„Blühe, wo du gepflanzt bist!“
Franz von Sales
Franz von Sales (1567-1622) war Fürstbischof von Genf, Ordensgründer, Mystiker und Kirchenlehrer. In zahlreichen Schriften betonte er die Verbindung von Religiosität und weltlicher Kultur, von Humanismus und Christentum.
Blühen – der Pflanzort ist wichtig
Wenn man eine Pflanze kauft, befindet sich meistens ein Hinweis zum empfohlenen Pflanzort und zur Pflege im Topf. Natürlich beachtet man diese Hinweise, denn man wünscht sich ja, dass sich die Pflanze optimal entwickeln kann. Eine Pflanze, die einen sonnigen Standort bevorzugt, wird man nicht in einem schattigen Bereich einpflanzen. Und selbstverständlich ist man auch bereit, die Pflanze mit allem zu versorgen, was sie zum Wachstum benötigt. Wenn die Pflanze Dünger benötigt, bekommt sie ihn in ausreichender Menge.
Pflanzen sucht man üblicherweise pflanzortbezogen aus. Im Garten oder im Raum befindet sich eine Stelle, die mit einer Pflanze aufgewertet und verschönert werden soll. Man sucht sich dafür eine geeignete Pflanze, die einem auch gefällt, pflanzt sie ein, und dann soll sie sich dort entwickeln und Blüten hervorbringen (so sie denn überhaupt Blüten hervorbringen kann).
Das erste „Einpflanzen“
Franz von Sales setzt das Pflanzen bzw. gepflanzt sein in Beziehung zu Menschen. Für ihn ist es letztendlich Gott, der einpflanzt, gewissermaßen einen „Pflanzort“ für Menschen bestimmt. Aber was können Menschen, für die Gott nicht zu ihrer Lebenswelt gehört, mit diesem nachdenkenswerten Zitat anfangen?
Wer „pflanzt“ einen Menschen? Zunächst sind es die Eltern bzw. die Familie, die den „Pflanzort“ eines Kindes darstellen. Dies ist das Umfeld, in dem sich das Kind entwickeln kann.
Zu Lebzeiten von Franz von Sales lebten die meisten Menschen von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod an einem Ort. Um 1600 lebte, auf Deutschland bezogen, nur höchstens 20 % der Bevölkerung in Städten. Von den damals ungefähr 3000 Städten waren fast 95 % Kleinstädte, die nicht mehr als 2000 Einwohner hatten. Die große Mehrheit von 80 % oder mehr der Bevölkerung lebte auf dem Land in Dörfern, Weilern oder Einzelgehöften. Wenn jemand umzog, war oft eine Heirat der Grund.
Die meisten Menschen betrieben damals Landwirtschaft und lebten davon. Tiere mussten täglich versorgt werden. Urlaub war folglich ein Fremdwort. Wenn an Ausflüge zu denken war, dann kam dafür nur der Sonntag infrage. An diesem Tag beschränkte man die Arbeit auf das Nötigste. Dadurch gab es etwas Zeit, die am Sonntagnachmittag oft für Verwandtenbesuche am Ort oder in einem Nachbarort genutzt wurde.
Während der Vegetationszeit waren die meisten Menschen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang sehr beschäftigt. Während der „dunklen“ Jahreszeit war den Menschen bei tiefen Temperaturen verständlicherweise nicht nach Ausflügen in die Umgebung zumute.
Menschen können sich selbst verpflanzen
Eltern, denen ihr Kind wichtig ist, setzen alles daran, dass es sich während es heranwächst gut entwickeln kann. Sie überlegen sich intensiv, wie sie die Entwicklung fördern können. Das Kind soll es schließlich einmal gut im Leben haben und – im übertragenen Sinn – reich blühen. Doch normalerweise kommt irgendwann der Zeitpunkt des Auszugs aus dem Elternhaus.
