Die Wahrheit beginnt zu zweien. – Karl JaspersLesezeit: 9 Min.

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„Die Wahrheit beginnt zu zweien.“

Karl Jaspers
Die Wahrheit beginnt zu zweien, K. Jaspers - Gestaltung: privat
Gestaltung: privat

Karl Theodor Jaspers (1883-1969) war ein deutscher Psychiater und Philosoph. Als Arzt trug er grundlegend zur wissenschaftlichen Entwicklung der Psychiatrie bei. Sein umfangreiches philosophisches Werk gewann insbesondere in den Bereichen der Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie und der Interkulturellen Philosophie große Bedeutung.

Wer „hat“ die Wahrheit?

Wo liegt die Wahrheit, beispielsweise in einem Paarstreit? Da kommt es zu einer Auseinandersetzung über die Frage der Kindererziehung. Die Argumente fliegen hin und her. Er setzt sich, wie schon so oft zuvor, mit seiner Meinung durch. Aber ist sein Weltbild, das seine Meinung widerspiegelt und in das er seine Partnerin einzuzwängen versucht, die Wahrheit? Oder hat sie die Wahrheit, kann sie aber nur nicht durchsetzen? Oder „hat“ jeder der beiden ein Stück von der Wahrheit? Und gibt es überhaupt so etwas wie die absolute Wahrheit?

Die Geschichte von den blinden Männern und dem Elefanten

Von einem unbekannten Verfasser gibt es die Geschichte von den Blinden und dem Elefanten. Diese Geschichte kursiert in verschiedenen, leicht voneinander abweichenden Versionen. Eine davon ist die Folgende:

Es waren einmal fünf weise Gelehrte. Sie alle waren blind. Diese Gelehrten wurden von ihrem König auf eine Reise geschickt und sollten herausfinden, was ein Elefant ist. Und so machten sich die Blinden auf die Reise nach Indien. Dort wurden sie von Helfern zu einem Elefanten geführt. Die fünf Gelehrten standen nun um das Tier herum und versuchten, sich durch Ertasten ein Bild von dem Elefanten zu machen.

Als sie zurück zu ihrem König kamen, sollten sie ihm nun über den Elefanten berichten. Der erste Weise hatte am Kopf des Tieres gestanden und den Rüssel des Elefanten betastet. Er sprach: „Ein Elefant ist wie ein langer Arm“.

Der zweite Gelehrte hatte das Ohr des Elefanten ertastet und sprach: „Nein, ein Elefant ist vielmehr wie ein großer Fächer“.

Der dritte Gelehrte sprach: „Aber nein, ein Elefant ist wie eine dicke Säule“. Er hatte ein Bein des Elefanten berührt.

Der vierte Weise sagte: „Also ich finde, ein Elefant ist wie eine kleine Strippe mit ein paar Haaren am Ende“, denn er hatte nur den Schwanz des Elefanten ertastet.

Und der fünfte Weise berichtete seinem König: „Also ich sage, ein Elefant ist wie eine riesige Masse, mit Rundungen und ein paar Borsten darauf“. Dieser Gelehrte hatte den Rumpf des Tieres berührt.

Nach diesen widersprüchlichen Äußerungen fürchteten die Gelehrten den Zorn des Königs, konnten sie sich doch nicht darauf einigen, was ein Elefant wirklich ist. Doch der König lächelte weise: „Ich danke Euch, denn ich weiß nun, was ein Elefant ist: Ein Elefant ist ein Tier mit einem Rüssel, der wie ein langer Arm ist, mit Ohren, die wie Fächer sind, mit Beinen, die wie starke Säulen sind, mit einem Schwanz, der einer kleinen Strippe mit ein paar Haaren daran gleicht und mit einem Rumpf, der wie eine große Masse mit Rundungen und ein paar Borsten ist“.

Die Gelehrten senkten beschämt ihren Kopf, nachdem sie erkannten, dass jeder von ihnen nur einen Teil des Elefanten ertastet hatte und sie sich zu schnell damit zufriedengegeben hatten.

In dieser Geschichte steht der Elefant für eine Realität oder eine Wahrheit. Sie soll veranschaulichen, dass eine Realität sehr unterschiedlich, gleichzeitig aber auch nur unvollständig, wahrgenommen werden kann. Es kommt zum einen auf die Perspektive an und zum anderen darauf, wie viel von einer Realität erfasst wird. Beispielsweise sind Rüssel und Schwanz nur relativ kleine Körperteile eines Elefanten. Der Blinde, der den Schwanz ertastete, nahm weniger als ein Prozent des Elefantenkörpers wahr.

