„Krise wird wirklich als der Mangel an Vertrauen.“
Karl Jaspers
Karl Theodor Jaspers (1883-1969) war ein deutscher Psychiater und Philosoph. Als Arzt trug er grundlegend zur wissenschaftlichen Entwicklung der Psychiatrie bei. Sein umfangreiches philosophisches Werk gewann insbesondere in den Bereichen der Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie und der Interkulturellen Philosophie große Bedeutung.
Wenn alles völlig aus den Fugen gerät
Wer hätte im Frühjahr 2020 damit gerechnet, dass aufgrund der Coronavirus-Pandemie noch im selben Jahr das Reisen weitgehend eingeschränkt werden würde? Und wer hätte gedacht, dass die individuelle Bewegungsfreiheit drastisch beschnitten werden würde? Anfang 2021 trat sogar eine vorübergehende Beschränkung bezüglich privater Kontakte in Kraft, der zufolge sich ein Haushalt selbst in privaten Räumen nur noch mit einer weiteren Person treffen durfte (wobei diverse Ausnahmeregelungen zu beachten waren).
Die Corona-Pandemie führte dazu, dass vermeintliche Selbstverständlichkeiten infrage gestellt wurden. Mit einem Mal war vieles bisher für selbstverständlich erachtete nicht mehr möglich. Die Corona-Pandemie hatte sich auf der ganzen Welt zu einer kollektiven Grenzsituation entwickelt. Mit dem Begriff „Grenzsituation“ meinte Karl Jaspers Situationen, in denen einem gewissermaßen der Teppich unter den Füßen weggezogen wird. Man stößt endgültig, unausweichlich und unüberschaubar an Grenzen, die Grenzen des Seins. Bildlich gesprochen, fällt die Konstruktion aus vertrauten Sicherheiten, Überzeugungen und Erwartungen in sich zusammen.
Die Erwartung eines stetigen Wirtschaftswachstums, einer stetigen Grenzverschiebung des technisch Machbaren, und einer weitestgehenden Kontrollierbarkeit erwies sich auf einmal als illusionär. Ein kleines Virus brachte ungeahnte Herausforderungen mit sich. Auf eine gehobene Stimmung folgte gewissermaßen ein kalter Entzug. Kann die dadurch entstandene immense Spannung ausgehalten werden? Kann immense Spannung auch in anderen Grenzsituationen als der Coronavirus-Pandemie ausgehalten werden?
Wie kann man individuell auf Grenzsituationen reagieren?
Auch auf der individuellen Ebene steht man vor der Frage, wie man mit einer Grenzsituation – dazu zählen Tod, Leid, Kampf, Zufall, Schuld und die Unzuverlässigkeit der Welt – umgeht. Kann man sie annehmen oder versucht man, ihr auszuweichen? Dies kann durch Leugnen, Umdeuten oder Bagatellisieren geschehen. Aber dieser Versuch muss scheitern, denn einer Grenzsituation kann man nicht wirklich ausweichen.
Wenn man schon nicht ausweichen kann, stellt sich die Frage, wie man dann darauf reagiert. Man kann sich in eine Opferrolle begeben oder man kann versuchen, in Eigenverantwortung Möglichkeiten zur Veränderung zu suchen und wahrzunehmen.
Unbestreitbar hat die schon erwähnte Coronavirus-Pandemie viele Opfer in den verschiedensten Bereichen gefordert. Menschen, die unter normalen Umständen noch einige oder viele Jahre vor sich gehabt hätten, sind an der Erkrankung verstorben. Menschen gerieten durch den Lockdown in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Manche Existenzen wurden vernichtet. Beziehungen zerbrachen, weil der Blick auf die Beziehungsqualität wie durch ein Brennglas hindurch intensiviert wurde. Weitgehend frei von Ablenkungen stellte man ernüchtert fest, dass nicht viel Verbindendes da war.
Man ist in vielerlei Hinsicht Opfer. Die Frage ist jedoch, ob man das Opfersein in der Opferrolle manifestiert oder ob man auf der Grundlage von Selbstverantwortung Wege zu einer aktiven Veränderung suchen und finden möchte. Für Letzteres ist Vertrauen notwendig.