Heute sind die Lebensverhältnisse keineswegs mehr mit denen um das Jahr 1600 herrschenden vergleichbar. Heute wird von der mobilen Gesellschaft gesprochen. Viele Menschen sind mit dem Erfordernis beruflicher Mobilität konfrontiert. Der „mobile Mensch“, flexibel, ungebunden und leistungsstark, ist gewissermaßen Leitfigur der Gegenwart. Mobilität erstreckt sich nicht nur auf berufliche Aspekte, sondern auch auf die Freizeitgestaltung.
Menschen sind keine Pflanzen. Sie entwickeln sich nicht unbedingt vorhersehbar. Sie haben einen eigenen Willen, der sie dazu bringen kann, sich dem Wachstum – beispielsweise im Hinblick auf Bildung und Sozialverhalten – zu verschließen. Deshalb können sie auch einen Weg gehen, auf dem das, was schon entwickelt ist, wieder verkümmert. Und sie können im Prinzip ihren „Pflanzort“, der Ort, an dem gelebt wird, verändern, sich selbst „umpflanzen“.
Trotz aller Mobilität leben die meisten Menschen – Kosmopoliten mit ständig wechselnden Wohnorten ausgenommen – an einem Ort, den sie als ihren Wohnort bezeichnen. Die Analogie greift wieder: dorthin, an den Wohnort, ist man gepflanzt bzw. hat sich selbst dorthin gepflanzt.
Das Verpflanzen hat Folgen
Vielleicht wird man selbst wider Willen „umgepflanzt“. Der Arbeitgeber schließt beispielsweise einen Standort und stellt Beschäftigte vor die Wahl, entweder an einen anderen Standort zu wechseln oder das Unternehmen zu verlassen. Vielleicht schätzt man seine Chancen, anderswo wieder eine adäquate Arbeitsstelle zu finden, als relativ gering ein. Deshalb nimmt man das Angebot, an einen anderen Standort zu wechseln, widerstrebend an.
Es mag auch sein, dass man sich aus eigenem Antrieb heraus „umpflanzt“. Vielleicht lockt ein bestimmter Ort, an dem man meint, seine Ziele besser erreichen zu können als am bisherigen Wohnort.
Jetzt ist man also am neuen Wohnort angekommen. Das neue Domizil ist bereit für den Einzug. Bildlich ausgedrückt ist das „Pflanzloch“ ausgehoben. Auf einmal ist alles neu. Um im Bild zu bleiben: Das bisherige Biotop mit den Nachbarpflanzen ist nicht mehr vorhanden. Jetzt sind es andere Pflanzen oder vielleicht gibt es gar keine Nachbarpflanzen. Der Boden, in dem die Wurzeln wieder einwachsen und sich wieder ausbreiten sollen, ist anders.
In der Nachbarschaft muss man sich an neue Gesichter gewöhnen. Das bisherige soziale Netzwerk besteht nicht mehr so, wie es war. Bisherige Bekanntschaften und Freundschaften leiden unter der geografischen Veränderung. Es gilt, neue Bekanntschaften zu schließen und Freunde zu gewinnen. Doch es braucht Zeit, damit sich zwischenmenschliche Beziehungen entwickeln und zum „Blühen“ kommen können.
Ein Pflanzort ist mit vorübergehender Immobilität verbunden. Die Pflanze bleibt an ihrem Ort so lange, bis sie (wieder) an einen anderen Ort verpflanzt wird. Dort, wo sie gerade ist, soll und will sie blühen. Man muss eine Pflanze nicht zum Blühen zwingen. Sie will gewissermaßen aus eigenem Antrieb heraus blühen, und dies ist auch ihre Bestimmung. Sie braucht dazu jedoch nicht nur ausreichend, sondern auch die richtigen Nährstoffe.
Gut für sich selbst sorgen
Anders als Pflanzen haben Menschen die Möglichkeit, sich selbst um ihre Nährstoffe zu kümmern. Pflanzen können dies nicht. Sind keine oder nicht ausreichend Nährstoffe vorhanden, muss eine Pflanze zwangsläufig verkümmern. Bekommt eine Pflanze jedoch genügend und geeignete Nährstoffe, fühlt sie sich wohl. Die Bedingungen, dass sie blühen kann, sind erfüllt.