Aber selbst die wahrnehmbare Realität bildet nur einen Teilaspekt eines Elefanten ab. Aus dem Ertastbaren lässt sich beispielsweise nicht auf die Sehfähigkeit, die Motorik oder das Sozialverhalten eines Elefanten schließen. Die Blinden ertasten den Elefanten wohl während er stillsteht. Der in Bewegung befindliche Elefant wird von den Blinden nicht wahrgenommen. Insgesamt gesehen erkennen die Blinden nur einen sehr kleinen Bruchteil der Realität.

Wer kennt die Wahrheit über sich selbst?

Wenn man sich vor dem Spiegel betrachtet, sieht man eine Wirklichkeit und auch eine Wahrheit. Man nimmt seine physische Erscheinungsform wahr. Manches lässt sich objektiv messen: Körpergröße, Gewicht, Taillenumfang usw. Und manches ist eine Frage subjektiver Einschätzung, wie beispielsweise Schönheit.

Manche Wirklichkeiten lassen sich beim Blick in den Spiegel nicht wahrnehmen oder lassen sich beschönigen. Wie steht es beispielsweise um die Seele? Jeder Mensch hat eine Seele, aber was ist die Seele überhaupt? Der Begriff „Seele“ ist mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen belegt. Religiöse, philosophische und psychologische Lehren und Traditionen, aber auch Mythen geben dem Begriff Seele ihren ganz spezifischen Inhalt. Diese so unterschiedlichen Begriffsinhalte sind nicht zur Deckung zu bringen. Mit anderen Worten und um im Bild zu bleiben: Philosophen, Psychologen, Theologen „ertasten“ alle etwas Unterschiedliches. Keiner kennt die ganze Wahrheit.

Kann man die Wahrheit über sich selbst kennen, wenn so viele Fragen noch offen sind? Wer kann beispielsweise präzise beschreiben, wie Gehirn und Bewusstsein zusammenhängen? Zumindest bisher ist dies noch niemand überzeugend gelungen. Karl Kaspers fasste es so zusammen: „Der Mensch findet in sich, was er nirgends in der Welt findet, etwas Unerkennbares, niemals Gegenständliches, etwas, das sich aller forschenden Wissenschaft entzieht.“

Es wird noch „komplizierter“. Der Mensch ist kein statisches Wesen, sondern er entwickelt sich ständig weiter. Er lebt in einem dynamischen Gefüge und interagiert auch selbst dynamisch. Karl Jaspers drückte es so aus: „Der Mensch ist immer mehr, als er von sich weiß. Er ist nicht, was er ein für alle Mal ist, sondern er ist Weg.“.

Zitat des Tages

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Was ist die Wahrheit in einer Beziehung?

Der Kommunikationswissenschaftler, Psychotherapeut und Philosoph Paul Watzlawick, der als einer der populärsten Theoretiker der menschlichen Kommunikation gilt, beschäftigte sich sehr intensiv mit Fragen der Wirklichkeitswahrnehmung. Einige Zitate drücken seine Erkenntnisse sehr anschaulich aus:

  • „Jeder Mensch konstruiert sich seine Wirklichkeit.“,
  • „Jeder meint, dass seine Wirklichkeit die wirkliche Wirklichkeit ist.“,
  • „Der Glaube, es gebe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung.“,
  • „Wie man an die Wirklichkeit herangeht, ist für das ausschlaggebend, was man finden kann.“,
  • „Der Andersdenkende ist kein Idiot, er hat sich eben eine andere Wirklichkeit konstruiert.“.

Wenn man, wie ein Blinder in der Geschichte von den blinden Männern und dem Elefanten, nur einen Teilaspekt der Wirklichkeit erkennen kann, konstruiert man sich zwangsläufig seine eigene Wirklichkeit.

In zwischenmenschlichen Beziehungen existieren in der Konsequenz mindestens zwei Wirklichkeiten, eine pro Person. Diese Wirklichkeiten werden nie deckungsgleich sein, denn jeder Mensch nimmt seine Umwelt, Ereignisse und auch sich selbst auf seine ganz individuelle Art und Weise wahr.

