„Suche Stunden der Sammlung, damit die Seele zu dir sprechen kann.“
Albert Schweitzer
Albert Schweitzer (1875-1965) war ein deutsch-französischer Arzt, Philosoph, evangelischer Theologe, Organist, Musikwissenschaftler und Pazifist. Schweitzer, der „Urwaldarzt“, gründete 1913 ein Krankenhaus in Lambaréné im zentralafrikanischen Gabun. Er veröffentlichte theologische und philosophische Schriften, Arbeiten zur Musik, insbesondere zu Johann Sebastian Bach, sowie autobiographische Schriften.
Dafür habe ich keine Zeit – wirklich nicht?
Albert Schweitzer war in seinem Krankenhaus ein sehr intensiv beschäftigter Mensch. Er wirkte nicht nur als Arzt, sondern musste sich auch um bauliche Dinge kümmern. Ständig gab es etwas zu reparieren oder zu erweitern, um die ständig wachsende Zahl an Patienten aufnehmen zu können. Fachkräfte, die sich um die baulichen Angelegenheiten hätten kümmern können, waren nicht immer vor Ort. Also musste Albert Schweitzer gezwungenermaßen selbst Hand anlegen.
Die Aufnahme neuer Patienten erfolgte nicht nach einem geordneten Verfahren, wie es heute Standard ist. Eine Einweisung in ein Krankenhaus gab es nicht. Die Patienten kamen einfach oder wurden von anderen Menschen zum Krankenhaus gebracht. Oft wurden Patienten auch heimlich nachts von ihrer Familie oder Dorfbewohnern vor dem Krankenhaus abgelegt, in der Hoffnung, dass man sich schon um sie kümmern werde.
Über die Anfangszeit seines Wirkens im Krankenhaus schrieb er im biografischen Buch „Selbstzeugnisse“: „In den neun Monaten meiner Wirksamkeit habe in an die zweitausend verschiedene Patienten zu sehen bekommen.“. Nebenbei betätigte er sich, wie schon erwähnt, als Handwerker. Und administrative Aufgaben, wie beispielsweise das Bestellen von Medikamenten und sonstigem Bedarf, das Entgegennehmen von Lieferungen und sonstiger Schriftverkehr, waren ebenfalls zu erledigen. Seine Ehefrau und einige andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter standen ihm zur Seite, jedoch waren auch diese mit ihren jeweiligen Aufgaben sehr beschäftigt. Angesichts dieses Arbeitspensums fand er trotzdem noch Zeit, seine Seele zu sich sprechen zu lassen.
Manchmal gibt es Zeiten, in denen man sehr beschäftigt ist. Dann meint man, keine Zeit für seine Seele zu haben. „Ich muss funktionieren“, denkt man vielleicht. „Das mit der Seele hat später noch Zeit“, wäre ein Folgegedanke. Vielleicht stimmt man auch innerlich zu, dass man sich um seine Seele kümmern sollte. Mit einem „Ja, aber …“ schiebt man den Gedanken jedoch wieder weg. Aber hat man für die Seele denn wirklich gar keine Zeit?
Wenn man etwas wirklich möchte, wird man dafür auch Zeit finden. Angenommen, man möchte einen Urlaub in einem Land verbringen, in dem man noch nie war. Dann würde man mit Sicherheit dafür Zeit finden, sich intensiv um die Planung zu kümmern. Wenn man es wirklich möchte, wird man auch Zeit für seine Seele finden.
Die Seele zu sich sprechen lassen – warum ist es wichtig?
Der Begriff „Seele“ ist mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen belegt. Religiöse, philosophische und psychologische Lehren und Traditionen, aber auch Mythen geben dem Begriff Seele ihren ganz spezifischen Inhalt. Diese so unterschiedlichen Begriffsinhalte sind nicht zur Deckung zu bringen.
Im Lauf der Geschichte wandelte sich der Seelenbegriff. Heute wird unter der Seele in der Regel die Gesamtheit aller Gefühlsregungen und geistigen Vorgänge beim Menschen verstanden. Diesem Verständnis folgend ist „Seele“ weitgehend, jedoch nicht vollständig gleichbedeutend mit „Psyche“, dem griechischen Wort für Seele.