Um welche Art von Vertrauen geht es?
Vertrauen ist vor allem in unsicheren Situationen gefragt, wenn unklar ist, wie sich Verhältnisse entwickeln (z. B. Geldwertstabilität), wie Prozesse ablaufen (z. B. Pandemiebekämpfung), oder wie eine oder mehrere Personen bzw. Personengruppen handeln (z. B. Politiker). In gewisser Weise bezeichnet Vertrauen auch eine Kalkulierbarkeit künftigen Verhaltens bzw. künftiger Entwicklung.
Die Kalkulierbarkeit bzw. Vorhersehbarkeit gründet in der Regel auf einer Erfahrungsgrundlage. Wenn sich beispielsweise ein Politiker durch häufigen Widerspruch zwischen Reden und tatsächlichem Handeln „auszeichnet“, wird die Erfahrungsgrundlage negativ geprägt sein. „Diesem Politiker ist nicht zu trauen“, so oder ähnlich ließe sich die Erfahrungsgrundlage zusammenfassen. Wenn die Erfahrungsgrundlage negativ geprägt ist, wird sehr wahrscheinlich die Vertrauensgrundlage fehlen. „Ich vertraue diesem Politiker nicht und deshalb werde ich ihn auch nicht wählen“, wäre die Konsequenz.
Es gibt jedoch immer Situationen, in denen erstmaliges Vertrauen gefragt ist. Weder Erfahrungsgrundlage noch die damit verknüpfte Vertrauensgrundlage sind schon vorhanden. Da sind beispielsweise das Kleinkind und der Vater mit seinen ausgebreiteten Armen. Das Kind ist noch nie zuvor in die Arme des Vaters gesprungen. Jetzt steht es erhöht und sieht den Vater, wie er ihm einen ermunternden Blick zuwirft. Der Vater spricht es nicht aus, aber alles an ihm drückt es aus: „Vertrau mir!“ Wird das Kind den Sprung wagen? Für das Kind ist es das erste Mal, für den Vater aber auch.
Das Kind muss ein Risiko eingehen. Anders geht es nicht. Das Risiko besteht darin, dass der Vater seine Arme zurückzieht, das Kind hart auf dem Boden aufschlägt und sich dabei möglicherweise verletzt. Wenn das Kind ein Risiko eingeht, macht es sich gleichzeitig auch verletzlich. Das Vertrauen könnte schließlich enttäuscht werden und die Beziehung zum Vater gestört werden.
Mit dem Sprung liefert sich das Kind aus. Es erwartet, dass es vom Vater aufgefangen wird. Aber es gibt die kurze Zeitspanne, während der es sich in der Luft im freien Fall befindet. Es ist schon losgesprungen, aber der Vater hat es noch nicht aufgefangen. Mit dem Sprung hat das Kind sein Vertrauen bewiesen.
Vertrauen – ja, aber in wen?
Setzt man in einer schwierigen Situation – es muss keine Grenzsituation sein – sein Vertrauen in andere Menschen oder investiert man sein Vertrauen in sich selbst? Wenn man sein Vertrauen in andere Menschen setzt (Politiker, Wirtschaftslenker usw.) billigt man jenen die Kompetenz und Fähigkeit zu, Lösungen zu finden und diese in der jeweiligen schwierigen Situation auch umzusetzen. Jene sollen aktiv werden und bleiben, nach dem Motto: „Macht ihr mal!“, bis die schwierige Situation überstanden ist. Eigene Aktivitäten können so dosiert werden, wie es die Verhältnisse erfordern, nach dem Motto: „Nicht mehr als unbedingt notwendig“.
Vertrauen ist, wie schon erwähnt, risikobehaftet und kann deshalb enttäuscht werden. Es mag sein, dass es dem bzw. den Vertrauensnehmern wider Erwarten nicht gelingt, eine schwierige Situation zu überwinden. Dann hätte man eigene Handlungsmöglichkeiten brachliegen lassen und wertvolle Zeit verloren. Darüber hinaus wäre das Vertrauen in den bzw. die Vertrauensnehmer massiv geschädigt.
