„Ich bin frei, denn ich bin einer Wirklichkeit nicht ausgeliefert, ich kann sie gestalten.“
Paul Watzlawick
Paul Watzlawick (1921-2007) war ein österreichisch-amerikanischer Kommunikationswissenschaftler, Psychotherapeut, Philosoph und Autor. Er entwickelte verschiedene gesprächsanalytische Theorien und gilt als einer der populärsten Theoretiker der menschlichen Kommunikation. Seine Arbeiten hatten Einfluss auf die Familientherapie und allgemeine Psychotherapie.
Wer kennt die Wirklichkeit?
„So ist es doch gar nicht. Es ist vielmehr so: …“ – wer kennt es nicht? Es wird etwas als Wirklichkeit dargestellt und prompt kommt Widerspruch. Denn es gibt auch noch eine andere Wirklichkeit.
Thomas (*) und Michaela (*) sind ein Paar. In ihrer Beziehung kriselt es jedoch schon seit einiger Zeit. Michaela wirft Thomas immer wieder vor, dass er sie nicht wirklich ernstnehme. Thomas sieht es völlig anders und kann nicht verstehen, wie Michaela zu dieser Ansicht kommt.
Beide sprechen aus ihrem Erfahrungshintergrund heraus. Für Michaela bildet die Summe ihrer Erfahrungen und Wahrnehmungen ihre Wirklichkeit. Ihre Erfahrung und Wahrnehmung ist, dass Thomas ihre Erwartungen, Wünsche und Grenzen ignoriert – nicht immer, aber doch aus ihrer Sicht häufig. Bei Thomas ist es nicht anders. Auch seine Wirklichkeit ist die Summe seiner Erfahrungen und Wahrnehmungen, die sich allerdings von denen Michaelas unterscheiden.
Kommt es zu einem Vorwurfs-Pingpong?
Sowohl Thomas als auch Michaela haben ihre jeweils eigene Wirklichkeit – es gibt nicht die eine Wirklichkeit, sondern zwei. Immerhin hat Michaela ihre Wirklichkeit ausgesprochen. Sie möchte, dass sich in ihrer Beziehung etwas ändert. Eine Trennung steht für sie nicht zur Debatte – zumindest vorerst nicht. Thomas hat reagiert und seine Wirklichkeit dargelegt. Was geschieht, wenn Thomas und Michaela es dabei belassen?
Thomas mag Michaelas Beschreibung ihrer Wirklichkeit als Vorwurf auffassen. Daraus kann sich schnell ein Gegenvorwurf entwickeln. Es ist leicht vorstellbar, dass in der Folge ein Vorwurfs-Pingpong entsteht, was die beiden nicht wirklich weiterbringt. Vorwürfe gewinnen den Charakter von Abwehrreaktionen. Irgendwann könnte das Pingpong wegen Erschöpfung in eine Sprachlosigkeit in der Beziehung münden. „Es bringt ja sowieso nichts“, wäre das resignierende Fazit.
Ein Vorwurfs-Pingpong trägt noch eine weitere Gefahr in sich: die Gefahr der Kolonialisierung. Mit jedem Vorwurf ist man im Wesentlichen beim Anderen, nicht (mehr) bei sich selbst. Dem Anderen eine Deutung, eine Einsicht oder ein Verhalten vorschreiben zu wollen, liegt nicht fern. Dann geht es im Kern darum, den Anderen ändern zu wollen – zu kolonialisieren -, nicht sich selbst. Kolonialisierung ist übergriffig und unterschwellig ein Versuch, Macht und Kontrolle zu behalten. Und Kolonialisierung umschließt auch die Praxis, für den Anderen mitzusprechen.
Kann ein Kampf um Deutungshoheit sinnvoll sein?
Wie könnte das Paar mit den beiden Wirklichkeiten umgehen? Wenn jeder mehr oder weniger unausgesprochen darauf beharren würde, dass seine Wirklichkeit die wirkliche Wirklichkeit ist, kämen sie über die Erstarrung nicht hinaus. Kommen sie jedoch miteinander ins Gespräch und teilen sich gegenseitig ihre Wirklichkeiten mit, können sie einander besser verstehen und Ansatzpunkte finden, das jeweils eigene Verhalten zu ändern. Darin kommt dann auch Freiheit zum Ausdruck – die Freiheit, die Wirklichkeit zu gestalten.
Was ist dann die wirkliche Wirklichkeit? Müssen beide die wirkliche Wirklichkeit finden und sich darauf einigen? Keineswegs, denn beide sind nach wie vor Individuen. Würde es nicht zu einem nutzlosen Kampf um Deutungshoheit führen, wenn man sich auf die wirkliche Wirklichkeit zu einigen versucht?
