„Du selbst zu sein, in einer Welt die dich ständig anders haben will, ist die größte Errungenschaft.“
Ralph Waldo Emerson
Ralph Waldo Emerson (1803-1882), war ein US-amerikanischer Philosoph und Schriftsteller. Er engagierte sich für soziale Reformen, wie beispielsweise das Frauenwahlrecht. Außerdem sprach er sich gegen die Sklaverei aus.
Wer bin ich? – eine stets aktuelle Frage
Robert (Name geändert) hatte immer mal wieder darüber nachgedacht: Wer bin ich eigentlich? Aber immer wieder hatte er diese Frage weggeschoben. Sein Interesse daran, eine Antwort zu finden, war nicht sonderlich ausgeprägt. Es schien ihm einfach nicht wichtig genug. Er stürzte sich in das Leben und genoss es. Warum auch nicht?
Er hatte seine Träume. Und er war gerne mit seinen Freunden zusammen. Und dann waren da Ausbildung und Beruf. Das Leben hielt ihn auf Trab.
Immer wieder nahm er wahr, dass andere sein Leben mehr oder weniger subtil beeinflussen wollten. Um es krass auszudrücken: Andere wollten ihn gerne „vor ihren Karren spannen“. Sie wollten sein Verhalten, seine Meinung beeinflussen oder auch, dass er Aufgaben übernahm.
Was wollte er selbst? Wofür brannte er? Wofür war er sich zu schade? Und wofür stand er mit ganzem Herzen ein? Oder wollte er einfach nur das tun, was andere auch tun, und sich damit dem Konformismus ergeben?
Wenn Robert immer auf die anderen gehört hätte, wäre sein Leben sicherlich nicht langweilig verlaufen. Er hätte viel erlebt, aber er hätte sich auch zum Spielball gemacht. Sicherlich hätte er auch Anerkennung und Bestätigung erfahren. Aber wäre diese Anerkennung und Bestätigung – zumindest manchmal – nicht irgendwie „vergiftet“ gewesen, um ihn in einer gewünschten Rolle zu halten?
Robert hätte immer mit einem Zwiespalt leben müssen. Die Frage „Wann bin ich eigentlich Ich und entwickle meine Persönlichkeit?“ stünde ständig im Widerstreit mit der Frage „Wann bin ich nicht Ich und lasse gewissermaßen meine Persönlichkeit auslöschen?“. Persönlichkeit auslöschen? Zu krass ausgedrückt? Doch ist es nicht so: Wenn man immer nachgibt und sich fremdbestimmen lässt, löscht man sich gewissermaßen selbst aus.
Würde Robert sich selbst vergessen, wenn er sich der Frage „Wer bin ich?“ nicht stellt? Dies wäre fatal, denn dann würde er möglicherweise kostbare Lebenszeit versäumen? Wenn er sich tatsächlich selbst vergisst und sein Leben fremdbestimmen lässt, bleibt ihm selbst weniger Gestaltungsraum.
Die Frage „Wer bin ich?“ stellt sich immer wieder neu. Ständig ist man Einflüssen von außen ausgesetzt und man selbst entwickelt sich schließlich auch weiter. Man macht Erfahrungen, schöne wie unschöne, und lernt aus ihnen.
Rollen über Rollen
Jeder Mensch übernimmt während seines Lebens eine Vielzahl verschiedenster Rollen, viele davon auch gleichzeitig. Manche dieser Rollen übernimmt man freiwillig, andere zwangsweise, wenn vielleicht auch nur vorübergehend. Man kann beispielsweise die Rollen der Ehefrau, des Ehemanns, des Hauseigentümers, des Autobesitzers, des Vereinsvorsitzenden usw. übernehmen, muss es aber nicht. Andere Rollen, wie beispielsweise die des Konsumenten oder des Patienten (wenn auch nur für Gesundheitsuntersuchungen), muss man übernehmen.
Manche Rollen sucht man sich selbst aus, weil man sie gerne und aus freiem Willen übernehmen will. Und manche Rollen haben andere für einen vorgesehen. Sie wünschen sich beispielsweise, dass man die Rolle des Kunden übernimmt und etwas kauft. In ihren Werbebotschaften garnieren sie die Rolle des Käufers mit mehr oder weniger stichhaltigen Anreizen. Da ist beispielsweise der Anreiz, dazu zu gehören, ein besseres Image zu haben, vorne dran zu sein usw.
