„Es ist schön zu leben, weil Leben anfangen ist, immer, in jedem Augenblick.“
Cesare Pavese
Cesare Pavese (1908-1950) war ein italienischer Schriftsteller und gilt als einer der Begründer der modernen italienischen Literatur. Im Jahr 1950 wurde eines seiner Werke, die Erzählung „Der schöne Sommer“, mit dem Premio Strega ausgezeichnet, dem höchsten italienischen Literaturpreis. Er machte sich auch als Übersetzer amerikanischer Literatur einen Namen.
Wegen seiner antifaschistischen Haltung wurde er 1935 für einige Monate nach Süditalien verbannt. Über weite Strecken seines Lebens litt Cesare Pavese unter Einsamkeit. Bald nach der Verleihung des Premio Strega setzte er seinem Leben selbst ein Ende.
Ist das Leben festgefahren?
Anna (*) ist alleinerziehend. Ihr Partner hat sie schon vor der Geburt ihres Kindes verlassen. Jetzt muss sie für das Kind und für sich selbst sorgen. Ein sprichwörtlicher „Alltagstrott“ bildet sich heraus mit all seinen vielfältigen Aufgaben. Kind versorgen, zur Arbeit gehen, Haushalt führen, machen einen großen Teil ihres Lebens aus. Sie hat sprichwörtlich alle Hände voll zu tun, um allen Verpflichtungen zu genügen und natürlich auch gut für ihr Kind zu sorgen.
Wenn sie gefragt würde, ob sie es schön findet, zu leben – was würde sie antworten? Sie würde wahrscheinlich an die vielen Aufgaben und an ihre Verantwortung denken. Ihr Leben erscheint ihr vielleicht als festgefahren. Vielleicht empfindet sie es sogar als eine Art Pflicht, denn zumindest um ihres Kindes willen muss sie „funktionieren“. Daran, dass das Leben schön ist und Leben immer wieder anfangen ist, würde sie eher nicht denken. Sie ist ja schließlich gefangen in ihrer Alltagsroutine und ihren Alltagssorgen.
Gefangen im Netz des Alltäglichen?
So wie Anna geht es vielen Menschen. In der Tat kann man, wenn man auf das große Ganze blickt, nicht einfach neu anfangen. Die großen Linien im Leben sind gezogen. Wesentliche Entscheidungen wurden schon vor Jahren getroffen. Jetzt fühlt man sich vielleicht wie in einem Korsett. Man kann nicht einfach spontan und ohne Konsequenzen eine neue Richtung einschlagen. Das ungezwungene, ungebundene, und sorg(en)lose Leben bei gleichzeitiger finanzieller und materieller Sicherheit erweist sich als unerreichbarer Wunschtraum.
Wenn man morgens aufwacht, stellt man fast ausnahmslos fest, dass sich über Nacht nichts verändert hat. Der fiese Chef wird sehr wahrscheinlich auch an diesem Tag der fiese Chef sein. Die Schulden auf dem Konto sind nicht geringer geworden oder gar verschwunden. Die depressiven Gedanken beschäftigen einen auch an diesem Tag wieder. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.
Vieles, was einen belastet – bildlich gesprochen, seinen Rucksack -, muss man mit in einen neuen Tag nehmen. Man kann es am Vorabend nicht einfach zurücklassen. Wie sollte man dann neu anfangen können, sogar jeden Augenblick?
Welche Möglichkeiten bieten sich?
Was wäre, wenn Anna trotzdem daran dächte, immer wieder neu anzufangen? Dabei ginge es ja nicht darum, ihr Leben komplett umzukrempeln und alles anders zu machen. Dies wäre ja auch nicht möglich. Auf ihre Arbeitsstelle ist sie angewiesen. Da sie, bildlich gesprochen, von der Hand in den Mund lebt, könnte sie sich beispielsweise nicht einfach eine einjährige Auszeit gönnen.
Für Anna ginge es erst einmal nur darum, sich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Welche Chancen bieten sich jetzt gerade in diesem Moment, etwas neu anzufangen? Was könnte sie neu oder anders (auch das wäre in gewissem Sinn neu) machen? Wäre es eher etwas im Kleinen oder könnte sie auch an etwas Größeres denken? Welche Möglichkeiten bieten sich für sie?
