„Du glaubst, es hat doch keinen Sinn, und fragst dich, wozu du da bist. Doch dein Leben hat schon seinen Sinn, wenn auch nur einer sagt: Gut, dass du da bist!“
Petrus Ceelen
Petrus Ceelen (1943-2024) war ein belgischer Theologe, Schriftsteller und Aphoristiker. Viele Jahre war er als Seelsorger in Süddeutschland tätig, zunächst als Gefängnisseelsorger und anschließend als Seelsorger für HIV-Infizierte und AIDS-Kranke.
Einfach da sein – nichts leisten müssen
Kann man einfach nur da sein, ohne irgendetwas zu leisten? Und kann das „einfach-nur-da-sein“ von einem anderen als wichtig, wertvoll, bereichernd, beglückend, wohltuend oder … empfunden werden?
Ja, es ist möglich! Immer wieder ist so oder so ähnlich zu hören oder zu lesen: „Als ich jemanden gebraucht habe, der mich tröstet, war sie da.“, „Während meiner tiefen Depression einen verständnisvollen Freund zu haben, der mich nicht zurechtweist und mich auch nicht belehrt, sondern mich so annimmt, wie ich gerade bin, war so wohltuend.“, oder „Sie war bei mir und hat einfach nur meine Hand gehalten.“. Und dieses „da-sein“ hatte, im Nachhinein betrachtet, eine große und positive Wirkung.
Reicht es aus, einfach da zu sein?
Oft reicht es tatsächlich schon aus, einfach nur da zu sein. Was könnte beispielsweise eine Frau trösten, deren Mann nach vielen gemeinsamen und alles in allem glücklichen Jahren plötzlich und völlig unerwartet verstorben ist? Oder was könnte eine Frau trösten, die gerade während der Schwangerschaft ihr lang ersehntes erstes Kind verloren hat?
Wäre es hilfreich, mit Worten trösten zu wollen? Wie würde es auf die nun nicht mehr werdende Mutter wirken, wenn man ihr beispielsweise sagen würde: „Du wirst bestimmt wieder schwanger werden und dein sehnlicher Kinderwunsch wird bald in Erfüllung gehen!“? Es wäre, gelinde gesagt, überhaupt kein Trost und völlig unpassend! Genauso wenig hilfreich wäre es, ihr eigene Verlust- und Trauererfahrungen zu schildern. Verlust und Trauer lässt sich nicht vergleichen, selbst unter einander nahestehenden Personen nicht.
Es gibt Situationen, in denen man keine Worte findet und in denen Worte auch nicht helfen können. Aber das einfache „da sein“ kann wohltuend wirken. Wenn dennoch etwas gesagt werden möchte, dann vielleicht so: „Ich kann leider nicht helfen, doch ich kann jetzt eine Weile bei dir sein.“
Gesten, wie Umarmungen oder das Halten der Hand, kommen völlig ohne Worte aus und vermitteln körperliche Nähe. Sie sind wahrnehmbare Zeichen von Vertrautheit, Zuneigung, Freundschaft, Unterstützung, Ermutigung oder Trost. Solche Gesten können ihre Wirkung nur bei körperlicher Nähe entfalten. Die Worte: „Fühle dich umarmt“ können eine körperliche Umarmung niemals ersetzen.
Was bedeutet es, da zu sein?
Ein fiktives Szenario: Leoni und Sophia (beides fiktive Personen) sind miteinander befreundet. Sie treffen sich in einem Café, um mal wieder miteinander zu plaudern. Leoni liegt ein bestimmtes Thema am Herzen. Darüber möchte sie sich mit Sophia unterhalten und ihre Meinung dazu erfahren. Doch Sophia ist intensiv mit ihrem Smartphone beschäftigt und scheint nur mit einem „halben Ohr“ zuzuhören. Interessiert sieht sie sich Mitteilungen auf Social-Media-Plattformen an. Auf manche reagiert sie und tippt fleißig.
Sophia ist zwar physisch präsent, doch ihre Aufmerksamkeit ist geteilt. Sie ist nicht wirklich da und hört Leoni auch nicht wirklich zu. Würde sie tatsächlich da sein wollen, würde sie ihr Smartphone in der Handtasche verstauen und während ihrer gemeinsamen Zeit auch dort belassen, es sei denn sie erwartet einen zuvor vereinbarten wichtigen Anruf. Sie würde Leoni ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken.
Es gibt ganz unterschiedliche Formen von „da sein“. „Da sein“ kann physische Präsenz bei gewissermaßen gleichzeitiger Abwesenheit der Seele bedeuten. „Da sein“ kann sich aber auch als Gegenpol in gemeinsamer Präsenz von Körper und Seele ausdrücken. Wirklich wertvoll kann die gemeinsame Zeit für Leoni und Sophia nur sein, wenn beide mit Körper und Seele, mit ungeteilter Aufmerksamkeit, präsent sind. Erst dann ist es auch möglich, dass während ihrer gemeinsamen Zeit etwas gewissermaßen zum Schwingen kommt, dass Seelen berührt werden.
