„Der Freund ist einer, der alles von dir weiß, und der dich trotzdem liebt.“
Elbert Hubbard
Elbert Green Hubbard (1856-1915) war ein amerikanischer Schriftsteller, Essayist, Philosoph und Verleger. Er beschrieb sich selbst als Anarchist und Sozialist. Er gilt als Begründer des Roycroft Movement, einer Vereinigung von Kunsthandwerkern, Schriftstellern und Philosophen im US-Bundesstaat New York und ein amerikanischer Ableger des im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert populären Arts and Crafts Movement, einer aus England stammenden Bewegung in Kunst und insbesondere im Produktdesign.
Wo Sonne ist, da ist auch Schatten
Vorbemerkung: Elbert Hubbard bezieht sich auf den Freund. Selbstverständlich lässt sich die Aussage auch auf die Freundin übertragen. Dieser Text bleibt jedoch im Interesse der besseren Lesbarkeit bei der männlichen Form.
Der Anspruch scheint überaus hoch. Wie kann man von jemand geliebt werden, der alles über einen weiß? Und wie kann man selbst jemand lieben, von dem man alles weiß? Dabei geht es natürlich nicht um erotische Liebe (Eros), sondern um die Freundesliebe (Philia), d.h. Liebe auf Gegenseitigkeit, die gegenseitige Anerkennung und das gegenseitige Verstehen.
Alles zu wissen bedeutet, dass der Freund nicht nur die Sonnen-, sondern auch die Schattenseiten kennt. Die Schattenseiten bezeichnen all das, was man vor den Mitmenschen gerne verbergen möchte. Vielleicht hat man sich übertölpeln lassen, musste einen Schaden hinnehmen und kann selbst nicht verstehen, wie das passieren konnte. Oder man ist „ausgerastet“ und hat im Zorn seine Partnerin geschlagen oder sie auf andere Weise gedemütigt. Oder man hat jemand Schaden zugefügt, weil man ganz einfach neidisch auf ihn war. Und jetzt empfindet man Scham und ist darauf bedacht, dass niemand davon erfährt. Beispiele für Erlebnisse, Ereignisse und eigene Verhaltensweisen, über die man lieber nicht sprechen möchte und die möglichst niemand erfahren soll, gibt es zur Genüge.
Völlig anders verhält es sich bei den Sonnenseiten, die für das stehen, was man an sich gut findet, wo und wie man erfolgreich war usw. Die Sonnenseiten möchte man natürlich gerne zeigen. Jeder soll sie sehen, denn sie finden in Anerkennung ein Echo.
Wie weit geht „alles wissen“?
Eine Freundschaft ist wie ein zartes Pflänzchen. Mit guter Pflege wächst und entwickelt sie sich mit der Zeit. Man spricht offen miteinander und bringt sich gegenseitig immer mehr Vertrauen entgegen. Wenn sich das Vertrauen bewährt, indem Vertrauliches auch vertraulich bleibt und nicht offenbart wird, vertieft sich die Freundschaft. Irgendwann wird es dann auch gelingen, über „Eingemachtes“ miteinander zu sprechen, womit auch heikle oder schambesetzte Themen gemeint sind.
Michael (Name geändert) fiel es lange schwer, sich gegenüber seinem Freund zu öffnen. Als er es schließlich schaffte, empfand er es als wohltuend. Er konnte beispielsweise mit seinem Freund über seinen Schmerz reden, der aus einem Gespräch mit seiner Tochter herrührte. Sie hatte ihm gewissermaßen die Schulnote 6 für sein Vatersein während ihrer Kindheit und Jugendzeit gegeben. Michael war durchaus bewusst, dass er vieles versäumt hatte. Hätte er die Zeit zurückdrehen können, hätte er ohne Frage neu begonnen und sein Vatersein anders gelebt. Er hätte seinem Beruf nicht mehr diesen überaus hohen Stellenwert gegeben, den er ihm zugewiesen hatte. Er hätte seiner Familie deutlich mehr Zeit gewidmet.
Für Michael war es eine gute Erfahrung, mit seinem Freund darüber zu sprechen. Natürlich konnte auch die Unterhaltung mit dem Freund an der Vergangenheit nichts mehr ändern. Und auch der Freund konnte Michael keine wie auch immer geartete Absolution erteilen. Aber das Gespräch mit dem Freund war einfach wohltuend.