Wäre es nicht eine sinnvolle Entscheidung, Vertrauen in sich selbst zu setzen? Man hat als psychisch gesunder Mensch schließlich selbst Fähigkeiten und Kompetenzen, auch in schwierigen Situationen Wege zu suchen und zu finden.
Auch wenn man sein Vertrauen in sich selbst setzt, geht man ein Risiko ein. Man kann dabei scheitern, eine schwierige Situation zu überwinden. Es wird nie eine Gewähr dafür geben können, dass man es schafft. Aber sollte man es deshalb gleich gar nicht erst versuchen?
Ein Entweder-Oder – nur anderen Menschen vertrauen oder nur sich selbst vertrauen – wäre im realen Leben nicht sinnvoll. Sehr häufig ist man auch auf andere angewiesen, beispielsweise um Rahmenbedingungen zu schaffen, damit ein Weg aus einer schwierigen Situation erleichtert wird.
Wenn ein Sowohl-als-auch die sinnvolle und pragmatische Einstellung ist, stellt sich dennoch die Frage, wem man hauptsächlich vertrauen will. Setzt man sein Vertrauen in erster Linie auf sich selbst oder auf andere?
Was, wenn das Selbstvertrauen fehlt?
Vielleicht ist in einer Krise das Vertrauen in sich, in die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen, das Selbstvertrauen, schwach ausgeprägt. Vielleicht blickt man auf eine Erfahrungsgrundlage zurück, die von wiederholtem Scheitern geprägt ist. Dementsprechend ist auch die Vertrauensgrundlage dünn. Möglicherweise hat sich auch schon ein Glaubenssatz herausgebildet, wie etwa „Ich bekomme es einfach nicht hin, egal wie ich mich auch anstrenge“.
Aber ist denn gesagt, dass man auch in Zukunft scheitern wird, wenn man nach Lösungen sucht, etwas anpackt und Lösungswege umsetzt? Solange man noch nichts angepackt hat, ist noch nicht erwiesen, wie etwas ausgeht. Aber vielleicht hat man Angst, überhaupt etwas zu wagen, anzupacken und ein Risiko einzugehen. Was dann?
Sind denn die eigenen Ressourcen, die Summe der Fähigkeiten und Kompetenzen, vollkommen verlorengegangen? Wohl kaum! Vielleicht ist es notwendig, an seinen Fähigkeiten und Kompetenzen zu arbeiten, sie zu verbessern. Aber sie sind nicht verschwunden.
Mit seinen Ressourcen hat man bestimmt auch in der Vergangenheit schon einiges geschafft, was man in einer aktuellen, schwierigen Situation vielleicht gar nicht (mehr) sehen kann. Vielleicht liegt das Erfolgserlebnis zeitlich etwas zurück, aber es war definitiv ein Erfolgserlebnis. Und die Ressourcen sind immer noch vorhanden. Das kann Mut machen, und Mut zu sich selbst ist notwendig, um (wieder) ein Risiko einzugehen und etwas anzupacken. Dann kann auch die Angst vor einem (erneuten) Scheitern leichter überwunden werden. Viktor Frankl, österreichischer Neurologe und Psychiater, drückte es so aus: „Erst der Mut zu sich selbst wird den Menschen seine Angst überwinden lassen.“. Der eigene Mut steht der eigenen Angst entgegen und ist stärker als sie.
Wenn der Mangel an Vertrauen die Krise wirklich werden lässt?
Macht erst der Mangel an Vertrauen die Krise wirklich, wie Karl Jaspers es betrachtet? Ist jede Krise immer auch eine Vertrauenskrise? Ein Blick in Vergangenheit und Gegenwart, auf internationale, nationale, regionale und ganz persönliche Krisen, unterstützt Karl Jaspers‘ Aussage. Immer ist das Vertrauen im Spiel, Vertrauen auf andere, aber in den ganz persönlichen Krisen auch auf sich selbst.
Lautet der Umkehrschluss: „Wenn Vertrauen vorhanden ist, gibt es auch keine Krise“? Sicherlich wäre ein solcher Umkehrschluss unzutreffend. Wie wäre es mit folgender Umformulierung: „Die Krise ist da, aber wenn Vertrauen vorhanden ist, können Wege gefunden und begangen werden, um die Krise zu überwinden.“?
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