„Verstehen kann man das Leben oft nur rückwärts, doch leben muss man es vorwärts.“
Søren Kierkegaard
Søren Aabye Kierkegaard (1813-1855) war ein dänischer Philosoph, Essayist, Theologe und Schriftsteller. Er gilt auch als richtungweisender Vertreter der Existenzphilosophie, einer philosophischen Richtung, die im Zentrum ihres Denkens die Existenz des Menschen im weitesten Sinne hat.
Wie lebt man vorwärts?
Das Leben vorwärts leben – eigentlich eine pure Selbstverständlichkeit. In einem Raum-Zeit-Kontinuum kann man das Leben nur vorwärts leben, es sei denn, man wäre schneller als mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs. Doch wenn man die Frage: „Wie lebt man vorwärts?“ mit dem Aspekt der Lebensqualität verbindet, gewinnt sie an Tiefe.
Angenommen, man hätte vor, ein Eigenheim für den Eigenbedarf zu erwerben. Im Szenario wird davon ausgegangen, dass man das Eigenheim mit Eigen- und Fremdmitteln finanzieren kann, man anschließend jedoch nicht mehr viel Geld auf dem Konto hat. Ferner wird unterstellt, dass man mit dem Haus, wenn man es denn einmal verkaufen wollte, inflationsbereinigt wahrscheinlich keinen bedeutenden Gewinn realisieren kann.
Wie würde man vorgehen, wenn schon von vornherein klar ist, dass dies aller Voraussicht nach der einzige Eigenheimerwerb im Leben sein und bleiben wird? Wenn man beispielsweise eine Bestandsimmobilie sucht, würde man sich sehr wahrscheinlich sehr intensive Gedanken über die Lage, die Bauweise, die Finanzierung, den Raumbedarf und einige weitere wichtige Kriterien machen. Man würde eine Entscheidung nicht überstürzen, würde sehr wahrscheinlich den Rat sachverständiger Personen einholen und sich die Sache intensiv durch den Kopf gehen lassen. Ein Fehlkauf hätte schließlich finanziell schmerzhafte Folgen.
Wenn man dann schließlich eine Immobilie gefunden hat, die man erwerben möchte, schaut man sie sich natürlich nicht nur von außen an. Man prüft die Bausubstanz und befragt den Verkäufer intensiv, um versteckte Mängel auszuschließen. Wenn man sich nicht ganz sicher ist, zieht man einen Sachverständigen hinzu. Kurzum, man tut alles, um sicherzustellen, dass man eine Immobilie bekommt, die den eigenen architektonischen Anforderungen entspricht. Und man achtet sehr darauf, dass man nicht zu viel bezahlt und eine Immobilie mit guter Bausubstanz für sein Geld bekommt.
Das Leben ist kostbar – es ist einmalig
Was hat ein einmaliger Immobilienerwerb mit dem Leben an sich zu tun? Die Assoziation ist nicht so weit hergeholt wie es zunächst scheint. In einer Analogie lassen sich durchaus einige sinnentsprechende Berührungspunkte finden: Man hat nur ein Leben und man hat begrenzte Ressourcen. Man muss sich sehr genau überlegen, wie man sein Leben gestalten möchte und wie man seine Ressourcen (Fähigkeiten, Kompetenzen) einsetzt. Wenn man sie falsch einsetzt, kann man nicht einfach in der Zeit zurückgehen, die Weichen anders stellen und einen Lebensabschnitt wiederholen. Der Verlust an Lebenszeit und Lebensqualität lässt sich nicht mehr rückgängig machen.
Wenn man sich schon so intensive Gedanken macht, wenn man vor einer wichtigen Investition steht, weshalb macht man sich nicht genauso intensive Gedanken um seine Lebensplanung? Schließlich hat man nur ein Leben.
Es hat den Anschein als würden sich viele Menschen keine intensiven Gedanken darüber machen, wie sie ihr Leben gestalten möchten und wie es verlaufen soll. Sie lassen vieles „auf sich zukommen“, und leben ihr Leben so, wie es sich eben ergibt. Das Risiko besteht dann darin, dass man vielleicht erst spät im Leben feststellt, dass man sein Leben nicht so leben wollte, wie man es tatsächlich gelebt hat. Man würde gerne die Zeit zurückdrehen, einiges rückgängig machen, aber leider hat man keinen zweiten Versuch.
