„Die Liebe ist bereitwillig, aufrichtig, sanft, klug, stark, geduldig, treu, beständig, hochherzig, uneigennützig. Von dem Augenblick an, wo man damit anfängt, für sich selbst etwas herausholen zu wollen, hört man auf zu lieben.“
Charles de Foucauld
Charles de Foucauld (1858 -1916) war ein französischer Forscher, Offizier, Priester, Mönch und Eremit. In eine der reichsten Familien Frankreichs geboren, führte er bereits während der Schulzeit einen ausschweifenden Lebenswandel. Aus der Armee, in die er später eintrat, wurde er unehrenhaft entlassen.
Nach seiner Wiederhinwendung zum christlichen Glauben wurde er Priester und Mönch. In Algerien errichtete er eine Einsiedelei. Gleichwohl pflegte er Kontakt zur einheimischen Bevölkerung und galt als Freund der Tuareg, einem Volksstamm. Bei einem Überfall von Aufständischen wurde er ermordet.
Welche Art von Liebe ist gemeint?
Ist allgemeine Menschenliebe gemeint oder geht es eher um die Liebe zwischen zwei Menschen? Lassen sich die Eigenschaften der Liebe überhaupt auf bestimmte Menschen projizieren?
Als katholischer Priester war Charles de Foucauld nie verheiratet. Und während seiner Zeit in Algerien, als er als einziger Europäer unter der einheimischen Bevölkerung lebte, waren in dem muslimisch geprägten Land in der damaligen Zeit auch keine Beziehungen zu Frauen vorstellbar.
Charles de Foucaulds Einstellungen zur Liebe sind in seiner Beziehung zu Gott verankert. Er schrieb: „Alle Menschen sind Kinder Gottes. Es ist daher unmöglich, Gott zu lieben, ohne die Menschen zu lieben. Je mehr man Gott liebt, umso mehr liebt man auch die Menschen. Die Liebe zu Gott und den Menschen füllt mein Leben aus, hoffentlich mein ganzes Leben.“. Es ist also die Liebe zu den Menschen, die der im Blick hat.
Während seiner Zeit in der algerischen Wüste war Charles de Foucauld durchaus nicht untätig. Zu seinem Tagesablauf bemerkte er: „Von 4:30 Uhr am Morgen bis 8:30 Uhr am Abend höre ich nicht auf zu reden und Menschen zu begegnen: Sklaven, Arme, Kranke, Soldaten, Reisende, Neugierige.“. Aber er fand auch noch Zeit, intensiv über das Leben nachzudenken.
Muss man die Menschen lieben?
Viele Menschen ergreift ein buchstäblicher Schauder, wenn sie sich auch nur vorstellen, ihre Mitmenschen zu lieben. Zu viele Verletzungen, die im Lauf des Lebens zugefügt wurden, verbunden mit vielen Enttäuschungen, lassen einen solchen Gedanken als völlig abwegig erscheinen.
Sicherlich wurden auch Charles de Foucauld von seinen Mitmenschen Verletzungen zugefügt. Und sicherlich wurde auch er von anderen Menschen enttäuscht. Verletzungen und Enttäuschungen gehören zum Leben dazu. Dennoch hielt ihn dies nicht davon ab, diesen Gedanken zu formulieren und ihn in einen weiter gefassten Kontext der Beziehung zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen zu stellen.
Insofern ist die Liebe zu den Mitmenschen etwas Natürliches. Sie ergibt sich gewissermaßen als Konsequenz aus der Liebe zu Gott. Doch ist die Liebe zu den Mitmenschen nur für Christen relevant? Oder kann es auch für Angehörige anderer Religionen, für Atheisten und Agnostiker einen überzeugenden Grund dafür geben, ihre Mitmenschen zu lieben?
Niemand ist gesetzlich dazu verpflichtet, seine Mitmenschen zu lieben. Wenn man es jedoch aus freien Stücken möchte, was dann? Gibt es irgendwelche Vorteile, wenn man seine Mitmenschen liebt?
Was kann geschehen, wenn man Menschen nicht liebt?
Volker (Name geändert) litt schon in der Kindheit unter Hänseleien und Demütigungen. Zum einen nahm er sich als nicht von seinem Vater geliebt wahr, zum anderen erlebte er manchmal Mobbing vonseiten anderer in seiner Altersgruppe. Kritik nahm er persönlich. Wenig verwunderlich, baute er eine unsichtbare Mauer um sich. In gewisser jugendlicher Naivität beschloss er, keine Gefühle mehr zuzulassen. Er wollte einfach den Schmerz der Verletzungen nicht mehr spüren.