Was wäre, wenn Leonie nach dem Abschied von ihrer Freundin zu sich selbst sagen würde: „Ich bin enttäuscht. Ich habe mich so auf das Treffen mit Sophia gefreut, aber anscheinend war ihr die Zeit mit mir nicht wirklich wichtig. Sie war zwar da, aber doch nicht da.“? Wäre es nicht traurig?
Warum ist „da sein“ so wertvoll?
Wenn, um im Szenario zu bleiben, Sophia wirklich da ist, schenkt sie Leonie etwas von einer knappen Ressource: ihrer Lebenszeit. Schließlich verfügt Sophia nicht über ein beliebiges Maß an Lebenszeit. Im Gegenteil: ihre Lebenszeit ist wie die eines jeden Menschen begrenzt – und deshalb kostbar. Wenn sich Sophia aus freiem Willen und nicht in irgendeiner Weise gezwungenermaßen Zeit für eine Begegnung mit Leonie nimmt, erachtet sie Leonie als wert, ihr etwas von dieser knappen Ressource zu schenken.
Mit allen Sinnen da sein ist auch in anderer Weise wertvoll. Wenn intensive körperliche Nähe, wie beispielsweise bei einer Umarmung oder beim Handhalten, als angenehm erlebt wird, kommt es zu biochemischen Reaktionen im Körper. Das Hormon Oxytocin, umgangssprachlich oft auch als „Kuschelhormon“ oder „Bindungshormon“ bezeichnet, wird ausgeschüttet. Es ist für die soziale Interaktion wichtig. Ein Ansteigen des Oxytocin-Spiegels bewirkt ein pro-soziales Verhalten und eine Zunahme an Empathie. Gleichzeitig erfolgt eine Reduktion von Angstsymptomen. Auch Endorphine, körpereigene „Glückshormone“, werden freigesetzt. Andererseits werden Stresshormone abgebaut. Mit der Zeit stellt sich eine entspannende Wirkung ein. Atmung und Herzschlag beruhigen sich.
Ohne Zweifel wirkt die Erfahrung des „da seins“ positiv auf Körper und Seele. Auch deshalb ist das „da sein“ so wertvoll.
Was ist immer möglich?
Körperliche Nähe gewinnt im „da sein“ eine besondere Qualität. Doch nicht immer ist körperliche Nähe möglich. Vielleicht wohnen Menschen, zwischen denen eine positive emotionale Beziehung besteht, an unterschiedlichen Orten. Nur hin und wieder ist es möglich, sich persönlich zu begegnen.
Eines ist immer möglich, sei es in der persönlichen Begegnung oder im „da sein“ über ein Kommunikationsmedium: Empathisches Zuhören. Den Anderen zu Wort kommen lassen, ihm Raum geben, ehrlich und geduldig zuhören. Der Andere muss keine Rolle spielen und sich auch nicht selbst zensieren.
Beim empathischen Zuhören geht es nicht darum, den Zustand des Anderen zu verändern. Wenn er oder sie sich Sorgen macht, Angst empfindet oder über einen Verlust trauert, dann nimmt der Zuhörende die Gefühle und Empfindungen wahr und lässt sie präsent sein. Der Zuhörende lenkt nicht ab und unternimmt auch keine Versuche, diese Gefühle und Empfindungen auszureden.
Empathisches Zuhören entfaltet eine heilsame Kraft, weil es das tiefe menschliche Bedürfnis befriedigt, wahrgenommen, gehört und verstanden zu werden. Und es entfaltet auch eine positiv verändernde Wirkung. Der Schriftsteller, Dichter und Maler Hermann Hesse drückte es so aus: „Es wird immer alles gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht.“
Was, wenn es einem gerade selbst nicht gut geht?
„Ich kann jetzt leider für niemand da sein, weil es mir gerade selbst nicht gut geht!“, mag eine ehrliche Beschreibung des eigenen aktuellen Befindens sein. Doch bedeutet dies, dass man sich nur noch um sich selbst kümmern kann?
Auch psychologischen Fachpersonen, wie beispielsweise Psychiatern, Psychologen oder Psychotherapeuten, die von Berufs wegen im weitesten Sinne für andere da sind, geht es nicht immer gut. Auch sie haben mit Schwierigkeiten und Problemen zu kämpfen. Dennoch können sie für ihre Patienten bzw. Klienten da sein. Zuhören, Raum geben, sind immer möglich.
Letztlich ist es kein Hinderungsgrund, wenn man selbst gerade eine Art „Durchhänger“ erlebt. Einfach nur da sein ist immer möglich. Nur wenn man etwas leisten müsste, könnte man sich berechtigterweise verweigern.
Wie kann man sich abgrenzen?