Im Wesentlichen sind es drei Faktoren, die das Wohlbefinden von Menschen bestimmen: körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden. Während das körperliche Wohlbefinden nur eingeschränkt beeinflussbar ist (beispielsweise kann ein Unfall oder eine schwere Erkrankung das körperliche Wohlbefinden stören), haben Menschen direkten Einfluss auf ihr psychisches und soziales Wohlbefinden.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bringt psychische Gesundheit und psychisches Wohlbefinden in einen Zusammenhang. Sie definiert psychische Gesundheit als „Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv und fruchtbar arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen“. Wenn man seelisch gesund ist, kann man sich als Individuum entwickeln, Beziehungen pflegen, produktiv arbeiten und mit Freude am Leben teilhaben.
Für soziales Wohlbefinden existiert keine exakte Definition. In der Forschung wird soziales Wohlbefinden meist als subjektive Wahrnehmung sozialer und emotionaler Unterstützung, sozialer Integration, von Freundschaften oder sozialen Aktivitäten verstanden. Man hat das Empfinden, dass eigene Aktivitäten in der und für die Gesellschaft einen wertvollen Beitrag leisten und wertgeschätzt werden. Man sieht sich als aktiven Teil der Gesellschaft, der etwas geben kann. Und man fühlt sich der Gesellschaft zugehörig und in sie hineinpassend.
Wenn man sich bemüht, gut für sein psychisches und soziales Wohlbefinden zu sorgen, wird man sich auch nach dem „Verpflanzen“ gut entwickeln. Die Voraussetzungen, dass man „blühen“ kann, sind erfüllt.
Zum Blühen kommen braucht seine Zeit. Manche Pflanzen, wie beispielsweise die Königskerze, werden im ersten Jahr gesät, bilden dann nur Wurzeln und Blätter, und blühen erst im zweiten Jahr. Vielleicht braucht es Zeit, bis man, um im Bild zu bleiben, sich akklimatisiert und sich in der neuen Umgebung eingewurzelt hat.
Naturgemäß lassen sich ältere Pflanzen nicht mehr so leicht verpflanzen wie jüngere. Sie weisen ein größeres Wurzelwerk auf. Deshalb verwundert nicht, wenn sie für die Akklimatisierung mehr Zeit benötigen. Im übertragenen Sinn trifft dies auch für schon etwas ältere Menschen zu.
Blühen, wo man gepflanzt ist
Ist Blühen eine Angelegenheit des Willens? Diese Frage ist durchaus berechtigt. Denn anders als Pflanzen haben Menschen die Möglichkeit, sich zu verweigern. Sie können sich, auch wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, bewusst dafür entscheiden, ihr körperliches, psychisches und/oder soziales Wohlbefinden zu gefährden. Sie können sich dafür entscheiden, sich selbst Schaden zuzufügen, beispielsweise durch Alkohol- oder Drogensucht. Und sie können sich dafür entscheiden, ihre Fähigkeiten verkümmern zu lassen. Menschen können sich in der Tat aus freiem Willen dafür entscheiden, nicht zu blühen.
Wenn man sich dafür entscheidet, blühen zu wollen, stellt sich die Frage, wie das Blühen konkret aussehen könnte. Die Möglichkeiten sind äußerst vielfältig. Einige Beispiele sind
- Die eigenen Begabungen und Fähigkeiten, wie beispielsweise handwerkliche Begabungen und Fähigkeiten, einsetzen und weiterentwickeln,
- Die sozialen Kompetenzen, wie beispielsweise Empathievermögen, Teamfähigkeit und Anpassungsfähigkeit, in das soziale Umfeld einbringen und für das Gemeinwohl einsetzen,
- Vorhaben, die nach eigener Überzeugung unterstützenswert sind, finanziell und/oder durch eigene Beteiligung fördern.
Wenn man sich vornimmt, unverkrampft dort zu blühen, wohin man gepflanzt ist, fällt es leichter, dem Leben Struktur zu geben. Was das persönliche Wachstum und das Blühen hindert, kann erkannt und aus dem Leben „ausgeschieden“ werden. Und was das persönliche Wachstum und das Blühen fördert, kann als „Dünger“ in das Leben „aufgenommen“ werden.
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