Was Volker nicht bedachte: es entwickelten sich keine wirklichen Freundschaften. Zwar traf er sich relativ häufig mit anderen, beteiligte sich an gemeinsamen Unternehmungen und spielte auch in einer Fußballmannschaft, aber die zwischenmenschlichen Beziehungen blieben immer oberflächlich. Er war nach außen hin durchaus umgänglich, hilfsbereit und freundlich. Vertrauen hatte er jedoch zu niemandem und von Liebe zu seinen Mitmenschen konnte auch nicht die Rede sein. So blieb er im Grunde genommen ein distanzierter Einzelgänger. Andere spürten die Mauer der Unverbindlichkeit um ihn.
In seinen frühen Zwanzigern änderte sich Volkers soziales Umfeld. Er lernte Menschen kennen, die ihm dabei halfen, sich und seine Mitmenschen mit anderen Augen zu sehen. Und er lernte seine spätere Ehefrau kennen. Volkers Einstellung änderte sich und die Mauer um ihn bröckelte. Dennoch brauchte es Jahre, bis Volker seine Mitmenschen lieben wollte. Im Rückblick ist Volker sehr froh und dankbar, dass es zu diesem Wandel in seinem Leben kam. Er mag sich nicht vorstellen, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er in seinem Kokon geblieben wäre.
Eigenschaften der Liebe – zu viel verlangt?
Charles de Foucauld zählt Eigenschaften auf, die allesamt auf das Sein und Geben fokussiert sind. Diese Eigenschaften sind, so wäre es zumindest anzustreben, nicht nur zeitweilig vorhanden. Sie begleiten durch das ganze Leben. Doch lassen sich diese Eigenschaften überhaupt leben? Liegt die Latte nicht (viel) zu hoch?
Die Antwort auf die Frage lässt sich wohl am ehesten mit Blick auf eine eheliche Beziehung finden. Schließlich ist die Ehe die engstmögliche Beziehung zwischen zwei Menschen. Beide Partner sind einen Bund miteinander eingegangen, der auf Lebenszeit angelegt ist. Sie erleben Intimität und lernen sich in ihrer Ganzheit kennen. Jeder blickt hinter die Fassade des Anderen.
Wenn es gelänge, diese Eigenschaften der Liebe in der Ehe zu verwirklichen, dann müsste es doch auch möglich sein, allen Menschen Liebe entgegenzubringen, so die These. Und dann müsste es auch gelingen, ein sozial integriertes Leben zu führen, mit Beziehungen, die die Oberfläche durchdringen. Dann würde man, überspitzt ausgedrückt, nicht in ständiger Kampf- oder Fluchtbereitschaft leben.
Das Geheimnis langer und glücklicher Paarbeziehungen
Die Psychologen Dr. Robert Levenson und Dr. John Gottman arbeiteten ab den 1970-er Jahren an mehreren Studien, die herausfinden sollten, was lange und glückliche Paarbeziehungen ausmacht. Ihren Erkenntnissen zufolge ist die Grundstimmung in einer Beziehung ein entscheidend wichtiger Faktor. Ist sie von Güte und Großzügigkeit geprägt oder eher von Geringschätzung, Kritik und sogar Feindseligkeit?
Die an den Studien teilnehmenden Ehepaare gliederten sich im Hinblick auf die Studienergebnisse grob in zwei Gruppen: die Gruppe der Positivbeispiele („Masters“) und die der Negativbeispiele („Disasters“). Die „Masters“ suchen und entdecken in ihrem sozialen Umfeld Dinge, für die sie dankbar sein können. Sie schaffen ganz bewusst eine Atmosphäre von Respekt und Wertschätzung. Hingegen suchen die „Disasters“ vorwiegend nach den Fehlern des Partners und neigen dazu, positive Dinge zu übersehen.
Es ist die Güte, eine freundliche, wohlwollende und nachsichtige Einstellung gegenüber dem jeweils Anderen, die Paare zusammenschweißt. Auf dem Fundament der Güte fühlt sich jeder Partner außerdem wertgeschätzt, verstanden und umsorgt. Darüber hinaus hat Güte eine weitere positive Wirkung: wenn man viel Güte erfährt, wird man auch selbst gütiger. Das „Güte-Niveau“ bleibt in der Beziehung hoch.
Die sogenannten „Masters“ betrachten Güte nicht als eine gewissermaßen angeborene Eigenschaft, die entweder vorhanden oder nicht vorhanden ist. Sie sehen Güte eher als eine Art Muskel, der fortwährendes Training benötigt. Mit anderen Worten ausgedrückt: ihnen ist bewusst, dass sie an ihrer Beziehung fortwährend arbeiten müssen, um sie, bildlich gesprochen, in Form zu halten.
