Auch das gesteigertste psychologische Verstehen ist kein …Lesezeit: 8 Min.

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„Auch das gesteigertste psychologische Verstehen ist kein liebendes Verstehen.“

Karl Jaspers
Auch das gesteigertste psychologische Verstehen, K. Jaspers - Gestaltung: privat
Gestaltung: privat

Karl Theodor Jaspers (1883-1969) war ein deutscher Psychiater und Philosoph. Als Arzt trug er grundlegend zur wissenschaftlichen Entwicklung der Psychiatrie bei. Sein umfangreiches philosophisches Werk gewann insbesondere in den Bereichen der Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie und der Interkulturellen Philosophie große Bedeutung.

Der Überempfindliche – eine Last aus der Kindheit

Christian (Name geändert) fühlte sich oft unsicher und minderwertig. An das Verhältnis zu seinem Vater in Kindheit und Jugendzeit erinnert er sich nicht gerne. Sein Vater war handwerklich sehr geschickt, Christian hatte hingegen zwei „linke Hände“. So sah es jedenfalls sein Vater. Er konnte die Erwartungen seines Vaters, in ihm einen Sohn zu haben, der ihn bei seinen handwerklichen Arbeiten unterstützen konnte, nicht erfüllen.

In Gegenwart anderer Menschen machte ihn sein Vater manchmal lächerlich oder sprach sehr abfällig über ihn. Noch heute, Jahrzehnte später, bleiben diese Verletzungen seiner Seele unvergessen. Christian fühlte sich von seinem Vater abgelehnt. Er kann sich heute nicht erinnern, von seinem Vater jemals für etwas gelobt worden zu sein. So ging er ihm aus dem Weg, wo er nur konnte.

Es verwundert nicht, dass Christian ein negatives Selbstbild hatte und auch negative Denkmuster in Bezug auf sich selbst entwickelte. Aus Angst vor Zurückweisung, Ablehnung oder Abwertung hielt er sich bei sozialen Kontakten zurück. Andere Menschen, die mit ihm in Kontakt kamen, nahmen ihn als zurückhaltend und verschlossen wahr. Auf Kritik reagierte er überempfindlich. Und er tendierte auch dazu, Gesagtes schnell als Kritik an sich aufzufassen.

Wer kann verstehen?

Konnte Christian sich selbst verstehen? Konnte er verstehen, warum er so geworden war, wie er war? Alleine konnte er es nicht.

Verstehen bedeutet, den Sinn von etwas erfassen, einen Gedankengang, einen Zusammenhang verstehen. Bei Christian waren psychische Phänomene wahrnehmbar (als psychische Phänomene werden Äußerungen der Psyche, wie beispielsweise Angst (Angst vor Spinnen, Höhenangst usw.), Freude (Freude über einen Sieg der Lieblings-Fußballmannschaft, Freude über die Geburt eines Kindes usw.), Trauer (Trauer über den Tod eines geliebten Menschen, Trauer über die nicht bestandene Prüfung usw.). Wut (Wut über unfaire Behandlung, Wut über Kränkung usw.) oder Aggression (körperliche Aggression durch Schlagen, verbale Aggression durch Anschreien usw.) verstanden). Wer kann diese psychischen Phänomene verstehen oder beim Verstehen helfen, wenn man es selbst nicht kann?

In erster Linie sind es Personen mit einer qualifizierten psychologischen Ausbildung (z. B. Psychologe, Psychotherapeut), die auf Basis ihres Fachwissens psychische Phänomene erkennen und einordnen sowie Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung auf die Psyche herstellen, verstehen und auch erklären können. Aber nicht selten können auch nahestehende Personen dabei helfen, Ursachen zu erspüren, Zusammenhänge herzustellen und zu verstehen.

Was ist für den Helfer wichtig?

Zwischen – allgemein ausgedrückt – Hilfesuchendem und Helfer entsteht bzw. besteht eine zwischenmenschliche Beziehung. Wie ist sie gestaltet?

Psychiatrische und psychologische Fachleute gestalten die Therapeut-Klient-Beziehung als eine asymmetrische Beziehung. Verkürzt und vereinfacht ausgedrückt: der Therapeut weiß alles über den Klienten, der Klient weiß jedoch nichts über den Therapeuten. Der Klient und seine Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt und die Lebenswelt des Therapeuten, ob er beispielsweise verheiratet ist, ob er Kinder hat usw. ist für das Ziel, dem Klienten zu helfen, nicht von Belang.

