„Die Hoffnungslosigkeit ist schon die vorweggenommene Niederlage. Sie ist nicht erlaubt, solange der Mensch noch etwas zu tun vermag.“
Karl Jaspers
Karl Theodor Jaspers (1883-1969) war ein deutscher Psychiater und Philosoph. Als Arzt trug er grundlegend zur wissenschaftlichen Entwicklung der Psychiatrie bei. Sein umfangreiches philosophisches Werk gewann insbesondere in den Bereichen der Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie und der Interkulturellen Philosophie große Bedeutung.
Im Himalaya abgestürzt
Im Mai 2014 kam es im Himalaya zu einem Bergunfall. Der US-amerikanische Wissenschaftler John All, Professor für Geografie und Umweltstudien, zudem auch Bergsteiger, stürzte rund 22 Meter tief in eine Gletscherspalte. Beim Sturz brach er sich mehrere Rippen und den rechten Arm, kugelte sich die Schulter aus und zog sich noch dazu innere Verletzungen zu.
In einem Gespräch mit National Geographic berichtete John All, dass er zusammen mit zwei anderen Teammitgliedern am Himlung gewesen sei, einem Berg in der Nähe des Annapurna an der Grenze zwischen Tibet und Nepal. Einer Person sei es nicht gut gegangen und so habe sich der andere Bergsteiger bereit erklärt, sie nach unten zu bringen.
John All entschied sich dafür, alleine zurückzubleiben, in dieser Umgebung eine riskante Entscheidung. Nachdem die beiden anderen gegangen waren, ging er los, um etwas Wasser für Kaffee zu holen und ein paar Schneeproben zu sammeln. Da die Sonne schien, war er lediglich mit einer leichten Jacke bekleidet. Die Stirnlampe und das Satellitentelefon ließ er zurück. Plötzlich brach er durch die Schneedecke ein und fiel in eine Gletscherspalte.
Ein Eisblock hielt seinen Fall auf. Seine Beine hingen über dem Abgrund. Er konnte sich kaum bewegen, da er sich den Arm ausgekugelt und alle Knochen in einer Schulter und einem Arm gebrochen hatte. Er dachte schon, er würde in dieser unwirtlichen Umgebung sterben. Dennoch versuchte er, wieder nach oben zu kommen. Durch die Verletzungen bedingt kam er nur langsam voran. Rund sechs Stunden benötigte er, um wieder nach oben und weitere drei Stunden, um mit letzter Kraft in sein Zelt zu gelangen.
In seinem Zelt gelang es ihm, eine Nachricht mit der Bitte um dringende Hilfe abzusetzen. Allerdings konnte der Helikopter wegen schlechten Wetters nicht sofort starten. Deshalb musste er die Nacht in seinem Zelt verbringen. Er litt Durst, konnte jedoch seine Feldflasche mit Wasser nicht öffnen. Die Kälte setzte ihm zu und verursachte Erfrierungen an den Fingern. Am nächsten Morgen konnte schließlich ein Helikopter auf rund 6.000 Meter Höhe gelangen, ihn an Bord nehmen und zur ärztlichen Versorgung in ein Krankenhaus nach Kathmandu fliegen.
Wann ist hoffnungslos wirklich hoffnungslos?
War John All in einer hoffnungslosen Situation? Man kann einerseits bejahen, andererseits aber auch verneinen. Es ist eine Frage der Sichtweise. Und für beide Sichtweisen gibt es Argumente.
Die Situation erscheint hoffnungslos, wenn man sich die Umstände anschaut. John All war schwerverletzt, hatte nur minimale Ausrüstung dabei. Die Wände der Gletscherspalte fielen steil ab. Bei einer ungeschickten Bewegung beim Aufstieg bestand die Gefahr, erneut abzustürzen, vielleicht sogar noch tiefer. Dann war da noch die Kälte in rund 6.000 Meter Höhe.
