„Mein Leben beginnt jeden Tag neu und endet jeden Abend.“
Edith Stein
Edith Stein (1891-1942) war eine deutsche Philosophin und Frauenrechtlerin jüdischer Herkunft. 1922 trat sie in die katholische Kirche ein und wurde nach Eintritt in den Karmelitenorden 1933 Nonne. In der katholischen Kirche wird sie als Heilige und Märtyrerin der Kirche verehrt und gilt als Brückenbauerin zwischen Christen und Juden.
Ab 1911 studierte sie Psychologie, Philosophie, Germanistik und Geschichte und promovierte 1916 mit „summa cum laude“ bei Edmund Husserl und wurde Assistentin des Philosophen. Als jüdischer Frau wurde ihr die Habilitation verweigert. Edith Stein hinterließ rund 25.000 Handschriften, die heute im Edith-Stein-Archiv aufbewahrt werden.
Jeden Tag neu beginnen – weshalb?
Natürlich ist es aus biologischer Sicht nicht möglich, das Leben jeden Tag neu zu beginnen. Der Körper altert unaufhaltsam und dieser Alterungsprozess lässt sich nicht aufhalten, durch gesunde Lebensführung höchstens verzögern.
Geist und Seele haben die Möglichkeit, anders auf das Leben zu schauen. Es ist tatsächlich möglich, jeden Tag als ein neues Kapitel im Leben zu betrachten. Es ist eine „Kopfsache“.
Weshalb scheint dies wichtig zu sein? Schließlich war Edith Stein mit ihrer Aussage nicht alleine. Auch der Theologe Dietrich Bonhoeffer formulierte es ganz ähnlich wie sie: „Jeder neue Morgen ist ein neuer Anfang unseres Lebens. Jeder Tag ist ein abgeschlossenes Ganzes.“. Und auch schon der Philosoph Seneca sprach vor rund 2 000 Jahren davon und formulierte es als Anregung: „Fang jetzt an zu leben, und zähle jeden Tag als ein Leben für sich.“.
Wenn man jeden Tag für sich betrachtet, nimmt man jeden Tag wichtig. Man lebt bewusst(er). Man macht sich Gedanken zum neuen Tag und reflektiert den Vergangenen. Der Blick wird viel stärker darauf gerichtet, was jetzt wichtig ist.
Jeder Tag hat seine eigenen Herausforderungen und Belastungen. Am Tagesende stellt sich die Frage, was man in den nächsten Tag mitnehmen möchte oder gar muss. Vielleicht gab es in der Familie oder in der Partnerbeziehung „dicke Luft“. Man könnte sich dafür entscheiden, noch zu klären oder zu bereinigen, was möglich ist. Dann muss man es nicht in den nächsten Tag mitnehmen.
Eine Anregung für die guten Zeiten
Dieses Zitat Edith Steins entstammt einem Brief vom Februar 1928. Zu dieser Zeit war sie als Lehrerin in Speyer tätig. Die Zeit ihrer Verfolgung war noch nicht gekommen. Es war kein erlebter Leidensdruck, der Edith Stein zu dieser Aussage veranlasste. Und im Alter von 37 Jahren war es vermutlich auch nicht der Gedanke an das Alter, jeden Tag als abgeschlossenes Ganzes zu betrachten.
Erst einige Jahre später begann für Edith Stein eine Verfolgungs- und Leidenszeit. Bald nach der Machtübernahme Adolf Hitlers (30. Jan. 1933) begann die Ausgrenzung der Juden aus allen Gesellschafts- und Lebensbereichen im damaligen Deutschen Reich. Bereits Ende März 1933 wurde, unterstützt durch flankierende Propagandamaßnahmen, mit der Vorbereitung einer Boykottaktion gegen von Juden geführte Betriebe (z. B. Einzelhandelsgeschäfte), Anwaltskanzleien und Arztpraxen begonnen.
Auch Edith Stein bekam den entstandenen Druck zu spüren. Schon Ende April 1933 gab sie ihre Arbeitsstelle am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster auf, um das Institut nicht zu gefährden. Bei weiterer Beschäftigung einer gebürtigen Jüdin hätten sich Nachteile für das Institut ergeben können.
Jahre später – Edith Stein war in ein Kloster in den Niederlanden umgesiedelt – wurde sie von der Verfolgung des NS-Regimes erreicht. Im August 1942 wurde sie zusammen mit ihrer Schwester Rosa in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert und kam dort um.
