„Die Verzweiflung schickt uns Gott nicht, um uns zu töten, er schickt sie uns, um neues Leben in uns zu erwecken.“
Hermann Hesse
Hermann Karl Hesse (1877-1962) war ein deutsch-schweizerischer Schriftsteller, Dichter und Maler. Sein umfangreiches dichterisches Werk brachte ihm 1946 den Nobelpreis ein. Er zählt in Deutschland zu den bekanntesten Schriftstellern. Seine Werke wurden in mehr als 50 Sprachen übersetzt.
Verzweiflung – Angst ohne Hoffnung
Zu allen Zeiten stürzten und stürzen Menschen in Verzweiflung. Da wird beispielsweise urplötzlich die Existenzgrundlage gewissermaßen „unter den Füßen weggezogen“. Oder man erkrankt ohne Aussicht auf Heilung. Oder es geschieht sonst etwas, ein einschneidendes Ereignis, welches das Leben gewissermaßen aus der Bahn wirft. Wie nur soll es weitergehen?
Verzweiflung bezeichnet einen Zustand, in dem man völlig die Hoffnung verloren hat und keinen Ausweg mehr weiß. Es scheint kein vor und zurück mehr zu geben. Die Zukunft erscheint düster. Man sieht alles schwarz und Ängste gewinnen großen Raum. Der französische Philosoph René Descartes beschrieb Verzweiflung sehr kurz als Angst ohne Hoffnung.
Auch Hermann Hesse schien das Gefühl der Verzweiflung zumindest in seinen jungen Jahren gekannt zu haben. Er wuchs in einer vom Geist des schwäbischen Pietismus geprägten evangelischen Missionarsfamilie auf. Eigentlich war er für die Theologenlaufbahn bestimmt, aber heftige innere Konflikte führten ihn von diesem Weg wieder weg. Nach einem misslungenen Selbstmordversuch als 15-jähriger, vermutlich als Kulminationspunkt einer depressiven Phase, wurde er in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Er fühlte sich von Gott, den Eltern und der Welt verlassen. Hinter den starren und strengen pietistisch-religiösen Traditionen der Familie sah er nur noch Scheinheiligkeit.
Das Leben Hermann Hesses war von vielerlei Konflikten durchzogen. In vielen seiner Werke scheinen diese Konflikte, aber auch fundamentale Fragestellungen durch. Dieses Zitat entstammt seinem letzten großen Prosawerk, „Das Glasperlenspiel“ (1943), in dem die Sinnsuche immer wieder mitschwingt.
Was könnte Gott mit Verzweiflung zu tun haben?
Viele Menschen sind davon überzeugt, dass es einen Gott gibt. Eine häufig gestellte Frage ist dann auch, ob Gott zuweilen in ihr persönliches Leben eingreift, um sie zu belohnen oder zu bestrafen.
Wenn man davon überzeugt ist, dass Gott in das persönliche Leben eingreift, liegt der Gedanke nicht fern, dass Gott tatsächlich Verzweiflung schickt, um ein wie immer geartetes Fehlverhalten zu bestrafen.
Welcher Gott könnte gemeint sein?
Zunächst ist jedoch zu klären, welcher Gott gemeint sein könnte. Schließlich gibt es eine Vielzahl von Religionen und Göttern. Manche Religionen, wie beispielsweise der Hinduismus, sind polytheistisch, d. h. sie kennen eine Vielzahl von Göttinnen, Göttern und sonstigen Gottheiten oder Naturgeistern. Einige sind monotheistisch, wie beispielsweise das Judentum, das Christentum und der Islam. Sie kennen wiederum nur einen, den einen allumfassenden Gott.
Die verschiedenen Gottesvorstellungen lassen ich nicht zur Deckung bringen. Bei den genannten monotheistischen Religionen zeigen sich fundamentale Unterschiede im Hinblick auf Jesus Christus. Ist Jesus Christus Gott oder ist er es nicht? Das Christentum gründet auf der Vorstellung, dass Jesus Christus Gottes Sohn und eine Person der göttlichen Dreieinigkeit (Gott Vater, Jesus Christus als Gottes Sohn und Heiliger Geist) ist. Das Judentum sieht Jesus Christus nicht als Sohn Gottes an, da ein Mensch nach jüdischer Auffassung nicht göttlich sein kann. Im Islam ist Jesus Christus ein Prophet, nicht Gottes Sohn.
Entweder hat Gott einen Sohn oder er hat keinen Sohn. Beides zugleich ist nicht möglich. Die Frage: „Welcher Gott?“ muss also unbedingt beantwortet werden. Dann stellt sich schon die nächste Frage: „Ist es mit dem Wesen dieses Gottes vereinbar, Verzweiflung zu schicken?“.
Verzweiflung – ein Schicksal nur für Gottgläubige?