Güte – selbst in Konflikten
Güte ist auch bei Konflikten in der Beziehung eine wichtige Eigenschaft. Die „Disasters“ werden eher mit „Du-Botschaften kommunizieren, beispielsweise so: „Du bist mal wieder zu spät dran. Was ist nur mit dir los?“. „Masters“ werden hingegen eher mit „Ich-Botschaften“ kommunizieren, etwa so: „Ich mag mich jetzt nicht ärgern, dass du zu spät dran bist. Bestimmt bist du aufgehalten worden. Es belastet mich aber, und ich hätte mir sehr gewünscht, dass du mir rechtzeitig Bescheid sagst.“. Die „Du-Botschaft“ klagt an, während die „Ich-Botschaft“ zurückhaltend ist und eine Brücke baut. Am Zuspätkommen ist nichts mehr zu ändern, aber daran, wie man miteinander umgeht, schon.
Nach den Erkenntnissen der beiden Psychologen weisen solide Paarbeziehungen während Konflikten ein Verhältnis von 5:1 hinsichtlich Positivität (es wird versucht, positive Dinge zu sehen) und Negativität (vorwiegend Negatives wird gesehen) auf. Bei labilen Beziehungen beträgt das Verhältnis 0,8:1. Aus diesen Erkenntnissen lässt sich ableiten, dass es für eine Beziehung immer förderlich ist, wenn man die Absichten und Vorhaben des Partners auf die wohlwollendste Art und Weise interpretiert.
Wenn sich eine Beziehung auf das Fundament der Güte stützt, ist der Weg zu den weiteren von Charles de Foucauld aufgezählten Eigenschaften der Liebe nicht weit.
Was kann geschehen, wenn man die Menschen liebt?
Wenn Güte für eine Paarbeziehung so eminent wichtig ist, kann sie auch hinsichtlich allgemeiner zwischenmenschlicher Beziehungen nicht verkehrt sein. Und wenn man gütig ist und Güte ausstrahlt, macht man sicherlich nichts falsch.
Zweifellos fällt es sehr viel leichter, Beziehungen aufzubauen. Man strahlt Offenheit aus und macht es dadurch dem Anderen einfacher, in ein Gespräch zu kommen. Und man sorgt auch gut für sich selbst, denn zwischenmenschliche Beziehungen können das Leben sehr bereichern.
Der Partner ist kein fehlerloses Wesen. Trotzdem liebt man ihn. In einer Paarbeziehung gibt es Missverständnisse und Konflikte. Entscheidend ist jedoch, wie man mit ihnen umgeht. Auch in den allgemeinen zwischenmenschlichen Beziehungen bleiben Missverständnisse und Konflikte nicht aus. Trotzdem kann man seine Mitmenschen lieben. Missverständnisse und Konflikte lassen sich mit beiderseitigem gutem Willen lösen.
Wenn man die Menschen liebt, sind Enttäuschungen und seelische Verletzungen nicht ausgeschlossen. Sie schmerzen sogar noch mehr als wenn man seine Mitmenschen nicht lieben würde. Wenn man jemanden liebt, wird dadurch ausgedrückt, dass einem der Andere nicht gleichgültig ist. Man nimmt Anteil am Leben des Anderen. Aber ist die Furcht vor Enttäuschung und seelischer Verletzung den hohen Preis eines Lebens in sozialer Isolation wert?
Die Menschen lieben bedeutet nicht, dass man zu allem „Ja und Amen“ sagt, dadurch gewissermaßen zum Spielball anderer Menschen wird und sich ausnutzen lässt. Bereitwilligkeit bedeutet beispielsweise nicht, sich zu verausgaben und über die eigenen Belastungsgrenzen zu gehen.
Nehmen wollen – das Ende der Liebe?
Die Eigenschaften der Liebe sind, wie schon erwähnt, auf das Sein und das Geben fokussiert. Was bedeutet es, wenn man nehmen, für sich selbst etwas herausholen will? Gehört zum Geben nicht auch das Nehmen ganz natürlich dazu? Schließlich ist im allgemeinen Sprachgebrauch oft von Geben und Nehmen im Sinn einer gesunden Balance im sozialen Miteinander die Rede. Hört man dann wirklich auf zu lieben?
Man mag es wohl drehen und wenden, wie man will. Lieben und Nehmen passt nicht zusammen. Die Liebe sucht nicht den eigenen Vorteil. Sie respektiert den Anderen, drängt nicht, setzt nicht unter Druck, setzt kein Ultimatum. Charles de Foucauld hat wohl recht. Wenn man für sich selbst etwas herausholen will, hört man auf zu lieben. Man tritt, bildlich gesprochen, aus dem „Haus der Liebe“ auf die Straße.
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