln verantwortungslos und missachten soziale Normen, Regeln und Verpflichtungen. Auch fehlendes Schuldbewusstsein ist typisch. Und sie können durchaus plausible Erklärungen für ihr unsoziales Verhalten darbieten.
Menschen mit dieser Störung kann es durchaus leichtfallen, Beziehungen zu knüpfen. Es verwundert jedoch nicht, dass sie keine langanhaltenden Beziehungen erleben. Beziehungen können wegen des (sehr) geringen Einfühlungsvermögens in andere keine Tiefe gewinnen. Diesen Menschen fällt es schwer, persönliche Grenzen zu respektieren und auf ihre Mitmenschen Rücksicht zu nehmen.
Eine antisoziale Persönlichkeitsstörung fällt meist schon im Kindes- und Jugendalter auf, wird jedoch nicht immer als solche erkannt. Kinder bzw. Jugendliche missachten gesellschaftliche Regeln und Normen, beispielsweise durch Schuleschwänzen, Stehlen oder häufiges Lügen. Sie sind nicht in der Lage, ihr Verhalten anzupassen. Die voll ausgeprägte Symptomatik zeigt sich meist erst im frühen Erwachsenenalter.
Ob sich schon frühzeitig eine antisoziale Persönlichkeitsstörung entwickelt, entscheidet sich auch daran, wie die Eltern ihre Vorbildfunktion wahrnehmen. Deren Vermittlung der für das Zusammenleben in der Gesellschaft wichtigen moralischen Werte, von sozialen Normen, hat weitreichenden Einfluss auf die Kindesentwicklung. Wenn ein Kind keine sozialen Normen verinnerlicht, kann dies dazu führen, dass es sich unsozial und aggressiv gegenüber Menschen und Tieren verhalten wird.
Im Erwachsenenalter ist eine antisoziale Persönlichkeitsstörung nur noch schwer zu behandeln. Entscheidend wichtig ist, dass der Betroffene einsieht, dass seine Einstellung und sein Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen problematisch sind. Der Betroffene müsste sich bewusst machen wollen, dass es für ihn wichtig ist, sich in andere Menschen einzufühlen. Gerade diese Einsicht fehlt jedoch meist und dieses Fehlen erweist sich dann oft als unüberwindbare Hürde. Speziell für eine antisoziale Persönlichkeitsstörung entwickelte Medikamente gibt es nicht.
Schuldzuweisung – ein breites Spektrum
Anderen die Schuld geben – in der Tat ist das Spektrum möglicher Gründe und Motive sehr breit und vielfältig. Es reicht von der bequemen Ausrede bis hin zur dissozialen Persönlichkeitsstörung. Anderen Menschen gewohnheitsmäßig Schuld zuweisen ist jedoch in keinem Fall ein Zeichen der Stärke. Im Gegenteil: es ist Zeichen einer Schwäche.
So vielfältig die Gründe und Motive für die gewohnheitsmäßige Schuldzuweisung an andere ist, so unterschiedlich sind auch die Reaktionsmöglichkeiten darauf. Um jedoch angemessen reagieren zu können, muss man in der Lage sein, die Charakterzüge des „Schuldabladers“ einigermaßen einzuschätzen.
Alles hängt von der Einsichtigkeit des „Schuldabladers“ ab. Bei gewohnheitsmäßigen bequemen Ausreden ist diesem durchaus bewusst, dass er den für ihn einfachen Weg gehen möchte. Bei einer antisozialen Persönlichkeitsstörung ist dies hingegen kaum bewusst, denn der Betroffene hat es schließlich in seiner Familie nicht anders gelernt.
Einen „Schuldablader“ kann man nicht ändern. Man kann sich nur abgrenzen und gut für sich selbst sorgen. Die Kommunikation gelingt zufriedenstellender, wenn man sich ohne Vorwurf mitteilt und seine Ansicht oder Meinung sachlich äußert. Vorwürfe können nichts zur Lösung beitragen, sondern erzeugen Widerstand und begünstigen eine Eskalation hin zu einer heftigen Auseinandersetzung. Sogenannte „Ich-Botschaften“, wie beispielsweise „Für die verspätete Meldung bin ich nicht verantwortlich. Ich habe sie am … versendet“, vermeiden, dass sich der Andere angegriffen fühlt.
Verantwortung übernehmen – der Weg aus der Schuldzuweisung?
Bastian schiebt gewohnheitsmäßig die Verantwortung für sich auf andere ab. Niemand wird jedoch Verantwortung für ihn übernehmen. Weshalb sollte dies jemand tun? Schließlich ist er schon lange volljährig und kann für sich selbst sorgen.
Der Einzige, der für sein Leben die Verantwortung übernehmen kann, ist Bastian selbst. Möchte er für sich Verantwortung übernehmen? Solange er anderen Schuld zuweist und sich selbst als Opfer sieht, wird er in seinem Leben keine Veränderung erleben.
Bastian müsste sich als Gestalter und Verantwortlichen seines Lebens wahrnehmen. Diese Verantwortung umfasst Vergangenheit und Gegenwart und sämtliche Lebensbereiche. Er würde Verantwortung übernehmen für seine eigene Geschichte bis hin zu seiner aktuellen Lebenssituation, für seine Stärken und Schwächen, für sein Handeln und Nichthandeln, für seine Entscheidungen und seine versäumten Entscheidungen, und auch für seine sozialen Beziehungen.
Ab dem Moment, in dem er selbst Verantwortung für sich übernimmt und nicht mehr anderen die Schuld gibt, gibt es Hoffnung für Bastian. Dann blockiert er sich nicht mehr selbst und seine Einstellung gegenüber anderen und der Gesellschaft im Allgemeinen verändert sich. Er bricht aus seiner Opferrolle aus und kann sich selbst als Gestalter wahrnehmen. Und er zeigt Stärke. Verantwortung übernehmen ist ein eindeutiges Zeichen der Stärke.
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