Auch die Frage, ob Verzweiflung möglicherweise nur Gottgläubige trifft, lässt sich stellen. Wenn Verzweiflung ein Schicksal nur für Gottgläubige wäre, dann wären beispielsweise Buddhisten davon ausgenommen. Im Buddhismus gibt es keinen Gott, denn Buddha sah sich selbst nicht als Gott. Und wo kein Gott ist, kann logischerweise auch keine Verzweiflung geschickt werden. Dennoch können auch Buddhisten – und dies zeigt das reale Leben – leiden und verzweifelt sein. Man denke nur an die mancherlei Flüchtlingstragödien oder Naturkatastrophen in den vom Buddhismus geprägten Teilen der Welt, die viele Menschen leiden und verzweifeln lassen. Ebenso können auch Atheisten und Agnostiker unter Verzweiflung leiden.
Ein Gedankenspiel ließe sich dahingehend anstellen, dass ein Gott auch Menschen Verzweiflung schickt, die nicht an einen Gott glauben. Diese Menschen könnten überhaupt keine Beziehung zwischen Gott und ihrer Verzweiflung herstellen. Was hätte es dann für einen Sinn, wenn Gott ihnen Verzweiflung schicken würde? Es wäre allerdings vorstellbar, dass ein Gott die Verzweiflung dazu nutzen könnte, seine Existenz in einer ganz persönlichen Erfahrung zu offenbaren.
Die Geschichte einer „Wette“
Angenommen, man schließt die Möglichkeit nicht aus, dass Gott in das persönliche Leben eingreifen und Verzweiflung schicken könnte. Aber tut das beispielsweise der Gott im Christentum wirklich?
Ausgerechnet die Bibel scheint auf den ersten Blick einen Hinweis zu geben, dass Gott tatsächlich Leiden und Verzweiflung schickt. Im Alten Testament ist im Buch Hiob die Rede von einem sehr begüterten Familienvater, Hiob, der ein gottgefälliges Leben führt. Es fehlt ihm buchstäblich an nichts. Er hat eine Frau und zehn Kinder, besitzt rund 11.000 Tiere unterschiedlicher Arten (Kamele, Schafe, Rinder und Esel) und hat außerdem viele Knechte und Mägde.
Das Buch Hiob schildert einen Dialog zwischen Gott und Satan (oft auch als Teufel bezeichnet), dem Widersacher Gottes. Der Satan behauptet, dass Hiob nur solange fromm sei, solange er in angenehmen Verhältnissen lebe. Er schlägt vor, die Gottesfurcht Hiobs auf die Probe zu stellen. Gott lässt sich auf diese Art „Wette“ ein und überlässt Hiob der Gewalt Satans. Hiob verliert seinen gesamten Besitz und auch alle seine Kinder durch plötzlichen Tod. Seine Frau bleibt hingegen am Leben.
Etwas später, als sich das von Satan gewünschte Ergebnis nicht einstellt, verlangt er von Gott, dass er auch Hiobs Gesundheit schädigen darf. Auch darauf lässt Gott sich ein und in der Folge erkrankt Hiob an einem bösartigen Geschwür und leidet auch unter der Verachtung seiner Mitmenschen. Auch seine Frau setzt ihm zu und rät ihm, sich von Gott abzukehren.
Hiob klagt an, aber wendet sich nicht von Gott ab. Satan hat letzten Endes die „Wette“ verloren. Daraufhin erlöst Gott Hiob von der schweren Krankheit. Hiobs weiteres und langes Leben bewegt sich von da an wieder auf der Sonnenseite. Er kann das Doppelte seines früheren Besitzes erwerben. Auch wird er wieder Vater von zehn Kindern.
Im Buch Hiob kommt auch zum Ausdruck, dass Gott das Leiden des Hiob nicht aktiv bewirkt, sondern zulässt. Es geht nicht auf Gottes Initiative zurück, sondern steht im Gegensatz zu seinem eigentlichen Willen.
War die „Wette“ wirklich notwendig?
In der Bibel wird immer wieder die Allwissenheit Gottes erwähnt. Ein allwissender Gott ist nicht an Raum und Zeit gebunden und kennt somit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Demnach, so lässt sich folgern, wusste also Gott schon von Beginn an, dass Hiob nicht nur solange fromm ist, solange er in angenehmen Verhältnissen lebt.
Dass Gott sich überhaupt auf diese „Wette“ einließ, lässt außerdem die Folgerung zu, dass Satan nicht allwissend ist. Wenn beide Wettpartner allwissend wären, ergäbe eine Wette keinerlei Sinn, denn beiden wäre ja der Ausgang bereits bekannt. Eine Wette ist schließlich nur bei unbekanntem Ausgang sinnvoll.
Kann Verzweiflung überhaupt von Gott kommen?