Auf den ersten Blick fallen vielleicht keine Möglichkeiten ein. Doch lohnt sich nicht noch ein zweiter Blick, diesmal etwas tiefer?
Ist die Sichtweise festgefahren?
Anna kann auf ihr Leben aus, grob gesprochen, zwei Blickwinkeln schauen. Der eine lässt sich etwa so ausdrücken: „Mein Leben besteht aus lauter Pflichten – und so wird es auch bleiben. Ständig muss ich funktionieren und hinterher sein, damit ich alles schaffe, was ich schaffen muss.“. Mit anderen Worten und etwas kürzer ausgedrückt: „Ich werde gelebt“ – die vielfältigen Verpflichtungen bestimmen das Leben. Dann ist nachvollziehbar und verständlich, wenn man meint, dass das Leben nicht schön ist.
Der andere Blickwinkel ist etwa so: „Ich kann etwas ändern, wenigstens im Kleinen – und ich kann jetzt damit anfangen“. Annas Lebenssituation ist unverändert, aber sie drückt damit aus: „Ich möchte mein Leben im Rahmen meiner Möglichkeiten aktiv gestalten.“. Wie klein der Freiraum auch sei, man kann etwas gestalten, und man kann es so gestalten, dass man das Leben als schön empfindet.
Ist die Sichtweise auf das Leben festgefahren – und nimmt man es unausgesprochen hin? Oder kann man sich dazu aufraffen, vielleicht sogar dafür begeistern, immer wieder Neuanfänge im Leben zu suchen und sie umzusetzen?
Mit kleinen Anfängen beginnen – Neues ausprobieren
Wenn man (mit) etwas anfangen möchte, ist es sicherlich am besten, sich etwas vorzunehmen, was wenig Zeit erfordert und sich relativ leicht realisieren lässt. Dann stellt sich die Frage: Wie kann man solche kleinen Anfänge in den Alltag integrieren? Schließlich sind die Tage schon mit den verschiedensten Aktivitäten ausgefüllt. Von morgens bis abends gibt es immer etwas zu tun.
Man könnte sich beispielsweise Folgendes vornehmen: „Ich ignoriere in der nächsten Stunde alle WhatsApp-Nachrichten. Stattdessen nehme ich mir zehn Minuten Zeit und tue für mich etwas, wovon ich anschließend sagen kann: »das Leben ist schön.«“.
In diesen zehn Minuten könnte man etwas Neues ausprobieren. Vielleicht mag man Tomaten und es ist gerade Anfang März. Weshalb nicht ein kleines Experiment wagen und Tomatenpflanzen selbst ziehen? Auch das wäre ein Anfang. Dazu benötigt man lediglich ein paar leere Joghurtbecher (in deren Unterseite mit einem spitzen Gegenstand ein paar Löcher gestochen werden, damit Wasser abfließen kann), für jeden Becher eine Untertasse, Anzuchterde und Tomatensamen. Pro Becher ist ein Same schnell in die Erde gebracht.
Vielleicht kennt man jemand, dem es gerade nicht so gut geht. Weshalb nicht eine Karte als kleine Aufmunterung gestalten? Auch das wäre ein Anfang. Man braucht lediglich eine Karte, einen Umschlag und eine Briefmarke. Wie man der Karte seine ganz persönliche Note verleiht, ist der eigenen Kreativität überlassen.
Diese beiden Beispiele stehen für kleine Anfänge. Man nimmt sich etwas Zeit und schafft etwas Neues. Liegt es dann nicht sehr viel näher, das Leben schön zu finden, als wenn man Zeit in etwas investiert, das einen von derartigen Anfängen abhält?
Wie wäre es, sich jeden Tag einen Anfang im Kleinen vorzunehmen? Was es auch sein mag, man schafft etwas Neues. Und man erlebt sich selbst mit seiner Gestaltungskraft.
Aus kleinen Anfängen können sich größere entwickeln
Kleine Anfänge sind oft mit Erfolgen verknüpft. Was in relativ kurzer Zeit mit relativ wenig Aufwand zu bewerkstelligen ist, hat eine wesentlich größere Chance auf Erfolg als das Große, das sich über Wochen, Monate oder vielleicht sogar Jahre hinzieht. Man erlebt sich als wirksam, dass man etwas zuwege bringen kann. Man sieht vor sich, was man geschaffen bzw. erschaffen hat. Liegt es nicht nahe, das Leben schön zu finden – wenigstens in diesem Augenblick -, wenn man sich so als „Schöpfer“ erlebt?