Kennen sich Hilfesuchender und Helfer in einem privaten Kontext (z. B. Freundschaft), ist die der Therapeut-Klient-Beziehung innewohnende Distanz nicht gegeben. Hilfesuchender und Helfer begegnen sich auf Augenhöhe.

Der Helfer möchte unterstützen und dem Hilfesuchenden dabei helfen, für sich Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen, damit er sich selbst helfen kann. Doch was ist notwendig, damit der Helfer wirksam unterstützen kann?

Bedingungslose Annahme

Der Helfer nimmt den Hilfesuchenden bedingungslos an. Herkunft, Geschlecht, wirtschaftlicher, finanzieller und sozialer Status, Alter, Bildung, körperliche Erscheinung usw. spielen in der Konsequenz keine Rolle. Würde auch nur eines dieser Merkmale eine Rolle spielen, wäre die Akzeptanz nicht bedingungslos.

Würde ein Hilfesuchender beispielsweise wegen seiner Herkunft aus einem afrikanischen Land nicht akzeptiert, wäre es keine bedingungslose Annahme. Wie sollte dann, wenn schon das Fundament der bedingungslosen Annahme fehlt, ein Verstehen möglich sein?

Bewusstsein der Unvollkommenheit

Der Helfer sieht den Hilfesuchenden – und ebenfalls sich selbst – als unvollkommenes Wesen mit Begrenztheiten, Widersprüchen und Ungereimtheiten. Begrenztheiten zeigen sich beispielsweise in subjektiver und selektiver Wahrnehmung. Widersprüche und Ungereimtheiten drücken sich beispielsweise in der Ungleichbehandlung von Menschen aus. Was beispielsweise bei Menschen, die einem sympathisch sind, akzeptiert wird, trifft bei Menschen, die einem unsympathisch sind, auf Ablehnung. Die Angelegenheit, um die es geht, mag vergleichbar sein. Angenommen, eine Person stößt versehentlich an ein mit Rotwein gefülltes Glas. Ist es die Freundin oder der Freund, wird man eher nachsichtig reagieren. Ist es eine Person, die man nicht mag, wird man eher seinem Ärger Raum geben.

Bewusstsein des Wegs

Für den Helfer ist der Hilfesuchende keine Maschine, die vorhersehbar funktioniert. Im Gegenteil: der Hilfesuchende ist auf einem Weg, geht durch Höhen und Tiefen, erlebt Fortschritte und Rückschritte. Seine Entwicklung ist weder planbar noch vorhersehbar, auch wenn es manchmal nicht so scheint. Aber auch der Helfer ist auf einem Weg.

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Was ist psychologisches Verstehen?

Ein Helfer würde bei Christian zunächst versuchen, die psychischen Phänomene zu klären. Er würde sodann versuchen, zu erkennen, was die Ursache für die psychischen Phänomene ist und weshalb diese Ursache diese bestimmte Wirkung auf die Psyche hervorruft. Und er würde versuchen, Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen, um sie erklären zu können.

Hätte sich Christian beispielsweise an einen Psychotherapeuten gewandt, hätte dieser durch gezielte Fragen psychische Phänomene konkretisieren können. Im Gesprächsverlauf wäre der Therapeut auf Christians Kindheit zu sprechen gekommen und hätte einiges über die schwierige Vater-Sohn-Beziehung erfahren. Er hätte die Abwertung und Geringschätzung Christians durch seinen Vater als mögliche Ursache für die psychischen Phänomene erkannt.

Aufgrund seiner Fachkenntnis hätte der Therapeut einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung auf die Psyche erkannt und verstanden. Er hätte beispielsweise unter Anderem den Zusammenhang zwischen Überempfindlichkeit und Minderwertigkeitsgefühl erkannt, wie es der österreichische Arzt und Psychotherapeut Alfred Adler formulierte: „Überempfindlichkeit ist Ausdruck eines Minderwertigkeitsgefühls.“.

In der Gesamtheit hätte der Therapeut möglicherweise eine ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung (weitere Bezeichnungen sind „selbstunsichere Persönlichkeitsstörung“ und „vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung“) erkannt. Er hätte wahrscheinlich eine Psychotherapie vorgeschlagen, die bei einer derartigen Persönlichkeitsstörung auch sehr erfolgversprechend gewesen wäre.