Die Hüttenwanderung – ein Gedankenexperiment
Wie kann man jeden Tag als abgeschlossenes Ganzes sehen? Ein kleines Gedankenexperiment kann dabei hilfreich sein, es sich besser vorzustellen.
Angenommen, man macht sich auf zu einer mehrwöchigen Hüttenwanderung. Alles ist gut geplant und vorbereitet. Der Rucksack ist gepackt. Nur das Notwendigste nimmt man mit. Bei Zahnpasta, Sonnencreme usw. beschränkt man sich auf die kleinsten Packungsgrößen. Schließlich soll der Rucksack so leicht wie nur eben möglich sein. Unterwegs, wenn man den Rucksack Berge hochtragen muss, würde man sich jedes Mal über zu viel Gewicht ärgern.
Morgens macht man sich bereit für den Weg, der bis zum Abend zur nächsten Hütte führen wird. Es hat den Charakter eines dann immer wiederkehrenden Rituals: Aufstehen, Waschen, Frühstücken, Wettervorhersage anschauen, Rucksack packen, prüfen, ob nichts vergessen wurde … Dann kann es losgehen.
Vielleicht ist es ein wunderschöner Tag. Man nimmt mit allen Sinnen wahr: den schönen Ausblick auf die sonnenbeschienenen Hügel und Berge, das Geräusch der umherfliegenden Insekten, die Gerüche der Pflanzen am Wegrand, das Gefühl des warmen Windes, der um die Haut streicht, …. Hin und wieder begegnet man Wanderern. Man erwidert ihren Gruß.
Aber vielleicht ist es überhaupt kein schöner Tag. Es regnet mal mehr, mal weniger stark, und man bekommt von der Landschaft wenig zu sehen. Die Gipfel sind in Wolken gehüllt. Man trägt einen Regenumhang, der einen eigentlich nur behindert. Bei dem schlechten Wetter ist so gut wie niemand unterwegs. Man muss einfach nur vorwärtskommen.
Zur Wahrnehmung gehört auch die Last des Rucksacks, der all die Dinge enthält, die man auf dem Weg braucht. Und die Wahrnehmung des Schweißes gehört dazu, und die Wahrnehmung der Lunge, die nach Luft verlangt, gerade wenn es steil bergauf geht. Man spürt seinen Atem und hört, wie man keucht. Man nimmt wahr, wie der Körper automatisch ausgleicht und sich stabilisiert, wenn man einmal ins Stolpern gerät. Je mehr Weg man zurückgelegt hat, desto mehr macht sich die Muskulatur bemerkbar. Der Körper verlangt eine Pause, die man ihm gönnt. Schließlich kann man nicht pausenlos unterwegs sein.
Man legt den Rucksack ab und setzt sich auf einen Felsen, eine Bank, oder – wenn es geht – ganz einfach ins Gras. Um sich für die nächste Wegstrecke zu stärken, isst und trinkt man etwas. Man genießt die Ruhe und man nimmt die Geräusche der Schuhe plötzlich als ganz laut wahr, wenn man seine Füße bewegt. Und man spürt, dass sich die Atmung beruhigt hat.
Dann geht es wieder weiter. Vielleicht ist man noch nicht bereit und möchte noch nicht aufbrechen – es ist gerade einfach zu schön. So gerne würde man noch bleiben, aber es geht nicht. Man muss weiter, denn man möchte ja die Hütte rechtzeitig erreichen.
Schließlich kommt man an. Das nächste Ziel, ein Zwischenziel, ist erreicht. Wieder setzt das Ritual ein: Nachtlager aufsuchen, sich einrichten, Abendessen … Man lässt die Ereignisse des Tages, was man wahrgenommen und erlebt hat, nochmals vor seinem geistigen Auge vorüberziehen. Vielleicht geht man nochmals nach draußen, blickt auf den Abend- oder Nachthimmel und genießt die Stille. Und dann kommt die Nacht mit einem hoffentlich erholsamen Schlaf. Am nächsten Morgen wird es wieder weitergehen.
Jeder Tag ist auf ganz natürliche Weise ein abgeschlossenes Ganzes. Man weiß, dass man an diesen Ort nicht mehr zurückkommen wird. Alles an diesem Tag Erlebte war in Raum und Zeit etwas Einmaliges. Jeder Augenblick war einmalig, die gerade wahrgenommenen Gefühle, die wahrgenommenen Körperempfindungen. Auch die Gedanken, die durch den Kopf gingen, waren in gewisser Weise einmalig, auch wenn man sich mit vielen Dingen gedanklich immer wieder beschäftigt. Nichts ist wiederholbar.