Aus kleinen Anfängen können sich größere entwickeln. Man könnte sich etwas Größeres vornehmen, beispielsweise, sich selbst zu erneuern, das bisherige Fahrwasser zu verlassen. Dann setzt man für sein Leben einen neuen Kurs. Um sich nicht zu viel vorzunehmen ist es ratsam, sich kleine Ziele zu setzen, für jeden Tag. Konfuzius, ein chinesischer Philosoph, drückte es so aus: „Wenn du die Absicht hast, dich zu erneuern, tu es jeden Tag.“. Auf diese Weise wird der große Anfang in viele kleine Anfänge aufgegliedert. Man erneuert, ändert sich, jeden Tag ein bisschen.
Wenn man dann immer wieder erlebt, ein kleines Stückchen vorangekommen zu sein, ist dies dann nicht Anlass, das Leben schön zu finden? Und man lernt mit der Zeit, den Reiz des Anfangs zu genießen.
Den Anfang bewusst erleben
Es wäre schade, einen Anfang, so klein er auch sein mag, nur beiläufig wahrzunehmen, ihn nicht wirklich zu beachten. Wie wäre es, wenn man versucht, einen Anfang mit allen Sinnen wahrzunehmen?
Was nimmt man wahr, wie fühlt es sich beispielsweise an, wenn man einen Joghurtbecher in die Hand nimmt – der Anfang – und mit der Scherenspitze ein paar Löcher in den Boden macht, … wenn man die Scherenspitze dreht, um ein Loch zu vergrößern, … wenn man die Anzuchterde in den Joghurtbecher füllt …? Nimmt man sich selbst als „Schöpfer“ wahr?
In der Konsequenz fokussiert man sich quasi automatisch auf das Hier und Jetzt. Die Vergangenheit tritt in den Hintergrund. Das Grübeln über Fehler und Versagen in der Vergangenheit findet keinen Raum mehr. Die Vergangenheit lässt sich ohnehin nicht mehr rückwirkend ändern. Weshalb sich dann nicht lieber auf das Hier und Jetzt konzentrieren und es bewusst erleben? Ist das Leben dann – in genau diesem Moment – nicht schön?
Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: die Dankbarkeit. Dass man anfangen kann ist nicht selbstverständlich. Und weil es nicht selbstverständlich ist, kann man dankbar sein.
Eine tragische Geschichte
Cesare Paveses Leben endete durch Selbstmord mit einer Überdosis von Schlafmitteln. In einem Hotelzimmer schied er im Alter von 42 Jahren ganz einsam aus dem Leben. Er lebte relativ zurückgezogen und empfand das Leben als Leiden. Der Gedanke an Selbstmord scheint in seinem Tagebuch immer wieder durch. Das immer wieder erlebte Gefühl der Einsamkeit war für ihn wohl unerträglich.
Auch die Verleihung des italienischen Literaturpreises in seinem Todesjahr, auf der Höhe seines Ruhms, konnte ihm nicht den Auftrieb geben, sein literarisches Werk fortzusetzen. Schon ein Jahr zuvor zog er für sich in seinem Tagebuch gewissermaßen eine Bilanz seines literarischen Schaffens und betrachtete es als abgeschlossen.
Einerseits spricht Cesare Pavese davon, das Leben als schön zu empfinden, weil man immer wieder anfangen kann. „Die einzige Freude auf der Welt ist das Anfangen.“, steht dem Zitat noch voran. Andererseits begeht er Selbstmord, weil er sich vermutlich vom Anfangen nichts mehr erhofft. Wieder anfangen? Wenn ja, wofür? Er wollte nicht mehr anfangen.
Auch wenn Cesare Paveses Leben so tragisch endete; er drückte eine Wahrheit aus, die Bestand hat. Und man kann sie für sich ausprobieren. Gibt es ein Risiko? Wenn man etwas anfängt, kann man scheitern. Aber darf der Gedanke an das Scheitern den Gedanken an das Anfangen verstellen? Oder gewinnt man in jedem Fall, wenn man nur anfängt?
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