„Der Mensch wird, was er wird, durch die Sache, die er zu der seinen macht.“
Karl Jaspers
Karl Theodor Jaspers (1883-1969) war ein deutscher Psychiater und Philosoph. Als Arzt trug er grundlegend zur wissenschaftlichen Entwicklung der Psychiatrie bei. Sein umfangreiches philosophisches Werk gewann insbesondere in den Bereichen der Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie und der Interkulturellen Philosophie große Bedeutung.
Eine Lebensgeschichte, die anders hätte enden können
Seit Dieters letztem Besuch in seinem Heimatort war schon einige Zeit vergangen. Bei einem Gang über den Friedhof fiel ihm ein Grabstein auf. Er stand auf dem Grab von Erich (Name geändert). Dieter und Erich begegneten sich früher in dem kleinen Dorf immer mal wieder.
Dieter wurde nachdenklich und traurig, als er Erichs Grabstein sah. Erich war schon in seinen Vierzigern gestorben. Wie Dieter später hörte, hatte Erich ein Alkoholproblem. Er hatte sich wohl sprichwörtlich zu Tode getrunken. Noch heute fragt sich Dieter manchmal, was aus Erich hätte werden können, wenn er mit seinem Alkoholproblem zurechtgekommen wäre.
Erich war sicherlich kein „Überflieger“. Aber er hatte Fähigkeiten und Kompetenzen, aus denen er mehr hätte machen können. Seine Lebensgeschichte hätte sicherlich anders verlaufen können, wenn es ihm gelungen wäre, Struktur in sein Leben zu bringen. In nüchterner Konsequenz hatte er Lebenszeit vergeudet.
Was hätte geschehen können, wenn Erich eine Sache zu der seinen gemacht hätte? Wahrscheinlich hätte er nie etwas erfunden oder durch wissenschaftliche Erkenntnisse auf sich aufmerksam gemacht. Aber mit Sicherheit hätte auch er etwas für sich finden können, dem er sich mit Freude und Energie hätte widmen können. Diese Sache hätte seinem Leben ein Rückgrat geben können. Und an dieser Sache wäre er auch selbst gewachsen und er hätte seinem Leben Profil gegeben.
Dem Leben Richtung und Struktur geben
Wenn man entlang Karl Jaspers Worten denkt, lassen sich zwei Schlüsse ziehen. Zum einen lässt sich folgern: „Zu etwas werden setzt voraus, dass man etwas zu seiner Sache macht“. Zum anderen ergibt sich als Umkehrschluss: „Wenn man nichts zu seiner Sache macht, wird man auch nichts“. Dann verläuft das Leben eher ziel- und planlos.
Im Lauf der Geschichte haben unzählige Menschen, die eine Sache zu der ihren machten, ihre Lebensspuren hinterlassen. Zwei von ihnen sind Marie Curie und Albert Schweitzer. Sie schafften es in die Geschichtsbücher. Aber es gibt auch die unzählbar vielen Menschen, deren Name vielleicht nur in einer lokalen Chronik oder gar überhaupt nirgends auftaucht(e). Auch sie haben ihre ganz eigenen Spuren hinterlassen.
Marie Curie
Die 1867 geborene Marie Curie wuchs im damals zum Russischen Kaiserreich gehörenden Teil des heutigen Polen auf. Nach dem Abitur, das sie als 15-jährige ablegte, blieb ihr ein Studium verwehrt. Frauen waren in den 1880-er Jahren an Universitäten nicht zugelassen. So blieb ihr nur die Möglichkeit zu einem Studium im Ausland. Da ihr Vater sie aufgrund seiner finanziellen Situation nicht unterstützen konnte, blieb ihr ein Auslandsstudium zunächst verwehrt. Sie nahm jedoch an Kursen der heimlich organisierten Fliegenden Universität teil, die eine akademische Bildung ermöglichte. Diese Kurse fanden in Privatwohnungen statt, in ständiger Sorge vor Entdeckung und Verhaftung.
Von der Studentin zur Professorin
1891 konnte Marie Curie mit etwas zusammengespartem Geld nach Paris übersiedeln und ein Studium der Mathematik und der Physik an der Sorbonne beginnen. Ihre anfänglichen Schwierigkeiten, die französische Sprache zu verstehen, machten es ihr nicht einfach, den Vorlesungen zu folgen. In sehr ärmlichen Verhältnissen lebend, arbeitete sie fieberhaft daran, bestehende Wissenslücken zu schließen und konzentrierte sich voll auf ihr Studium, das sie schließlich erfolgreich abschloss.