Die Situation erscheint nicht hoffnungslos, wenn man den Blick auf die Ressourcen richtet. John All ist auch Bergsteiger und wusste, wie man sich in schwierigem Gelände verhält und bewegt. Sicherlich zeigte sich in dieser Situation auch sein Lebenswille. Er kam wohl zum Schluss, dass er zumindest eine Chance hatte. Er schätzte sich so ein, dass er trotz seiner schweren Verletzungen den Aufstieg schaffen konnte und machte sich an den beschwerlichen Aufstieg.
Es ist eine Entscheidungssache, ob man eine Situation als hoffnungslos ansieht, zumindest solange sie nicht objektiv hoffnungslos ist. Wäre John All bewegungsunfähig gewesen, hätte er objektiv keine Chance auf Rettung gehabt. Er hätte keinen Notruf absetzen können, da das Satellitentelefon für ihn unerreichbar in seinem Zelt lag. Hilfe hätte keinesfalls mehr rechtzeitig eintreffen können. Er hätte unweigerlich erfrieren müssen.
Wenn noch eine Chance besteht, gibt es im Grunde zwei Möglichkeiten: auf die schwierigen Umstände oder auf die eigenen Ressourcen zu schauen. Der Blick auf die Umstände wird eher entmutigen, der Blick auf die eigenen Ressourcen eher stärken.
In wirtschaftlichen Schwierigkeiten
Stefan (Name geändert) war selbstständig und in der Dienstleistungsbranche tätig. Er sah Chancen in der Entwicklung eines eigenen Produkts, das sein spezifisches Know-how verkörperte und das es nach Erkenntnissen seiner Recherche auf dem Markt noch nicht gab. Es würde vor allem von Groß- und mittelständischen Unternehmen nachgefragt werden.
Das Produkt würde eine Art Türöffner für seine Beratungsleistungen sein. Er müsste auf Jahre hinaus nicht mehr aufwändig akquirieren, so sein Kalkül. Die Akquise zählte zu den Aufgaben, die er überhaupt nicht mochte und die ihm schwerfielen. Er hoffte darauf, dass sich potenzielle Kunden an ihn wenden würden und er sich darauf konzentrieren konnte, was er wirklich gerne machte.
Leider war Stefan in Sachen Marketing nicht sehr geschickt. Er vertraute darauf, dass das Produkt, das er über seine Firmen-Website publik machte, schon bekannt werden und die zur Zielgruppe gehörenden Unternehmen über Internet-Recherche darauf stoßen würden. Er investierte sehr viel Zeit in die Entwicklung und vernachlässigte das Marketing.
Die Entwicklung zog sich über einen längeren Zeitraum hin. Das Produkt wurde fertiggestellt, aber die Nachfrage blieb weitgehend aus. Stefans Hoffnungen erfüllten sich nicht. Darüber hinaus waren auch die finanziellen Rücklagen aufgebraucht. Jetzt substanziell in Marketing zu investieren war nicht mehr möglich. Einen Bankkredit zu erhalten versuchte er erst gar nicht, denn die Bilanz sah überhaupt nicht gut aus.
Die Situation schien hoffnungslos und bereitete Stefan schlaflose Nächte. Doch war die Situation wirklich hoffnungslos? Der Blick auf die Umstände ließ die Situation in der Tat als hoffnungslos erscheinen. Ohne Marketing würde es viel zu lange dauern, bis das Produkt die notwendigen Verkaufszahlen erreicht hätte. Und bis dahin wäre Stefan garantiert pleite.
Der Blick auf seine Ressourcen ließ die Lage nicht (mehr) so hoffnungslos erscheinen. Stefan hatte sich spezifisches Know-how angeeignet. Es ergab sich, dass ein Unternehmen genau dieses spezifische Know-how nachfragte. Das Unternehmen war nicht an seinem Produkt interessiert. Für Stefan ergab sich die Möglichkeit, für dieses Unternehmen tätig zu werden und finanziell wieder in bessere Fahrwasser zu geraten.