Die Frage: „Ist es mit dem Wesen Gottes vereinbar, Verzweiflung zu schicken?“ lässt sich jetzt eher beantworten. Wenn Leiden im Gegensatz zu seinem eigentlichen Willen steht, dann wird er auch keinen Menschen in Verzweiflung schicken.
Der Mensch wäre Gott sogar moralisch überlegen, wenn er in der Lage wäre, „besser“ als Gott zu handeln. In einer Beziehung zwischen Menschen, die einander wichtig sind, wird keiner dem Anderen Leid zufügen oder Verzweiflung bewirken wollen. Wer würde beispielsweise der geliebten Partnerin oder dem geliebten Partner Leid zufügen wollen? Man wird nur das Beste für sie bzw. ihn im Sinn haben und nie mit Absicht etwas tun, was dem Anderen Leid zufügt.
Doch selbst wenn ein allwissender Gott jemandem absichtlich Verzweiflung schicken würde, dann würde dies wohl auch nur dann geschehen, wenn Gott weiß, dass der Betreffende es schaffen wird, wieder aus seiner Verzweiflung herauszufinden. Was hätte Gott gewonnen, wenn er „die Schraube überdreht“ und der Leidende endgültig in Verzweiflung versinkt?
Neues Leben erwecken – wie kann dies geschehen?
Psychologisch betrachtet ist Verzweiflung ein sinnloses Leiden. „Verzweiflung ist Leiden ohne Sinn“, so drückte es der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl aus. Viktor Frankl musste während der NS-Zeit über zwei Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern verbringen. Er lernte die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung seiner Mithäftlinge unmittelbar und aus nächster Nähe kennen. Diese Erlebnisse und Erfahrungen bildeten sicherlich den Hintergrund für diese Aussage.
Wenn man schon in der Verzweiflung feststeckt, wie kann man wieder neues Leben erwecken? Sicherlich ist es kein einfacher Weg, denn ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit ist zumindest am Anfang des Wegs stets präsent.
Die Verzweiflung akzeptieren
Es ist wichtig, sich selbst nichts vorzumachen und die Verzweiflung mit allen ihren begleitenden Gefühlen zu akzeptieren. Jetzt ist es so gekommen, wie man es nie wollte, aber jetzt ist es so, wie es gerade ist. Aber Verzweiflung muss nicht das Ende sein und ist es auch nicht.
Sich auf eigene Ressourcen besinnen
„Meine Verzweiflung ist ein Leiden ohne Sinn“ – diese persönliche Formulierung der Aussage Viktor Frankls kann ein Impuls dafür sein, die Energie zu finden, um das eigene Blickfeld zu erweitern. „Weil mein Leiden sinnlos ist, will ich versuchen, daraus wieder herauszufinden“, könnte ein Ansatz sein. Man kann damit beginnen, sich (wieder) auf die eigenen Ressourcen zu besinnen. Man hat Begabungen und Kompetenzen und man hat auch in der Vergangenheit schon einiges geschafft.
Wenn es gelingt, sich von der Fokussierung auf Ängste und Hoffnungslosigkeit zu lösen, werden auch Mittel und Wege erkennbar, um die Situation zum Positiven hin zu verändern. Ideen und Ansätze können wieder Raum gewinnen und der Verzweiflung wird Raum genommen.
Vertrauenswürdige Personen einbeziehen
Wenn man Personen kennt, zu denen man volles Vertrauen hat, können einem diese eine sehr wertvolle Hilfe beim Verarbeiten der Verzweiflung sein. Ehrliche Gespräche helfen, Hintergründe der Verzweiflung aufzuhellen. Sie bringen auch andere Perspektiven ein und machen vielleicht auch Wege sichtbar, die aus der Verzweiflung herausführen können und an die man bisher selbst überhaupt nicht gedacht hat. Die Verzweiflung verengte schließlich den eigenen Blick. Davon abgesehen vermitteln Gespräche mit vertrauenswürdigen Personen auch Rückhalt, Zuspruch und Wertschätzung der eigenen Person.
Professionelle Unterstützung erwägen
Es mag sein, dass man sich in seiner Verzweiflung selbst zurückgezogen hat. Vielleicht fürchtet man, als Versager dazustehen und möchte deshalb niemand ins Vertrauen ziehen. Vielleicht kennt man auch keine vertrauenswürdigen Personen, an die man sich wenden könnte. Wenn man den Weg aus der Verzweiflung alleine nicht schafft, ist es im Allgemeinen hilfreich und sinnvoll, professionelle Unterstützung durch einen Experten (z. B. Psychotherapeut) in Anspruch zu nehmen. Schließlich mag es auch sein, dass die Verzweiflungssymptome auf eine ernsthafte Depression hindeuten.
In jedem Fall gilt: Die Verzweiflung ist nicht das Ende!
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