Während des Lebens verändert sich, welche Rollen man übernehmen möchte. Gewonnene Erfahrungen wirken sich auf die persönlichen Einstellungen und Werte aus. Was gestern vielleicht noch erstrebenswert schien, vielleicht die Rolle des Vereinsvorsitzenden, verliert an Attraktivität. Oder man sieht vielleicht seine Rolle als Konsument mit anderen Augen und schränkt seinen Konsum freiwillig ein.
Wer bin ich gerade – und bin ich authentisch?
„Ich selbst sein“, im jetzigen Lebensstadium, bedeutet im tieferen Sinne „echt sein“ und beschreibt eine Persönlichkeitseigenschaft. Echt sein, d. h. sich gemäß seinem wahren Selbst auszudrücken und zu handeln, bedeutet authentisch zu sein. Das wahre Selbst, die Authentizität, findet in persönlichen Werten, Gedanken, Emotionen, Bedürfnisse, Neigungen und Überzeugungen Ausdruck.
Wenn man authentisch ist, hat man auch ein relativ realistisches Bild von sich. Man erkennt sich mit seinen Bedürfnissen, Stärken und Schwächen, Sonnen- und Schattenseiten und nimmt sich auch selbst so an. Man ist sich seiner Gefühle bewusst und kennt seine Motive, die die Verhaltensweisen bestimmen. Und man achtet auf seine Gefühle und auf innere Widerstände.
Als authentischer Mensch handelt man nach seinen Werten und Überzeugungen. Man steht zu sich selbst und hat keine Angst, anders zu sein. Dies gilt auch dann, wenn durch gelebte Werte und Überzeugungen Nachteile entstehen. Und man verleugnet sein wahres Selbst in zwischenmenschlichen Beziehungen nicht.
Gelebte Authentizität wirkt auf die persönliche Ausstrahlung. Man strahlt aus, dass man in Einklang mit sich selbst denkt und handelt. Mitmenschen gegenüber vermittelt ein authentischer Mensch ein Bild, das sich vor allem mit folgenden Eigenschaften beschreiben lässt: aufrichtig, ehrlich, ungekünstelt, stimmig, integer.
Authentisch zu sein bedeutet auch, nur die Rollen zu übernehmen, die zum wahren Selbst passen. Wenn man beispielsweise Rollen übernimmt, nur weil es sich andere wünschen oder gar erwarten, beschädigt man seine Authentizität. Auch wenn man sich, den eigenen Werten und Überzeugungen zuwider, einem Gruppenzwang beugt oder sich manipulieren lässt, untergräbt man seine Authentizität.
Authentisch sein und Konformitätsdruck aushalten
Wenn es so ist, dass die Welt einen ständig anders haben möchte, dann hat dies auch zur Folge, dass Authentizität einen Preis hat. Ein gewisser Konformitätsdruck muss ausgehalten werden. Ständig werden beispielsweise mit teilweise beträchtlichem Aufwand neue Trends und Ideale propagiert. Diese stehen möglicherweise im Widerspruch zu den eigenen Werten und Überzeugungen.
Wie denkt man beispielsweise über Schönheit? Lässt man sich beispielsweise darauf ein, wenn ein Kosmetikhersteller Schönheit auf körperliche Schönheit reduziert? Oder ist man persönlich davon überzeugt, dass Schönheit mehr ist und auch die „Schönheit“ der Seele umfasst? Zählt auch Authentizität zur Schönheit? So sah es jedenfalls Coco Chanel, international bekannte französische Modedesignerin und Unternehmerin sowie Gründerin des Modeimperiums Chanel. Sie drückte es so aus: „Schönheit beginnt in dem Moment, in dem du beschließt, du selbst zu sein.“.
Wenn man authentisch sein will, setzt man zwangsläufig Grenzen. Dann gibt es Dinge, auf die man sich einlassen möchte und es gibt Dinge, auf die man sich nicht einlassen möchte. Und es gibt Rollen, die man übernehmen möchte und es gibt Rollen, die man nicht übernehmen möchte, auch wenn andere dies erwarten.