Selbstkonstruierte oder fremdbestimmte Wirklichkeit?
Stefan (*) hat die subjektive Erfahrung gemacht, dass Staatsorganen nicht zu trauen ist. In seinem Leben stellte er wiederholt fest, dass Versprechungen wiederholt nicht eingehalten wurden. Was vor der Wahl galt, galt danach auf einmal nicht mehr. Deshalb ist er skeptisch, ja sogar abwehrend, wenn er über die Medien erfährt, was er zu tun habe bzw. wie er sich verhalten solle.
Seine Skepsis bringt Stefan dazu, sich seine Wirklichkeit selbst zu konstruieren. Er informiert sich über das Internet und stößt bald auf Personen und Personengruppen, die vorgeben, die Wirklichkeit genau zu kennen. Für Stefan klingt manches durchaus überzeugend. Sein Misstrauen gegenüber Staatsorganen wird bestätigt.
Konstruiert Stefan wirklich seine eigene Wirklichkeit oder übernimmt er lediglich seine Wirklichkeit von anderen? Ist seine (neue) Wirklichkeit eine Melange anderer Wirklichkeiten? Dann hätte er immerhin eine „Konstruktionsleistung“ vollbracht. Hat er sie jedoch lediglich aus einer einzigen Quelle übernommen, hat er sich gewissermaßen kolonialisieren lassen.
Was würde geschehen, wenn sich Stefan bewusstmacht, dass die wirkliche Wirklichkeit ein Phantom ist? Sicherlich würde er nicht darauf verzichten, im Internet zu recherchieren. Aber er würde angebotene Wirklichkeiten auf Plausibilität prüfen. Ist eine vorgebliche Wirklichkeit überzeugend, verständlich, nachvollziehbar? Er würde sie nicht einfach ungeprüft übernehmen.
Könnte es am Ende sein, dass sich seine selbstkonstruierte Wirklichkeit nicht mit der selbstkonstruierten Wirklichkeit der Staatsorgane deckt? Dies wäre durchaus möglich. Stefan wäre dann ein Andersdenkender, aber kein Idiot. Paul Watzlawick drückte es so aus: „Der Andersdenkende ist kein Idiot, er hat sich eben eine andere Wirklichkeit konstruiert.“.
Wie betrachtet man die Wirklichkeit der Lebensumstände?
Wie empfindet man die Wirklichkeit der Lebensumstände subjektiv? Die Lebensumstände können wie ein Korsett empfunden werden. Man muss funktionieren, um den Lebensunterhalt zu verdienen und sich Wünsche, die schließlich Geld kosten, zu erfüllen. Und man soll sich in einer bestimmten Weise verhalten, propagierten Normen der äußerlichen Erscheinung entsprechen usw.
Wie frei kann man über seine Zeit verfügen? Bestimmen andere, wie man seine Zeit einsetzt oder ist man selbst Herr über seine Zeit? Wieviel Zeit wird in der Wirklichkeit fremdverplant und wieviel Zeit bleibt einem selbst?
Schließlich ist man in ein soziales Netz eingebettet. Man sieht sich Erwartungen und Ansprüchen gegenüber, die man erfüllen soll oder gar muss. Oder man fühlt sich einsam und es fällt schwer, soziale Kontakte zu knüpfen. Die Einsamkeit mag als Last empfunden werden. Wie sieht man die Wirklichkeit seiner sozialen Beziehungen?
Die subjektive Wirklichkeit der Lebensumstände bleibt nicht statisch. Vielmehr verändert sie sich dynamisch. Viele Veränderungen im Umfeld betreffen einen persönlich und wirken auf einen ein. Doch will man seine subjektive Wirklichkeit gestalten lassen oder möchte man selbst aktiv gestalten?
Wie kann man Wirklichkeit gestalten?
Sandra (*) leidet an einer Psychose. Sie erzählt, dass sie in ihrer Wohnung abgehört wird. Und nachts würden Leute in ihr Zimmer eindringen, sie betäuben und anschließend missbrauchen. Für Sandra ist dies ihre Wirklichkeit. Sie ist völlig überzeugt, dass alle, die sie davon abbringen und überzeugen wollen, dass all dies nicht sein kann, eine falsche Wahrnehmung haben. Nur ihre Wirklichkeit gilt. Sie ist in ihrem krankhaften Denken gefangen.