Was genau war es eigentlich, was Michael gutgetan hatte? Für ihn war es schwer greifbar. Wahrscheinlich war es einfach die Tatsache, dass er seinen Schmerz über das Gespräch mit seiner Tochter zur Sprache bringen konnte. Er hatte etwas ausgesprochen und es wurde etwas anders – in ihm. Hermann Hesse, Schriftsteller, Dichter und Maler, machte wohl ebenfalls eine solche Erfahrung und drückte es so aus: „Es wird immer alles gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht.“.
Für Michael war wohltuend, dass der Freund ihn nicht auch noch verurteilte. Dieser hätte ihn beispielsweise besserwisserisch belehren können, in etwa so: „Michael, dir hätte doch klar sein müssen, wohin die Vernachlässigung der Familie führt“. Dies geschah jedoch nicht. Und Michael hatte auch erfahren, dass die Liebe des Freundes zu ihm dadurch nicht geschmälert wurde.
Die Grenzen, wie weit man sich gegenüber dem Freund offenbaren möchte, setzt man selbst. Maßgebend ist sicherlich, wie viel Vertrauen man zum Freund hat. Hat sich das Vertrauen im Lauf der Jahre bewährt, fällt es leicht, sich ihm gegenüber sehr weitreichend zu öffnen. Dann mag es in der Tat dahin kommen, dass der Freund (fast) alles von einem weiß.
Beziehung auf Augenhöhe
Ist vorstellbar, dass ein Freund alles vom Anderen weiß, umgekehrt dies jedoch nicht so ist? Wenn dies so wäre, dann wäre es keine gegenseitige freundschaftliche Liebe, die auf die Person des Anderen gerichtet ist. Dann würde der Freund in einer bestimmten Rolle gesehen – als „Kummerkasten“, als Problemlöser oder vielleicht sogar als „Vorteilsverschaffer“. Die freundschaftliche Beziehung würde unter einer Unwucht leiden. In Wirklichkeit wäre es keine Beziehung auf Augenhöhe.
Eine derart asymmetrische Freundschaft hätte eher den Charakter einer Therapeut-Patient-Beziehung. In einer klassischen Therapeut-Patient-Beziehung weiß der Therapeut gewissermaßen alles über den Patienten, der Patient aber nichts über den Therapeuten. Der Patient gibt alles von sich preis (zumindest wäre dies im Interesse des Behandlungserfolgs sinnvoll), der Therapeut jedoch nichts von sich. Schließlich geht es um den Patienten, nicht um den Therapeuten. Eine asymmetrische Freundschaft ist ein Widerspruch in sich.
Eine wirkliche freundschaftliche Gemeinschaft kann ohne eine Art verbindendes „geistiges Band“ nicht auskommen. Derart miteinander verbundene Freunde sind gewissermaßen „ein Herz und eine Seele“. Sie schätzen einander und begegnen einander auf Augenhöhe. Und gegenseitige Offenheit und das vertrauensvolle Teilen von Freude und Leid gehören unabdingbar dazu.
Vertrauen – ein kostbares Geschenk
Der Aspekt des Vertrauens wirkt trennscharf und scheidet in wahre Freunde und mehr oder weniger gute Bekannte. In sozialen Netzwerken werden Menschen, mit denen man in Kontakt steht, als Freunde bezeichnet. Doch diese Art „Freunde“ kennt man nicht wirklich (im angelsächsischen Raum, in dem die meisten sozialen Netzwerke verwurzelt sind, werden auch mehr oder weniger flüchtige Bekannte als Freunde bezeichnet). Man kann sich oft nicht einmal sicher sein, ob die Angaben eines derartigen „Freundes“ zu seiner Person überhaupt zutreffen. Möglicherweise sind sie geschönt, aber man kann sie oft nicht nachprüfen und gegebenenfalls widerlegen. Wenn man aber damit rechnen muss, dass man belogen wird, wie sollte man dann einem Bekannten Vertrauen entgegenbringen können?
Vertrauen entwickelt sich nicht über Nacht. Oft gehen in einer Freundschaft mehrere Jahre ins Land, bis sich das gegenseitige Vertrauen gefestigt hat und hochgradig belastbar ist. Vertrauen ist in zwischenmenschlichen Beziehungen gewissermaßen die härteste Währung. Und da sich Vertrauen nicht einfordern lässt, sondern nur aus freiem Willen gewährt werden kann, ist es ein überaus kostbares Geschenk!
Wenn man einen Freund auch auf seine Schattenseiten blicken lässt, schenkt man ihm dadurch praktisch uneingeschränktes Vertrauen. Gleichzeitig geht man bewusst das Risiko ein, dass der Freund das Vertrauen missbraucht, aber man rechnet nicht damit. Das Vertrauen hat sich schließlich über die Zeit hinweg bewährt. Ginge man das Risiko nicht ein, würde man nicht vertrauen.
