„Liebe ist Selbstwerden in Selbsthingabe.“
Karl Jaspers
Karl Theodor Jaspers (1883-1969) war ein deutscher Psychiater und Philosoph. Als Arzt trug er grundlegend zur wissenschaftlichen Entwicklung der Psychiatrie bei. Sein umfangreiches philosophisches Werk gewann insbesondere in den Bereichen der Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie und der Interkulturellen Philosophie große Bedeutung.
Selbstwerden – Geschichte eines Ehepaars
Karin und Helmut (Namen geändert) sind das, was man als ein „normales“ Ehepaar bezeichnen kann. Mittlerweile sind sie auf dem Weg zu ihrer Goldenen Hochzeit. Sie haben zwei Töchter, die ebenfalls verheiratet sind und Familie haben.
Selbstwerden war in ihrer Ehe nie ein Thema. Aber es geschah trotzdem.
Helmuts Geschichte
Helmuts Eltern wohnten mit den Großeltern väterlicherseits in einem Haus. Er hatte seine Eltern nie als glückliches Paar wahrgenommen. Wie hatten zwei so unterschiedliche Persönlichkeiten überhaupt zusammengefunden? Und warum hatten sie sich dann zur Heirat entschlossen? Helmut vermutete, dass er der Grund war, denn seine Mutter war bei der Heirat etwa im dritten Monat schwanger. Und zu jener Zeit galt es in dem kleinen Dorf ein uneheliches Kind noch als Stigma.
Die Großeltern waren Helmuts Rückzugsort. Sie gaben ihm Wärme. Bei ihnen fühlte er sich geborgen.
Helmuts Vater hatte einen Beruf, der vom Frühjahr bis zum Herbst viele Aufenthalte an entfernten Orten mit sich brachte. Der Vater übernachtete dort, da die Wegstrecke nach Hause zu weit war. Helmut kannte es nicht anders als dass sein Vater zwar für das Familieneinkommen sorgte, aber in der Familie oft nicht präsent war. Da Helmut ein distanziertes Verhältnis zu seinem Vater hatte, vermisste er ihn nicht. Seine Mutter war gewissermaßen eine alleinerziehende Mutter. Je älter Helmut wurde, desto mehr schien sie sich an ihn zu klammern.
Schließlich scheiterte die Ehe von Helmuts Eltern. Sein Vater ging fremd und lernte nach einiger Zeit eine Frau kennen. Er verlangte die Scheidung und zog aus der gemeinsamen Wohnung aus. Von da an begegnete Helmut seinem Vater nur noch selten. Erst nach Helmuts Heirat und der Geburt der Kinder gab es wieder eine Annäherung, da Karin und Helmut der Meinung waren, dass die Enkelkinder ihrem Großvater nicht entzogen werden dürfen.
Karins Geschichte
Karin wuchs in völlig anderen Familienverhältnissen auf. Auch ihre Mutter kümmerte sich um Haushalt und Kinder. Und auch ihr Vater sorgte für das Familieneinkommen und machte zeitweise viele Überstunden. Aber seine Arbeitszeiten waren geregelt und auswärtige Aufenthalte gab es nicht.
Karins Eltern verstanden sich gut und gaben der Familie ein „warmes Nest“. Auch ihre Eltern waren wesensmäßig sehr verschieden, aber sie wertschätzten und respektierten sich gegenseitig. Karin mochte die warmherzige Art ihres Vaters sehr und verbrachte viel Zeit mit ihm, beispielsweise bei der Gartenarbeit. Sie arbeitete sehr gerne mit ihrem Vater zusammen.
Die gemeinsame Geschichte
Karin und Helmut lernten sich kennen und lieben. Die unterschiedlichen familiären Hintergründe und ihre unterschiedlichen Geschichten brachten sie beide in ihre Ehe ein.
Die beiden Töchter wurden schon in den ersten Ehejahren geboren. Zeit für sich alleine mit relativer Ungebundenheit kannten Karin und Helmut nur zu Beginn ihrer Ehe. Nach der Geburt des ersten Kindes widmete sich Karin vollständig dem Haushalt und der Kindererziehung, während Helmut berufstätig war.
Helmut investierte in seine berufliche Tätigkeit sehr viel Zeit. Er hatte in der Firma, in der er tätig war, eine verantwortungsvolle Position. Nicht selten arbeitete er bis in die Abendstunden und manchmal sogar auch nachts. Nach einigen Jahren erfüllte sich Helmut seinen Wunsch und machte sich selbstständig. Seine Arbeitsbelastung wurde dadurch natürlich nicht geringer, sondern eher noch höher.