Hoffnungslosigkeit – die vorweggenommene Niederlage
Für Karl Jaspers gewannen die Begriffe „Hoffnung“ und „Hoffnungslosigkeit“ besondere Bedeutung. Er erlebte zwei Weltkriege und die damit verbundenen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Turbulenzen. Während der Zeit des Dritten Reiches wurde er beruflich benachteiligt. Schon bald nach der Machtergreifung Hitlers wurde er – seit 1916 lehrte er an der Universität Heidelberg – aus der Universitätsverwaltung ausgeschlossen. 1937 wurde er zwangspensioniert. 1938 wurde ihm zunächst ein inoffizielles, ab 1943 ein offizielles Publikationsverbot auferlegt. Dessen ungeachtet setzte Karl Jaspers seine Arbeiten und Studien konsequent fort. Er hatte Hoffnung, dass auch wieder andere Zeiten kommen würden und seine Arbeit nicht vergebens sein würde.
Immer wieder geraten Menschen in scheinbar hoffnungslose Situationen. Der Blick auf die Umstände lähmt und kann zur Resignation führen. Wofür lohnt es sich noch, jeden Tag aufzustehen und sich für etwas einzusetzen? Wofür lohnt es sich noch zu kämpfen?
Auch im Sport ist es nicht ungewöhnlich, scheinbar hoffnungslos zurückzuliegen. Beispielsweise lag der FC Liverpool im denkwürdigen Finale der Champions League im Jahr 2005 gegen den AC Mailand zur Pause mit 0:3 Toren zurück. Der AC Mailand galt schon im Vorfeld als der große Favorit, nicht zuletzt auch wegen des deutlich höheren Marktwerts seiner Spieler. Die Situation schien hoffnungslos. Doch das Unerwartete geschah: der FC Liverpool schaffte in der zweiten Halbzeit den Ausgleich und gewann schließlich nach torloser Verlängerung im Elfmeterschießen.
Hätte der FC Liverpool in der zweiten Halbzeit auf die Umstände geschaut und auf Ergebnissicherung gespielt, um nicht noch höher zu verlieren, wäre es eine vorweggenommene Niederlage gewesen. Die Mannschaft lag zwar zurück, aber sie konnte noch kämpfen. Kämpfen und auf die eigenen Ressourcen vertrauen war schließlich die einzige Alternative. Indem sie dies taten, hatten sie sich selbst die vorweggenommene Niederlage nicht erlaubt.
Natürlich hätte es sein können, dass alles Kämpfen nichts nützt und am Ende aus einem 0:3 vielleicht sogar noch ein 0:4 oder eine noch höhere Niederlage wird. Aber man hatte es wenigstens versucht und konnte sogar das sprichwörtliche Ruder letztendlich noch herumreißen und als Sieger den Platz verlassen.
Hoffnungslosigkeit verbieten – sich selbst
Was geschieht, wenn eine Situation objektiv nicht hoffnungslos ist, man also noch etwas tun kann und sich selbst die Hoffnungslosigkeit verbietet? Dann zwingt man sich zum einen, auf seine Ressourcen zu schauen. Es gibt immer etwas, das man gut oder vielleicht sogar besonders gut kann. Man hat schließlich ein Fähigkeiten- und Kompetenzenprofil. Und man kann immer auch auf etwas zurückschauen, was man in der Vergangenheit schon geschafft hat. Zum anderen zwingt man sich zum Kämpfen. Man lässt sich nicht hängen, steht weiterhin jeden Tag auf und arbeitet daran, dass sich die Situation zum Besseren wendet. Es mag schließlich sein, dass sich, wie bei Stefan, plötzlich eine Tür auftut und sich neue Möglichkeiten ergeben. Bildlich gesprochen, hat man „mit laufendem Motor“ auf seine Chancen geachtet und sie genutzt, wenn sie sich ergeben haben.
Möglicherweise steht am Ende dennoch eine Niederlage, trotz allem Engagement. Man hat alles gegeben, aber es hat nicht (ganz) gereicht. War dann alles umsonst? Sicherlich nicht, denn persönlich hat man trotzdem zumindest in einer Hinsicht gewonnen: Man hat es wenigstens versucht, man hat sich nicht einfach hängen lassen.
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