Was ist liebendes Verstehen?

Eine formale Definition für „liebendes Verstehen“ gibt es nicht. Wie sich liebendes Verstehen äußern kann, lässt sich ausgehend von Christians Beispiel anhand der Frage finden, was der kleine Christian nach einer Abwertung durch seinen Vater gebraucht oder was er sich gewünscht hätte.

Wahrscheinlich hätte sich der kleine Christian eine empathische Person gewünscht, die ihn in den Arm nimmt, ihn gewissermaßen einhüllt, ihm menschliche Wärme gibt und ihn tröstet. Diese Person hätte ihm beispielsweise sagen können: „Ich nehme wahr, wie es dich schmerzt, wie dein Vater mit dir umgeht. Das kann ich gut nachfühlen. Dein Vater ist im Moment handwerklich geschickter als du. Es mag sein, dass das auch so bleibt. Er hat viel Zeit gehabt, das alles zu lernen. Wenn dein Vater Dinge besser kann als du, bedeutet das nicht, dass du „schlecht“ bist. Du bist ein wertvoller Mensch, das kann dir niemand nehmen. Und du hast deine ganz einzigartigen Begabungen und Fähigkeiten. Mach‘ was draus! Du kannst es!

Liebendes Verstehen bedeutet nicht, etwas beschönigen zu müssen. Was man wahrnimmt, kann man auch ausdrücken, aber in einer liebevollen Art und Weise. Beispielsweise würde liebendes Verstehen bei einem Alkoholiker nicht bedeuten, seine Selbstzerstörung gutzuheißen.

Das liebende Verstehen sieht nicht nur die jetzige Situation und das aktuelle Problem. Es sieht den Menschen in seinen Zusammenhängen und versucht, über das Offensichtliche und Vordergründige hinauszugehen. Es schließt ein empathisches „neu sehen“ ein, was werden kann. Und es geht mehr um Synthese als um Analyse.

Um liebevoll verstehen zu können, muss man sich als notwendige Voraussetzung selbst lieben können. Angenommen, man kann sich selbst nicht lieben. Würde dieser Mangel dann nicht zwangsläufig dazu führen, dass man auch den Anderen nicht lieben und ihn in der Konsequenz auch nicht liebend verstehen kann?

Gutes und Sinnvolles tun – ganz praktisch

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Psychologisches oder liebendes Verstehen – oder beides?

Sicherlich wäre es nicht hilfreich, psychologisches und liebendes Verstehen gegeneinander auszuspielen. Davon abgesehen stellt sich auch die Frage nach der Abgrenzbarkeit: wo hört psychologisches Verstehen auf und wo fängt liebendes Verstehen an? Die Grenzen sind fließend.

Beide Arten von Verstehen haben ihre ganz spezifischen Stärken. Das methodisch fundierte psychologische Verstehen konzentriert sich stark auf das aktuelle Problem. Dem „methodenlosen“ liebenden Verstehen fehlt andererseits die systematische Analyse. Wäre dann nicht die Kombination von beidem das Optimum?

Der entscheidende Faktor ist wohl die Person des Helfers. Kann er psychologisches und liebendes Verstehen gut zusammenführen? Wäre „Seelsorger“ eine passende Charakterisierung des Helfers? Diese Art von Seelsorger wäre kein Theologe, zumindest nicht in erster Linie. Er würde über fundierte Kenntnisse der Psychologie verfügen. Er würde empathisch zuhören, menschliche Zuneigung und Wärme geben – und dafür Zeit investieren wollen. Es gibt diese „Seelsorger“ bereits: unter psychiatrischen und psychologischen Fachleuten, unter Coaches, unter engen Freunden … Die Herausforderung ist, im Bedarfsfall den geeigneten Seelsorger zu finden.

Anmerkung: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt. Dies ist nicht geschlechtsspezifisch gemeint.

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Ich bin Dieter Jenz, Begleiter, Berater und Coach mit Leidenschaft. Über viele Jahre hinweg habe ich einen reichen Schatz an Kompetenz und Erfahrung erworben. Meine Themen sind die "4L": Lebensaufgabe, Lebensplanung, Lebensnavigation und Lebensqualität.