Dass Helmut für seinen Beruf so viel Zeit investierte, blieb für die Familie nicht ohne Konsequenzen. Zum einen kam Karin zu kurz, zum anderen auch die Kinder. Und auch Helmut selbst kam zu kurz, denn ihm entging Zeit mit seiner Frau und seinen Kindern. Heute fehlen ihm viele Erinnerungen an ihre Kindheit. Wenn Karin heute gelegentlich Begebenheiten aus den ersten Lebensjahren ihrer Kinder erzählt, kommt es Helmut manchmal geradezu vor, als hätte er diese Zeit überhaupt nicht miterlebt.
Was für Helmut „normal“ war, die Abwesenheit seines Vaters über längere Strecken, übertrug er gewissermaßen auch auf seine eigene Familie. Und er nahm in gewisser Weise auch die „Sprachlosigkeit“ seiner Eltern in seine Beziehung mit.
Karin litt unter Helmuts Fokussierung auf seinen Beruf. Sie fühlte sich zu kurz gekommen. Sie wurde durch die Kinder sehr in Anspruch genommen, aber sie waren natürlich kein Ersatz für Helmut. Ihr fehlte die eheliche Kommunikation.
Selbstwerden und Selbsthingabe – ein Widerspruch?
Karin und Helmut gingen während ihrer Ehe gemeinsam über Höhen und durch Tiefen. Ihre Liebe zueinander blieb. Sie gaben einander auch in schwierigen Zeiten nicht auf.
Bei beiden hatte das Selbstwerden in der Kindheit begonnen, wie bei allen anderen Menschen auch. Sie entwickelten sich zu jungen Erwachsenen, die jeder für sich ihr Leben führen konnten. Sie waren beide zu einem Selbst geworden, aber eben zu einem Selbst, dessen Entwicklung noch nicht abgeschlossen war. Wie sollte das Selbstwerden in der Ehe weitergehen?
Karl Jaspers war der Ansicht, dass jeder Mensch zum Selbstwerden die Kommunikation und Auseinandersetzung mit anderen Menschen braucht. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass man in der Vereinzelung nicht zu sich selbst finden kann. Er drückte es so aus: „Ich bin nur mit dem anderen – allein bin ich nichts.“
Das Selbstwerden kann umso besser gelingen, je mehr beide Partner sich öffnen, zeigen und sich auch infrage stellen lassen. Masken werden fallen gelassen, auf strategische Spiele wird verzichtet, Rollen werden aufgegeben.
In dem Buch „Was ist der Mensch?“ * führt Karl Jaspers aus: „Ohne existentielle Kommunikation ist alle Liebe fragwürdig. Wenn auch die Liebe nicht begründet, so ist sie doch keine Liebe, die nicht in Kommunikation sich bewährt. Wo Kommunikation endgültig abbricht, hört Liebe auf, weil sie Täuschung war; wo sie aber wirklich war, kann die Kommunikation nicht aufhören, sondern muss ihre Gestalt verwandeln. Kommunikation ist die von der Liebe erfüllte Bewegung im Zeitdasein, welche auf das Einswerden zu gehen scheint, aber im Einsgewordensein aufhören muss. Das Zweisein lässt die Liebe nicht zur Ruhe kommen.“.
Diese existentielle Kommunikation (zwei Menschen sind authentisch und kommen miteinander in einen Austausch über ihre eigene Existenz, ihre Wahrheit, ihre Situation, ihre Möglichkeiten usw. und verbinden sich dadurch) verknüpft Selbstwerden und Selbsthingabe. Er beschrieb es so: „Wo ich mich wahrhaft ganz, ohne Rückhalt, gebe, finde ich mich selbst. Wo ich mich auf mich selber wende und Reserven festhalte, werde ich lieblos und verliere mich. Die Liebe hat ihre Tiefe im Verhältnis von Existenz zu Existenz.“.
Selbstwerden und Selbsthingabe schließen sich nicht gegenseitig aus, wie man zunächst vermuten könnte. Beides gehört zusammen. Und Selbstwerden und Selbsthingabe verlangen Vertrauen, in sich selbst und in den Anderen.