Liebe – trotz allem
Man erzählt einem Freund etwas von sich, über das man alles andere als stolz ist, wo man versagt hat, wo man jemanden enttäuscht hat … – und trotzdem nimmt man wahr, dass man nach wie vor geliebt wird. Der Freund entzieht seine Liebe nicht.
Wie kommt es, dass die Liebe nicht entzogen wird? Wenn der Freund auf sich selbst schaut, sieht er auch auf die eigenen Schattenseiten und Abgründe. Er nimmt wahr, welche Gedanken ihm manchmal durch den Kopf gehen und von denen er keinesfalls möchte, dass irgendjemand anderes diese Gedanken lesen kann. Vielleicht erschrickt er ja manchmal sogar vor seinen eigenen Gedanken.
Wenn man sich selbst mit seinen Schattenseiten und Abgründe kennt, verurteilt man den Freund nicht mehr. Man müsste sich, wenn man ehrlich zu sich selbst ist, ja auch selbst verurteilen. Man hat vielleicht selbst nicht in dem Punkt versagt, in dem der Freund versagt hat, aber dafür in einem anderen. Welchen Grund gibt es dann, dem Freund die Liebe zu entziehen?
Auch man selbst entzieht dem Freund die Liebe nicht, wenn seine Schattenseiten gerade besonders hervortreten. Den Freund lieben, von dem man alles weiß, umfasst dann den ganzen Menschen. „Ich liebe dich, aber nur den ‚schönen‘ Teil von dir“, passt nicht mehr. Aber „Ich liebe dich, so wie du bist“, passt. Lieben schließt das Annehmen mit ein: „Ich nehme dich so an, wie du bist“. Wer wünscht es sich nicht, so angenommen zu werden, wie man ist?
Lieben und sich abgrenzen?
Bedeutet den Freund zu lieben auch, zu allem „Ja und Amen“ zu sagen, egal wie er sich verhält oder wie er eingestellt ist? Wäre es etwa ein Zeichen von Freundesliebe, liebt man den Freund wirklich, wenn man ihn auf einem gefährlichen Weg sieht und ihn nicht warnt?
Wie würde man sich beispielsweise verhalten, wenn man wahrnimmt, dass der verheiratete Freund im Begriff ist, sich auf einen Seitensprung einzulassen? Ist die Liebe zum Freund dadurch gefährdet, wenn man das Verhalten des Freundes sehr kritisch sieht und ihm das auch deutlich klarmachen möchte?
Man möchte sich abgrenzen, ohne die Freundschaft von sich aus zu gefährden. Wie könnte man vorgehen? Eine Möglichkeit besteht darin, zunächst den Freund zu fragen, ob er eine Meinung dazu hören möchte. Wenn er bejaht, kann man ihm schildern, was man wahrnimmt und seine eigene Ansicht dazu äußern, etwa so: „Ich nehme deutlich wahr, dass du dich zu Beatrix hingezogen fühlst. Ich weiß, dass sie dich auch mag. Wenn du mit ihr ein Verhältnis anfängst, befürchte ich, dass du, so wie ich deine Frau kenne, deine Ehe aufs Spiel setzt. Sie wird einen Seitensprung nicht tolerieren. Ich sehe dich mit dem Feuer spielen!“.
Dem Freund bleibt überlassen, wie er mit der Warnung umgeht. Sollte er sie in den Wind schlagen, ist es seine Verantwortung. Selbst ist man bei Ich-Botschaften geblieben, hat den Freund nicht verurteilt, sich aber klar abgegrenzt. Den Freund lieben heißt nicht, dass man alles gutheißen muss, was dieser tut oder wie er eingestellt ist.
Auch wenn der Freund so handelt oder denkt, wie es einem selbst zuwider ist, hört die Liebe zum Freund nicht auf. Das Verhältnis mag vorübergehend etwas distanzierter werden. Sollte der Freund selbst merken, dass er auf einem Irrweg ist, wird er sich überwinden müssen, es dem Anderen einzugestehen. Er hat ja die Warnung willentlich ignoriert. Dies mag seine Zeit brauchen. Aber er weiß: Wenn ich mich meinem Freund anvertraue, werde ich nicht verurteilt und er wird mir seine Liebe nicht entziehen.
Die Liebe zum Freund hält sehr viel aus. Die gegenseitige Zuneigung, die Sympathie und das Vertrauen sind schließlich nach wie vor vorhanden. Man liebt den Freund weiterhin. Und wer sagt, dass der Freund auf seinem Weg, den man selbst als unheilvoll ansieht, bleiben wird?
* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)