Es kann durchaus eine Situation entstehen, in der man den Eindruck hat, dass man vereinnahmt, ja vielleicht sogar „ausgesaugt“ wird. Man empfindet, dass das „da sein“ von einem anderen Menschen gewissermaßen eingefordert und dann auch schrankenlos ausgenutzt wird. Dies kann sich in häufigen Gesprächswünschen äußern, beispielsweise verbunden mit zahlreichen und möglicherweise auch zeitlich längeren Anrufen.
Wenn man den Eindruck hat, dass es für einen persönlich zu viel wird, ist es in jedem Fall berechtigt, Grenzen zu setzen. Schließlich ist es wichtig, auch gut für sich selbst zu sorgen. Eine Grenze könnte beispielsweise darin bestehen, dem Anderen zu kommunizieren, dass man nur für ein Gespräch in der Woche zur Verfügung steht. Zusätzlich ist es auch möglich, die Gesprächsdauer von vornherein zu begrenzen.
Rechtzeitig vorsorgen – für sich selbst
Wohl jeder Mensch wünscht sich, dass jemand für ihn da ist. Und man selbst wünscht sich das auch. Doch dieser „Jemand“ fällt, bildlich ausgedrückt, „nicht vom Himmel“, sondern muss gefunden werden. Es sollte eine Person sein, zu der ein Vertrauensverhältnis besteht, am besten eine Freundin oder ein Freund. Wenn man über sehr Persönliches, über „Eingemachtes“, reden möchte, muss man sich darauf verlassen können, dass Gesprächsinhalte vertraulich bleiben.
Das Finden braucht Zeit. Und es braucht auch oft viel Zeit, bis sich eine Freundschaft so weit entwickelt hat, dass man auch etwas Vertrauliches von sich preisgeben kann. Rechtzeitige Vorsorge für sich selbst, frühzeitiger Beziehungsaufbau, ist deshalb wichtig!
Es mag jedoch sein, dass man selbst Freunde verloren hat, vielleicht durch Tod oder andere Umstände. Jetzt hat man den Eindruck: „Ich habe niemand mehr, der für mich da ist.“ Doch das stimmt nicht.
In Deutschland und in vielen anderen europäischen Ländern gibt es Organisationen, die sich um Menschen annehmen, die sich einen Zuhörer wünschen. Die Telefonseelsorge (0800 1110111 oder 0800 1110222) ist die wohl bekannteste Organisation, bei der man unter Schutz von Anonymität und Vertraulichkeit einen Zuhörer und Gesprächspartner findet.
Die Sinnfrage – eine Frage der Perspektive?
Wohl jeder stellt sich im Lauf des Lebens mindestens einmal die Sinnfrage: „Was ist der Sinn meines Lebens?“ Viele Menschen vermögen den Sinn ihres Lebens nicht zu erkennen oder haben nur eine sehr unklare Vorstellung.
Die Frage lässt sich aus zwei Perspektiven betrachten: zunächst aus der Perspektive des Fragenden. Dann wird die Frage mehr Ich-bezogen gestellt: „Was bringt mir das Leben?“, „Was habe ich vom Leben?“ oder „Wofür lohnt ich das Leben?“. So oder ähnlich mag die Frage lauten.
Aus der anderen Perspektive betrachtet, kann die Frage in etwa so lauten: „Welchen Sinn hat mein Leben aus Sicht meiner Mitmenschen?“ Das Leben hat in jedem Fall dann einen Sinn, wenn das Leben eines oder mehrerer Mitmenschen dadurch bereichert wird. Dann ist es ein „Gewinn“ für andere, und für einen selbst natürlich auch.
Aus dieser anderen Perspektive betrachtet stellt sich die Frage nach dem Lebenssinn eigentlich nicht mehr. Das Leben kann zu jedem Zeitpunkt aus Sicht anderer Menschen mit Sinn erfüllt sein, indem Begegnungen bereichert werden. Jeder kann etwas geben! Dazu sind keinerlei materielle Investitionen erforderlich. Aufgeschlossenheit, Zuneigung, Freundlichkeit und auch etwas Zeit genügen.
Manche Menschen wissen nicht …
Vielleicht erfährt man nie, wie wichtig, bedeutsam und wertvoll es für jemand war, dass man einfach da war. Doch wenn man selbst die Erfahrung gemacht hat, wie wichtig es war, dass ein anderer einfach nur da war, könnte man es auch zum Ausdruck bringen. Ein kurzer Text von Petrus Ceelen widmet sich diesem Aspekt:
Manche Menschen wissen nicht,
wie wichtig es ist, dass sie einfach da sind.
Manche Menschen wissen nicht,
wie gut es tut, sie nur zu sehen.
Manche Menschen wissen nicht,
wie tröstlich ihr gütiges Lächeln wirkt.
Manche Menschen wissen nicht,
wie wohltuend ihre Nähe ist.
Manche Menschen wissen nicht,
wie viel ärmer wir ohne sie wären.
Manche Menschen wissen nicht,
dass sie ein Geschenk des Himmels sind.
Sie wüssten es,
würden wir es ihnen sagen.
* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)