Die harte und entbehrungsreiche Arbeit Marie Curies trug ihre Früchte. Erst alleine, später mit ihrem Ehemann Pierre Curie (bis zu dessen Tod im Jahr 1906), und schließlich mit Mitarbeitern am Radium-Institut, forschte sie intensiv. Nach dem Unfalltod ihres Ehemanns übernahm sie den Lehrauftrag ihres Ehemannes und lehrte an der Sorbonne. Sie war die erste Frau, die eine ordentliche Professur für Physik an dieser Universität erhielt.
Weltweite Anerkennung
Die Erfolge ihrer teilweise gemeinsam mit ihrem Ehemann durchgeführten Forschungen führen zu weltweiter Anerkennung. Marie Curie erhielt als erste Frau überhaupt einen Nobelpreis, den Nobelpreis für Physik. Bis heute ist sie die einzige Wissenschaftlerin, der zweimal ein Nobelpreis verliehen wurde (1903 für Physik für ihre Arbeiten über die Strahlungsphänomene, 1911 für Chemie für die Entdeckung der radioaktiven Elemente Polonium und Radium).
Ihre Forschungen mit radioaktiven Substanzen belasteten ihre Gesundheit schwer und führten schließlich zum Tod. Sie starb an Leukämie, einer Folge ihrer hochdosierten und langjährigen Kontakte mit radioaktiven Elementen.
Marie Curie, deren Lebensweg in dem von ihrer Tochter Eve Curie verfassten Buch „Madame Curie“ sehr anschaulich geschildert wird, verfolgte ihren Weg sehr zielstrebig. Sie hatte eine Sache zu der ihren gemacht und dafür sehr viele Entbehrungen auf sich genommen. Von mancherlei Rückschlägen ließ sie sich nicht beirren.
Selbst wenn ihre Arbeit nicht mit Nobelpreisen gekrönt worden wäre, wäre das eigentliche Lebenswerk Marie Curies nicht geschmälert. Ihre Entdeckungen brachten die Wissenschaft voran und halfen vielen Menschen.
Albert Schweitzer
Der 1875 geborene Albert Schweitzer wuchs im damals zum Deutschen Reich gehörenden Reichsland Elsaß-Lothringen auf. An der Universität Straßburg studierte er Theologie und Philosophie. Promotionen zum Doktor der Philosophie und der Theologie folgten. Mit der Habilitation wurde er 1902 Dozent für Theologie an der Universität Straßburg.
Im Alter von 30 Jahren gab er seine bisherige Karriere auf und begann ein acht Jahre dauerndes Medizinstudium. 1912 wurde er als Arzt approbiert und ein Jahr später folgten seine medizinische Doktorarbeit und die Promotion. Mit 38 Jahren war Albert Schweitzer in drei verschiedenen Fächern promoviert, hatte sich habilitiert und war Professor.
Richtungsänderung im Leben
Bei den um das Jahr 1870 geborenen Männern lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei etwa 36 Jahren. Hatte jedoch ein Mann um 1900/10 das 40. Lebensjahr erreicht, so konnte er noch mit einer Lebensdauer von etwa 26 Jahren rechnen. Mit Blick auf diese statistischen Daten stellt sich die Frage, weshalb Albert Schweitzer sich in damals schon fortgeschrittenem Alter dazu entschloss, eine sichere und auskömmliche akademische Karriere aufzugeben und seinem Leben eine neue Richtung zu geben.
In dem Buch „Selbstzeugnisse“ ist beschrieben, wie es dazu kam, dass er ein Medizinstudium begann und welches die treibenden Faktoren waren. Albert Schweitzer sah eine humanitäre Aufgabe an der Bevölkerung in den damaligen französischen Kolonien, insbesondere im damaligen Französisch-Äquatorialafrika. Da ihm diese Aufgabe als keineswegs ausreichend erfüllt schien, sah er sich selbst in der Pflicht.
Zusammen mit seiner Frau, die er 1912 geheiratet hatte, beschloss er, in Gabun als Arzt tätig zu werden. Die Finanzmittel für das Vorhaben musste Albert Schweitzer selbst aufbringen und setzte dafür seine eigenen Autorenhonorare und auch Spenden von Freunden ein.