In psychologischer Sicht wird die Psyche als Gesamtheit aller geistigen Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale eines Individuums oder speziell eines Menschen verstanden. Sie umfasst Fühlen, Denken und sämtliche individuellen geistigen Fähigkeiten, wozu unter anderem Denkvermögen, Lernfähigkeit, Emotionen, Wahrnehmung, Empfindung, Empathie, Wissen, Intuition oder Motivation zählen.
Körper und Seele wirken zusammen. Dies zeigt sich beispielsweise in körperlichen Beschwerden, bei denen keine organische Ursache diagnostiziert werden kann.
Die Erkenntnis, dass es für manche Beschwerden keine körperlichen Ursachen gibt, ist nicht neu. Da leidet beispielsweise jemand unter dem Globus-Syndrom, dem Gefühl, einen Kloß oder einen Fremdkörper im Hals zu haben. Bei einer Untersuchung und einer folgenden Speiseröhren- und Magenspiegelung wird kein organischer Befund festgestellt. Aber das Globus-Syndrom besteht weiterhin.
Nach einer Untersuchung hören Betroffene möglicherweise, dass sie „nichts haben“. Sie fühlen sich unverstanden und wollen ihren körperlichen Beschwerden weiter auf den Grund gehen. Die Folge kann eine Odyssee von Arzt zu Arzt sein. Es mag sein, dass auch bei weiteren Untersuchungen keine körperliche Ursache gefunden wird. Bei wiederholt und über längere Zeit hinweg auftretenden körperlichen Beschwerden, die keine organische Ursache haben, wird auch von somatoformen Störungen gesprochen.
Mit dieser Erkenntnis, dass bei einigen Beschwerden einfach keine körperlichen Ursachen zu ermitteln sind, wuchs das Interesse, mögliche seelische Ursachen zu ergründen. Im Fall des Globus-Syndroms können in der Tat Stress und Ängste die Ursache sein. Die Seele spielt also für das Wohlbefinden nicht nur eine Nebenrolle – im Gegenteil: sie spielt eine Hauptrolle!
Viele Menschen haben es sich angewöhnt, auf ihren Körper zu hören. Mit anderen Worten: sie lassen ihren Körper zu sich sprechen. Wenn dem Körper etwas nicht guttut, verändert man etwas an der Lebensweise oder daran, wie man seinen Körper belastet. Weshalb sollte man dann die Seele nicht auch zu sich sprechen lassen, wenn sie schon für das eigene Wohlbefinden ebenso wichtig ist?
Was geschieht, wenn man die Seele zu sich sprechen lässt?
Manche Menschen scheinen eine Scheu davor zu haben, sich mit ihrer Seele, die sich in der Persönlichkeit ausdrückt, zu beschäftigen. Wenn man sich jedoch davor drückt, läuft man gewissermaßen vor sich selbst davon. Um ein anderes Bild zu verwenden: Man fühlt sich in seiner Wohnung nicht wohl und man will raus. Vor sich selbst davonlaufen kann dazu führen, dass man Regungen seiner Seele unterdrückt und schließlich nicht mehr wahrnimmt. Dann wäre man in gewisser Weise „seelenlos“.
Wenn man die Seele zu sich sprechen lässt, vermittelt sie einem, wie es ihr gerade geht. Und sie drückt aus, wie es um die innere Stimmigkeit steht.
Was ist innere Stimmigkeit?
Im allgemeinen Sinne wird von Stimmigkeit gesprochen, wenn die Teile eines Ganzen gut zusammenpassen und sich widerspruchsfrei ergänzen. Doch was ist innere Stimmigkeit?
Innere Stimmigkeit kann umschrieben werden als ein Zustand, in dem man authentisch und echt ist. Man hat sein wahres Selbst gefunden, kann sich zu ihm bekennen und es leben. In der Konsequenz lässt sich innere Stimmigkeit nur subjektiv und individuell erspüren. Eine Art objektive Norm für innere Stimmigkeit kann es nicht geben. Weil innere Stimmigkeit eine höchst individuelle Angelegenheit ist, lässt sie sich auch nur im Alleinsein erfahren.