Authentisch sein kann und wird auch bedeuten, nein zu sagen, wenn sich etwas nicht gut anfühlt. Eine Frage steht dabei immer im Hintergrund: „Ist mir die Anerkennung und Bestätigung anderer Menschen so wichtig, dass ich bereit bin, mich selbst zu verleugnen?“. Man steht vor der Wahl, lieber sich selbst zu beeindrucken als andere und Liebe, Anerkennung und Bestätigung eher bei sich selbst zu finden als bei anderen.
Der Konformitätsdruck kann durchaus stark sein. Dies kann verschiedenste Ängste auslösen, beispielsweise die Angst, unangenehm aufzufallen, sich lächerlich zu machen, Erwartungen anderer zu enttäuschen, abgelehnt zu werden usw.
Authentisch werden, sein und bleiben
Authentizität ist ständiger Kampf gegen Widerstände. Wie kann man es schaffen, authentisch zu werden – falls man es noch nicht ist -, authentisch zu sein und es auch zu bleiben? Ist es reine Willenssache? Oder braucht man eine bestimmte Grundeinstellung?
Angenommen, man würde sich selbst nicht wertschätzen. Man hätte ein sehr gering ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Wäre es dann einfach, authentisch zu sein? Wohl kaum, denn wenn man sich selbst nicht wertschätzt, sucht man Liebe, Anerkennung und Bestätigung bei Mitmenschen. Deshalb ist der Wunsch stark und manchmal sogar übermächtig, anderen Menschen gefallen zu wollen. Und die Wahrscheinlichkeit, einem Konformitätsdruck nachzugeben, ist hoch.
In der Konsequenz ist leicht nachzuvollziehen, dass eine gesunde Selbstwertschätzung ein notwendiges Fundament für Authentizität ist. Jorge Bucay, Psychiater, formulierte es so: „Nur wenn ich mich selbst wertvoll fühle, kann ich mich akzeptieren, kann ich authentisch sein, kann ich ICH sein.“.
Authentizität ist keine tiefhängende Frucht, die sich leicht greifen lässt. Wenn man authentisch werden, sein und bleiben möchte, führt kein Weg an einer intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst vorbei.
Einige Fragen können dabei unterstützen, Werte, Überzeugungen, aber auch Bedürfnisse zu klären. Zu diesen Fragen, die den Klärungsprozess begleiten können, zählen:
- Was ist meine tiefste Sehnsucht?
- Wann bin ich bei mir wirklich „zu Hause“?
- Was lässt mich zu einer tiefen Ruhe kommen?
Wenn man authentisch ist, ist man sich seiner Individualität bewusst. Dann ist auch dem ständigen Vergleichen mit anderen der Boden entzogen. Dann kann ein Vergleichen nur kontraproduktiv sein.
Authentizität – eine Errungenschaft!
Angenommen, man hat es geschafft, authentisch zu werden, zumindest im Großen und Ganzen. Hat man es dadurch auch geschafft, sich gewissermaßen selbst zu heilen? Wenn man vorher nicht in Einklang mit seinem wahren Selbst war, es jetzt aber ist, kann dies durchaus als Heilung betrachtet werden. Den Heilungsprozess hat man durchlebt, vielleicht auch ein Stück weit durchlitten. Und man hat geheilt, was man nur selbst heilen kann.
Authentizität ist in der Tat eine Errungenschaft! Aber es ist keine endgültige Errungenschaft. Man steht immer wieder in Gefahr, sie zu verlieren. Welche äußeren Zwänge, welche Versuchungen oder Verlockungen einem in Zukunft begegnen werden, kann man (noch) nicht wissen. Authentizität ist deshalb gewissermaßen flüchtig, aber in jedem Fall erstrebens- und bewahrenswert. Schließlich geht es um kostbare Lebenszeit.
Robert machte sich auf den Weg zu sich selbst. Er wollte authentisch werden. Und er wollte keine Macht mehr über sich an andere abgeben. „Ich bin nicht auf der Welt, um so zu sein, wie du mich gerne hättest / wie ihr mich gerne hättet.“, so lautete sein neues Credo.
Für Robert bedeutete dies allerdings nicht den Weg in Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber. Wohl aber bedeutete es, intensiver auf sich selbst zu achten und authentisch sein zu wollen, zumindest immer zu versuchen, authentisch zu sein.
Auch Ralph Waldo Emerson wusste, wovon er sprach. In manchem galt er zu seiner Zeit als Querdenker und stellte sich gegen gesellschaftliche Normen.
* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)