Aufopferungsvolles Wirken
1913 reiste Albert Schweitzer zusammen mit seiner Frau nach Gabun aus und gründete am Ogooué, einem 1200 km langen Fluss in Gabun, das Urwaldhospital Lambaréné. Seine Arbeit als Arzt gestaltete sich sehr entbehrungsreich. Ständig herrschte eine Mangelwirtschaft, die sich auf nahezu alle Bereiche erstreckte. Es gab Zeiten der Nahrungsmittelknappheit und finanzieller Engpässe. Baumaterial für die Erweiterung des Krankenhauses war nicht leicht zu beschaffen. Auch Medikamente waren nicht einfach greifbar. Sie mussten in Europa bestellt werden. Normalerweise dauerte es drei bis vier Monate, bis eine Medikamentenlieferung ankam.
In seinem Arbeitsgebiet in Äquatorialafrika waren die klimatischen Bedingungen sehr herausfordernd. Die Hitze, die Luftfeuchtigkeit, Insekten, Schlangen, aber auch die Unwegsamkeit im Urwaldgebiet, machten zu schaffen. Auch an die unterschiedliche Kultur und Mentalität der einheimischen Bevölkerung musste sich Albert Schweitzer erst gewöhnen. Hinzu kam dann noch die Sprachbarriere. Jedes Wort, jeder Satz musste in die jeweiligen Sprachen der einheimischen Bevölkerung übersetzt werden und umgekehrt. Es ist leicht nachvollziehbar, dass beispielsweise das Aufnehmen einer Anamnese alles andere als einfach war.
Albert Schweitzer wurde weltweit Anerkennung für sein Wirken entgegengebracht. Höhepunkt dieser Anerkennung war der Friedensnobelpreis, der ihm 1953 für das Jahr 1952 zuerkannt wurde.
Auch Albert Schweitzer machte eine Sache zu der seinen – zweimal in seinem Leben. Seinem Leben hatte er schon mit seiner akademischen Laufbahn Richtung und Struktur gegeben. Doch dann erkannte er für sich eine neue Verantwortung und machte eine andere Sache zu der seinen. An damaliger Lebenserwartung gemessen, gab er seinem Leben etwa in der Lebensmitte eine völlig neue Richtung.
Welche Sache will man zu der seinen machen?
Marie Curie und Albert Schweitzer sind nur zwei Beispiele aus der sehr langen Reihe von Menschen in Vergangenheit und Gegenwart, die ihr Leben in der Tiefe gelebt haben bzw. leben. Ob man wie die beiden genannten zu öffentlichem Ruhm und Ehre gelangt, ist zweitrangig. Entscheidend ist wohl, dass man sein Leben in der Tiefe lebt.
Man muss sich nicht unbedingt schon früh im Leben einer bestimmten Sache widmen. Auch später noch kann man seinem Leben eine neue Richtung und Struktur geben. Albert Schweitzer steht gewissermaßen für die Menschen, die irgendwann ihre Prioritäten anders setzen wollen.
Man prägt sich selbst
Durch das, was man zu seiner Sache macht, prägt man sich selbst. Man wird nicht passiv geprägt, sondern man prägt aktiv sich selbst. Man nimmt sein Leben in die eigenen Hände und gestaltet es. Und wenn man mit seinem Herzen dahintersteht, kann man auch Widerstände und Rückschläge leichter verkraften. Man lässt sich nicht so schnell entmutigen. Marie Curie und Albert Schweitzer können stellvertretend für viele andere Menschen als Anschauungsbeispiele gelten.
Wie kann man seinen Weg finden?
Welche Sache möchte man zu der seinen machen? Die eigenen Neigungen, Fähigkeiten und Kompetenzen weisen die Richtung. Die Frage: „Was begeistert mich zutiefst?“ kann weitere Klarheit schaffen. Oft fügen sich alle diese Aspekte zu einem Gesamtbild. Der Extrembergsteiger Reinhold Messner, der ebenfalls eine Sache zu der seinen machte, drückte es so aus: „Wo jemand seine größte Begeisterung hat, da wird er auch seine größten Fähigkeiten haben.“
Wenn man feststellt, dass man sich einer Sache widmet, hinter der man doch nicht mit ganzem Herzen stehen kann oder möchte, gibt es immer die Möglichkeit zur Korrektur. Bis zu diesem Zeitpunkt hat man sich schon selbst gezeigt, wozu man in der Lage ist, und kann mit Selbstvertrauen eine andere Richtung einschlagen.
* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)