Auch das reale Leben gleicht in gewisser Weise einer Wanderung von Hütte zu Hütte. Man ist, im übertragenen Sinne, jeden Tag unterwegs, ohne Möglichkeit zur Rückkehr an den Ausgangspunkt.
In der Wirklichkeit wechselt man nicht jeden Abend den Schlafplatz. Und man verrichtet vielleicht auch Tag für Tag annähernd dieselben Tätigkeiten. Aber dennoch ist es nicht dasselbe, denn man hat schon „weitergelebt“. Man hat Erfahrungen gemacht, Begegnungen erlebt und so vieles mehr.
Rituale entwickeln und pflegen
Wie könnte man jeden Tag als etwas Besonderes nehmen und ihn bewusst erleben? Wenn sich schon nichts wiederholen lässt, dann wäre es doch schade, wenn man einen Tag einfach an sich vorbeiziehen ließe. Und es wäre schade, wenn man am Abend resigniert feststellen würde, dass man gewissermaßen „gelebt wurde“, anstatt selbst bewusst zu leben.
Rituale können eine wertvolle Hilfe dabei sein, das bewusste Leben zu verstärken. Ein Ritual ist eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende Handlung mit hohem Symbolgehalt. Es vermittelt Halt und Orientierung. Deshalb wird es auch in schwierigen Zeiten nicht einfach vernachlässigt.
Ein Ritual kann auf positive Gedanken bringen. Man kann es sogar dazu nutzen, sich zu positiven Gedanken zu zwingen, wenn man sich gerade in negativen Gedanken verfangen hat. So kann man aus einer gedanklichen Abwärtsspirale ausbrechen und sich wieder sammeln. Dann kann man sich auch (wieder) bewusst machen, dass es einem doch nicht so schlecht geht, wie man gerade noch gedacht hat.
Was spricht dagegen, für sich Rituale zu entwickeln, die die drei „großen“ Lebensthemen – Liebe, Freundschaft, Glück – in den Blick nehmen? Wie könnte man sich selbst so einstimmen, dass man an jedem Tag möglichst viel an Liebe, Freundschaft und Glück erfährt – im Nehmen wie im Geben?
Eine einfache Möglichkeit besteht darin, für sich ein kurzes persönliches Morgen- und ein Abendritual zu entwickeln. Auf diese Weise kann man den Tag bewusst beginnen und abschließen.
Das Morgenritual
Ein kurzes Morgenritual könnte darin bestehen, zunächst dafür zu danken, dass man (wieder einmal) gut aufwachen konnte. Dies ist schließlich keine Selbstverständlichkeit. Dann könnte man mit einem Gefühl der Dankbarkeit an die Menschen denken, die einem nahestehen.
In dieses Morgenritual könnte man auch eine Anregung Friedrich Nietzsches einbauen. Sie lautet: „Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könne.“. Diesen Gedanken könnte man etwas konkretisieren und darüber nachdenken, was man heute tun könnte, um Liebe und Freundschaft zu stärken.
Das Abendritual
Vor dem Einschlafen könnte ein kurzes Abendritual darin bestehen, sich bewusst vom Tag zu verabschieden. Man macht sich bewusst, dass dieser Tag einmalig war.
Zum Abendritual sollte unbedingt ein Nachdenken darüber, wofür man an diesem Tag dankbar sein kann, gehören. Am besten schreibt man sich mindestens drei Dinge auf oder spricht sie laut aus. Man kann auch für die vermeintlich selbstverständlichen Dinge danken, beispielsweise dafür, dann man ein Dach über dem Kopf hat, genügend zu essen hat, Freunde hat, usw. Und vielleicht sind es auch ganz kleine Dinge, über die man leicht hinweggeht. Aber man kann auch dafür danken. Garantiert werden einem jedenfalls mindestens drei Dinge einfallen, für die man an diesem Tag dankbar sein kann.
Jeder Tag eine Kostbarkeit
Wenn man jeden Tag bewusst (er)lebt, wird jeder Tag des Lebens zu einer Kostbarkeit. Dann wäre es jammerschade, den einen Tag wie den anderen zu betrachten, oder vielleicht weit in die Zukunft zu schauen und dabei den Blick für das Heute zu verlieren. Jeder Tag ist so kostbar, dass er es verdient, als etwas Besonderes, etwas Einzigartiges behandelt zu werden. Dann beginnt das Leben in der Tat jeden Tag neu und endet dann auch jeden Abend.
Was spricht dagegen, mit Optimismus in den neuen Tag zu gehen? Was spricht dagegen, damit zu rechnen, dass heute etwas anders werden oder verlaufen könnte?
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