Psychisch gesunde Menschen können ihr Denken steuern und sich durch ihr Denken eine subjektive Wirklichkeit gestalten. Diese subjektive Wirklichkeit umspannt das Denken über sich selbst, über die Menschen im engeren und weiteren sozialen Umfeld bis hin zum Denken über „Gott und die Welt“.
Das „Wie denkt man gerade?“ wird durch ein „Wie will man denken?“ ergänzt. Der Weg von der gedachten aktuellen Wirklichkeit hin zur sich vorgestellten und in Gedanken gestalteten Wirklichkeit verkapselt einen Veränderungsprozess. Denken kann das Leben verändern. Henry Thoreau drückte es so aus: „Indem wir unser Denken ändern, ändern wir unser Leben.“.
In der Freiheit des Denkens kommt Gestaltungsmacht zum Ausdruck. Sandra hat diese Gestaltungsmacht nicht, denn ihre psychische Erkrankung engt sie ein. Wenn man aber als psychisch gesunder Mensch Gestaltungsmacht hat, ist man einer aktuellen subjektiven Wirklichkeit nicht mehr ausgeliefert, sondern man kann sie auf die Zukunft hin gestalten. Man ist frei.
Manche Menschen stellen sich eine zukünftige Wirklichkeit vor. Sie nehmen etwas vorweg, was noch nicht da ist, was sie aber mit Begeisterung und voller Elan erreichen wollen. Thomas Sautner drückte es in seinem Roman „Fuchserde“ so aus: „Die Wirklichkeit beginnt in deinem Kopf. Du schaffst sie jeden Tag aufs Neue. Wenn du ein Ziel mit jeder Faser deines Herzens anstrebst, hat das Schicksal gar keine andere Wahl, als es dich erreichen zu lassen. Denn du hast mehr Energie in dir, als du dir in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst.“.
Wie kann man mit vielerlei Wirklichkeiten umgehen?
Wie verhält es sich, wenn jeder Mensch eine eigene, subjektive Wirklichkeit besitzt, die nicht der wirklichen Wirklichkeit entspricht, sondern nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit ist? Dann entspricht die Anzahl der subjektiven Wirklichkeiten der Anzahl der Menschen auf dieser Erde. Daraus lässt sich auch folgern, dass sich die subjektiven Wirklichkeiten nicht miteinander vergleichen lassen. Und kein Mensch kann von sich behaupten, die wirkliche Wirklichkeit zu kennen. Die wirkliche Wirklichkeit gibt es, aber keiner kennt sie.
Sind subjektive Wirklichkeiten gleichberechtigt?
Sind die subjektiven Wirklichkeiten gleichberechtigt? Manche dargebotenen subjektiven Wirklichkeiten, beispielsweise die von manchen Verschwörungstheoretikern, scheinen schwer erträglich zu sein. Sie erscheinen absurd und in sich widersprüchlich. Es liegt nahe, sie nicht als gleichberechtigt zu werten und damit auch den jeweiligen Repräsentanten als „Wirrkopf“ herabzuwürdigen. Doch wäre dies angemessen? Und wie könnte man reagieren?
Eine Möglichkeit besteht darin, zu versuchen, den Anderen von der eigenen subjektiven Wirklichkeit zu überzeugen. Beim Versuch muss es bleiben, denn der Andere muss den Argumenten nicht folgen, so glaubhaft und einleuchtend sie auch sein mögen. Davon abgesehen, wäre es ein „Kolonialisierungsversuch“.
Eine andere Möglichkeit besteht darin, eine dargebotene subjektive Wirklichkeit, die man selbst ablehnt, trotzdem stehen zu lassen. Man kann schließlich die andere Person nicht ändern und sie dazu bringen, ihre subjektive Wirklichkeit neu zu konstruieren. Auch wenn die überzeugendsten Argumente vorgebracht werden, wird eine Person ihre subjektive Wirklichkeit nur dann neu konstruieren, wenn sie es selbst möchte.
Wer ist verantwortlich?
Wird man selbst Ziel eines „Kolonialisierungsversuchs“, kann man etwa Folgendes entgegnen: „Ich sehe es anders und habe dafür meine Argumente. Möchtest du sie wissen?“. Der Andere fühlt sich respektiert, auch wenn man seine Ansichten nicht teilt. Er ist für sein Leben mit seiner subjektiven Wirklichkeit selbst verantwortlich und es liegt an ihm, seine subjektive Wirklichkeit zu prüfen.
Auch man selbst befindet sich in eigener Verantwortung in dem andauernden Prozess, die eigene subjektive Wirklichkeit zu gestalten. Jedes neue Erlebnis, jede Erfahrung, jede neue Erkenntnis trägt dazu bei.
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