Wenn man authentisch und echt ist, bedeutet dies nicht, dass alles harmonisch ist und es keine Widersprüche gibt. Menschliche Unvollkommenheit, das Ringen mit momentan schwierigen Umständen, die Auseinandersetzung mit seinen innersten Gefühlen, seinen innersten Bedürfnissen, usw. gehören auch zur Wahrhaftigkeit des Selbst. Lässt man all dies zu, muss man nicht mehr vor sich selbst davonlaufen, sondern darf sich erlauben, so zu sein, wie man ist. Man kann ganz bei sich selbst sein und die eigene Individualität leben.
Selbst- oder fremdbestimmt leben?
Fehlt die innere Stimmigkeit, fehlt auch in gewisser Weise die Hoheit über sich selbst. Man lässt sich leichter fremdbestimmen und gibt sich leichter zum bloßen Funktionieren her. Ein solches Leben wird man eher als freudlos erleben. Man lebt ja nicht sich selbst und geht oft Kompromisse ein, die einem nicht guttun.
Was aber geschieht, wenn man innere Stimmigkeit wahrnimmt? Dann fällt es leichter, sich abzugrenzen und sich nicht vereinnahmen zu lassen. Man kann seine Sache leichter vertreten, kraftvoll für sie einstehen. Schließlich weiß man, wer man ist und kennt sein wahres Ich.
Wenn man die Seele zu sich sprechen lässt, gibt sie ein Bild der inneren Stimmigkeit. Vielleicht denkt man gerade darüber nach, ob man eine Beziehung eingehen soll. Dann mag es sein, dass sich die Seele meldet und sagt: „Wenn du dich auf diese Beziehung einlässt, lebst du nicht mehr das, was du bist. Du müsstest eine Rolle spielen, die du nicht spielen möchtest.“. Man bekommt Klarheit und kann gut für sich selbst sorgen. Würde man die Stimme der Seele ignorieren, würde man sich vielleicht in einer Beziehung wiederfinden, in der man sich nicht wohlfühlt.
Die Seele sprechen lassen – eine Sache der Technik?
Wie schon angedeutet, lässt sich innere Stimmigkeit nur im Alleinsein erfahren. Die Seele braucht Zeit, um zu sprechen. Dies bedeutet nicht, dass sie sich nicht auch dann äußert, vielleicht über ein Bauchgefühl, wenn es gerade unruhig oder gar hektisch ist. Aber es ist besser, der Seele Zeit zu geben.
Ideal ist es, wenn man sich eine Zeit einplanen kann, in der man sich zurückziehen kann und frei von jeglichen Ablenkungen ist. Ob man diese Zeit der Sammlung an einem bestimmten Ort in Ruhe verbringt oder ob man in einer einsamen Gegend zu Fuß unterwegs ist, ist eine individuelle Angelegenheit. Es gibt keine allgemeingültige „Technik“. Manche Menschen bevorzugen eine Zeit der Meditation in ihrer Wohnung, andere wiederum sind gerne in der Natur unterwegs und suchen sich eine Strecke, auf der sie möglichst wenigen Menschen begegnen.
Albert Schweitzer hielt es trotz seines beachtlichen Arbeitspensums für notwendig, für sich immer wieder Stunden vorzusehen, in denen er sich ausschließlich sich selbst widmete. Er drückte es so aus: „Der Mensch braucht Stunden, wo er sich sammelt und in sich hineinlebt.“. Vermutlich gewann er durch die wiederkehrende Vergewisserung innerer Stimmigkeit auch die Kraft und Energie für sein Wirken, trotz mancherlei Schwierigkeiten und Rückschlägen.
Sich immer wieder einmal Zeit dafür nehmen, die Seele sprechen zu lassen, ist keine Zeitverschwendung. Im Gegenteil: es ist eine gute Investition in sich selbst. Man gewinnt ein Gespür dafür, ob man noch selbst lebt oder ob man sich gewissermaßen leben lässt, also ein mehr oder weniger fremdbestimmtes Leben führt.
* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)