Selbsthingabe bedeutet auch nicht Selbstaufgabe. Diesen Aspekt beleuchtet der Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm in seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ **, wenn er von der reifen Liebe spricht: „Im Gegensatz zur symbiotischen Vereinigung ist die reife Liebe eine Vereinigung, bei der die eigene Integrität und Individualität bewahrt bleibt.“. Und er schrieb weiter: „In der Liebe kommt es zu dem Paradoxon, dass zwei Menschen eins werden und trotzdem zwei bleiben.“.
„In der Liebe kommt es zu dem Paradoxon, dass zwei Menschen eins werden und trotzdem zwei bleiben.“
Erich Fromm
Das Zwiegespräch – ein Katalysator für existentielle Kommunikation
Karin und Helmut entdeckten während einer Krisenzeit das Konzept des Zwiegesprächs. Dieses Konzept wird von dem Psychoanalytiker und Paartherapeuten Michael Lukas Moeller in seinem Buch „Die Wahrheit beginnt zu zweit – Das Paar im Gespräch“ *** dargestellt.
Moeller empfiehlt Paaren, sich einmal pro Woche Zeit für ein Zwiegespräch einzuplanen, gewissermaßen ein Jour Fixe für die Beziehung. Als Dauer des Zwiegesprächs empfiehlt Moeller 90 Minuten, in denen jeder Partner etwa 45 Minuten zu Wort kommt. Jeder der beiden Partner bleibt ganz bei sich und spricht über sich.
Natürlich fand auch bei Karin und Helmut eheliche Kommunikation statt. Was den Alltag und dessen Gestaltung, was Zukunftsplanungen usw. anbetraf, gab es vieles zu besprechen. Aber diese Dinge wurden besprochen, wenn es Zeit dafür gab oder wenn beide in der Stimmung dazu waren, manchmal aber auch „zwischen Tür und Angel“.
Zwiegespräche sind zeitlich fest umgrenzt. Natürlich kann auch von der 90-Minuten-Regel abgewichen werden, aber es bleibt dennoch ein abgesteckter Zeitrahmen. „Wir reden einfach solange miteinander wie wir Lust dazu haben“, entspricht nicht dem Geist des Zwiegesprächs. Die zeitliche Begrenzung hilft dabei, nicht zu viel in ein Gespräch zu packen und sich oder einander nicht zu überlasten.
Außerdem lassen sich beide Partner verbindlich auf regelmäßig wiederkehrende Zwiegespräche ein. Für ein Zwiegespräch wird eine vollkommen ungestörte Atmosphäre geschaffen. Alle Kommunikationsmedien werden konsequent ausgeschaltet. Für andere ist man während eines Zwiegesprächs nicht erreichbar.
Das Zwiegespräch kann als Katalysator für existentielle Kommunikation angesehen werden. Moeller charakterisiert Zwiegespräche in seinem Buch als „Identitätswerkstätten“: „Ich erblicke mich im andern, er spiegelt mich zurück. […] So verstehe ich, wer ich bin. […] Das Zwiegespräch, der ‚Platz ohne Flucht‘, wird zum ‚Ort der Selbstbeantwortung‘.“.
Für Karin und Helmut waren die Zwiegespräche eine sehr gute Erfahrung. Helmut hatte manchmal Schwierigkeiten, seine 45 Minuten auszufüllen. Aber dann schwieg er eine Weile und dachte nach. Beide erfuhren viel übereinander und konnten sich selbst und einander besser verstehen. Die Aussage von Karl Jaspers: „Liebe ist Selbstwerden in Selbsthingabe.“ kannten sie noch nicht. Heute würden sie ihr wahrscheinlich zustimmen.
Für Helmut waren die Zwiegespräche auch schmerzlich, letzten Endes aber doch auch heilsam. Ihm wurde bewusst, wie viel er verpasst hatte. Er hatte seinen Beruf über alles gestellt und dabei unwiederholbare Zeiten verpasst, in denen seine Kinder aufwuchsen. Und auch bei Karin hatte er einiges verpasst. Aber er konnte die Prioritäten für die Zukunft in seinem Leben anders setzen. Heute würde er es wohl eher mit Mahatma Gandhi halten: „Verzichte und genieße“ (Gandhi antwortete auf die Frage, ob er sein Leben in 25 Worten zusammenfassen könnte: „Das kann ich in drei!“).
* Karl Jaspers: Was ist der Mensch?: Philosophisches Denken für alle, Piper Taschenbuch
** Erich Fromm: Die Kunst des Liebens, dtv Taschenbuch
*** Michael Lukas Moeller: Die Wahrheit beginnt zu zweit – Das Paar im Gespräch, rororo Taschenbuch
* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)