Das Leben planen – weil es so kostbar ist
Man muss das Leben vorwärts leben, ein Zurück gibt es nicht. Daraus ergibt sich als Folge, dass man sich schon möglichst frühzeitig im Leben intensive Gedanken darüber macht bzw. machen sollte, wie man sein Leben gestalten möchte. Was ist der individuelle Lebenssinn? Welche Werte, welche Ziele sollen einen im Leben leiten? Welche Spuren möchte man mit seinem Leben hinterlassen? Solche und weitere Fragen lassen sich nicht einfach in fünf Minuten beantworten, sondern benötigen eine längere Zeit des Nachdenkens.
Je früher man auf diese Fragen seine individuellen Antworten findet und entsprechende Entscheidungen trifft, desto mehr wird man von seinem Leben haben. Es ist eine Frage der Lebensqualität, die man erleben möchte.
Wie wäre es, wenn man sich für einen Moment auf den Gedanken einlässt, das Leben als ein großes „Vorhaben“ zu sehen? Dann würde man sehr genau überlegen, wie man sein kostbares und einzigartiges Leben gestalten möchte. Man ist gewissermaßen „Designer“ seines Lebens, aber wie füllt man diese Designer-Rolle aus? Man hat eine Entwicklung vor sich, aber wie möchte man sich entwickeln? Diese Frage, „Was sind meine Entwicklungsziele? – Welchen Kurs möchte ich setzen?“, möchte beantwortet werden. Die Antwort könnte eine individuelle Lebensplanung mit differenzierten Zeithorizonten sein.
Wenn das Leben nicht wie erhofft verläuft?
Mit der Lebensplanung ist die Hoffnung verknüpft, dass sie sich uneingeschränkt realisieren lässt. Doch widrige Umstände, eine Veränderung der politischen und/oder wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, eine Krankheit, ein Unfall oder ein sonstiger Umstand können eine Lebensplanung schnell zunichtemachen. Es gibt keine Garantie, dass sich alles in den gewünschten Bahnen entwickelt.
Das Leben ist nicht wirklich planbar, eine Binsenweisheit. Aber sollte man deshalb von vornherein darauf verzichten, einen Kurs für das Leben zu setzen und zu planen? Es besteht ja immerhin die Möglichkeit, dass sich der Plan umsetzen lässt.
Wenn jedoch die Lebensplanung an einem markanten Punkt scheitert, bedeutet dies nicht, dass das Leben verpfuscht wäre. Vielleicht hatte man einen Unfall und die Unfallfolgen lassen es nicht mehr zu, den geliebten Beruf auszuüben. Vielleicht haben sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen innerhalb kurzer Zeit völlig verändert, wie beispielsweise in der Zeit der Coronavirus-Pandemie. Oder man hat vielleicht selbst einen schwerwiegenden Fehler begangen. Oder irgendein anderes markantes Ereignis macht die bisherige Planung obsolet.
Es ist etwas nicht gelungen, es hat sich nicht so entwickelt, wie geplant. Man ist selbst nicht dafür verantwortlich, nicht daran schuld. Man ist Opfer. Oder man fühlt sich als Versager, weil man sich selbst seinen geplanten Weg verbaut hat. Vielleicht möchte man aus der Enttäuschung, aus dem Schmerz heraus einfach aufgeben und nicht (mehr) an Morgen denken. Aber sollte man sich nicht selbst die Chance geben, bildlich gesprochen, die Scherben aufzukehren und die Lebensplanung zu ändern? Das Leben ist schließlich nicht vorbei.
Was, wenn man selbst einen neuen Kurs setzen möchte?
Vielleicht hat man im Lauf der Zeit erkannt, dass man nicht mehr hinter seiner Lebensplanung stehen kann. Es mag sein, dass sich Einstellungen und Werte verändert haben.
Angenommen, man hat sich im Alter von zwanzig Jahren intensive Gedanken über sein zukünftiges Leben gemacht und man hat konkrete Vorstellungen entwickelt, wie das Leben verlaufen soll. Es wäre jedoch ungewöhnlich, wenn beispielsweise Einstellungen und Werte im Alter von vierzig Jahren noch identisch mit jenen von vor zwanzig Jahren wären. Man macht Erfahrungen, die Welt verändert sich. Was einem früher als erstrebenswert erschien, ist es vielleicht jetzt nicht mehr.
Impulse, die eine Änderung herbeiführen, können durch die verschiedensten Anlässe entstehen. Vielleicht hat sich durch den technischen Fortschritt das Berufsbild grundlegend gewandelt und man fühlt sich in seinem Beruf nicht mehr wirklich zufrieden. Oder vielleicht haben sich die eigenen Lebensprioritäten gewandelt. Oder ein anderes wichtiges Element der Lebensplanung ist herausgebrochen (worden) oder hat sich geändert.
Jederzeit im Leben kann man seine Lebensplanung ändern. Aber vielleicht hindert einen eine gewisse Bequemlichkeit. Es läuft nicht alles so, wie man es sich vorgenommen hat, aber auf der anderen Seite auch nicht so, dass man es nicht aushalten könnte oder wollte. Will man etwas ändern? Es ist eine Entscheidung.
Wie oft sollte man auf seine Lebensplanung schauen?
Eine Lebensplanung kann nie „in Stein gemeißelt“ sein. Die Welt verändert sich ständig und man verändert sich auch selbst. Man muss reagieren, auf äußere wie innere Veränderungen. Doch wie oft sollte man auf seine Lebensplanung schauen, um in der Folge vielleicht selbst zu agieren und die Lebensplanung zu ändern?
Eine allgemeingültige Antwort kann es nicht geben. Vielleicht hat man sich jedoch selbst schon verschiedene Zeithorizonte vorgenommen, wie beispielsweise im Persönlichen Entwicklungsplan (Kurzfristhorizont: ab jetzt bis in sechs Monaten, Mittelfristhorizont: in sechs Monaten bis zwei Jahren, Langfristhorizont: in zwei bis in fünf Jahren). Dann kann man sich daran orientieren und noch eine Lebensperspektive, die bis zum Lebensende reicht, ergänzen. Aus diesen Zeithorizonten ergibt sich, wann man auf seine Lebensplanung schaut und den Persönlichen Entwicklungsplan fortschreibt.
Wie kann man das Leben rückwärts verstehen?
Vielleicht hat es das Leben bisher gut mit einem gemeint. Aber manchmal gibt es im Leben schwierige Zeiten und vielleicht auch Brüche. Manches ist alles andere als so verlaufen, wie man es sich gedacht und erhofft hat. Wie kann man dann das Leben rückwärts verstehen?
Wahrscheinlich kann man sein Leben besser verstehen, wenn man es geplant hat. Dann kann man zumindest äußere Ereignisse und eigene Einstellungs- und/oder Verhaltensänderungen mit seinem schriftlich festgehaltenen Plan in Beziehung setzen. Einschnitte und Wendepunkte lassen sich leichter erkennen. Und man kann das Leben im Rückblick besser verstehen, wenn man sich zu seiner Geschichte stellt. Aber ob man im Rückblick alles verstehen wird? Wohl meistens eher nicht.
Darüber hinaus ist es oft sehr hilfreich, auf die eigenen Eltern zu schauen. Sie haben einem schließlich schon alleine über die genetische Vererbung, aber auch in den ersten Lebensjahren, sehr viel mitgegeben. Die Kindheit wirft in der Tat einen langen Schatten. Das Leben im Rückblick verstehen führt auch über die eigene Kindheit.
Darüber hinaus kann man, wenig überraschend, manches im eigenen Leben besser verstehen, wenn man noch einen Zugang zur Kindheit der eigenen Eltern hat. Wie und in welchen Verhältnissen sind sie aufgewachsen? Wie waren ihre Eltern? Wenn man Hintergründe besser kennt, kann man zu einem besseren Verständnis der Verhaltensweisen der Eltern und auch indirekt zu den eigenen finden. Und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass man nachsichtiger mit seinen Eltern wird.
Wenn man wahrnimmt, dass im Leben vieles so anders gelaufen ist, wie kann man dann mit sich selbst umgehen? Hilft es, bildlich gesprochen, den Stab über sich zu brechen und sich als Versager zu verurteilen? Oder ist es besser, liebevoll mit sich selbst umzugehen – so wie man es sich wünscht, dass die beste Freundin bzw. der beste Freund mit einem umgeht? Wenn man schon rückwirkend an seinem Leben nichts mehr ändern kann, dann kann es auch nicht weiterbringen, sich selbst zu verdammen. Dann hilft es sehr viel mehr, wenn man liebevoll mit sich selbst umgeht und den Blick auf das richtet, was noch werden kann. Und wenn man eigene Schuld erkannt hat, hilft Selbstvergebung weiter.
Selbst im schlimmsten Fall, wenn man meint, selbst restlos alles „verbockt“ zu haben, gibt es eine Perspektive. Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl drückte es so aus: „Selbst ein Leben, das wir anscheinend vertan haben, lässt sich noch rückwirkend mit Sinn erfüllen, indem wir gerade durch diese Selbsterkenntnis über uns hinauswachsen.“. Dann kann man aus der Vergangenheit lernen und wieder anfangen, vorwärts zu leben.
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