Gleichberechtigung der Wahrheiten?

Wenn es jeweils individuelle Wirklichkeiten bzw. Wahrheiten gibt, kann dann einer ein Mehr an Wahrheit beanspruchen? Oder ist es eher so, dass einer immer Unrecht hat, wie es Friedrich Nietzsche ausdrückte? „Einer hat immer unrecht, aber mit zweien beginnt die Wahrheit.“, so ist in Nietzsches Werk „Die fröhliche Wissenschaft“ (drittes Buch Nr. 260) zu lesen.

Darf ein Mensch seine Wahrheit über die des Anderen stellen, wenn er allein immer Unrecht hat? Dies wäre widersinnig und würde in einer Art „Wahrheitsimperialimus“ resultieren. Wahrheit lässt sich in einer Beziehung nur gemeinsam finden und setzt konsequenterweise die Gleichberechtigung individueller Wahrheiten voraus.

Würde die Wahrheit des Anderen geringer oder für weniger wert erachtet als die eigene, käme dies einer Geringschätzung und einer Kränkung des Anderen gleich. Wie der Psychoanalytiker und Paartherapeut Michael Lukas Moeller es ausdrückte, geht es bei der Missachtung der Wahrheit des Anderen „um den Versuch, von der eigenen Selbstabwertung fortzukommen“. Im Grunde wird der Andere verachtet, um Selbstabwertung zu vermeiden und sich nicht selbst minderwertig zu fühlen.

Wie kann man gemeinsam Wahrheit entdecken?

Michael Lukas Moeller, der als der wohl wichtigste Gründer der neuen Selbsthilfegruppenbewegung in Deutschland gilt, widmete sich mit seinem Buch „Die Wahrheit beginnt zu zweit – Das Paar im Gespräch“ (Rowohlt-Verlag) der Frage, wie Paare miteinander ins Gespräch kommen können.

Moeller empfiehlt Paaren, sich einmal pro Woche Zeit für ein Zwiegespräch einzuplanen, gewissermaßen ein Jour Fixe für die Beziehung. Als Dauer des Zwiegesprächs empfiehlt Moeller 90 Minuten, in denen jeder Partner etwa 45 Minuten zu Wort kommt.

Für Zwiegespräche gelten einige wenige Regeln, wie sie im Wesentlichen auch für Selbsthilfegruppen gelten: „Keine Fragen. Keine Ratschläge. Jeder über sich“. Dadurch, so Moeller, nimmt man sich selbst den häufigsten Fluchtweg: sich mit Hilfe der Beziehung selbst zu vermeiden, indem man beim Anderen bleibt.

„Keine Fragen“ bedeutet, dass man jede Art von „Verhör“ vermeidet und sich strikt auf Verständnisfragen beschränkt. „Ich habe gerade nicht verstanden, wie du das gemeint hast“, wäre eine Rückfrage mit klärender Absicht. „Worüber hast du mit … so lange geredet, während ich nicht da war?“ wäre eine Frage, die eher zu einem Verhör passt.

Gutes und Sinnvolles tun – ganz praktisch

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„Keine Ratschläge“ bedeutet, dass man keinen unerbetenen Ratschlag gibt. Gibt man einen unerwünschten Ratschlag, steckt oft der Versuch dahinter, den Anderen nach dem Bild, das man selbst von ihm hat, zu formen. „Ich empfehle dir, lockerer zu werden“, ist ein Beispiel für einen „gefärbten“ Ratschlag. Vielleicht sieht der Andere bei sich aber überhaupt keine Notwendigkeit, „lockerer“ zu werden. Es ist das eigene Bild vom Anderen, das einen vom Defizit an Lockerheit sprechen lässt.

„Jeder über sich“ bedeutet, dass man völlig bei sich bleibt. Man erklärt dem Anderen nicht, wie er denkt, wahrnimmt, fühlt, empfindet und handelt. Indem man ganz bei sich bleibt und ausschließlich über sich erzählt, wie man selbst denkt, wahrnimmt, fühlt, empfindet und handelt, lenkt man nicht von sich selbst ab. Dann wird auch gleichzeitig die Möglichkeit genommen, das Zwiegespräch als Versuch zu nutzen, den Anderen zu ändern. Ein Versuch, den Anderen ändern zu wollen, wäre ohnehin zum Scheitern verurteilt. Ein Mensch wird sich nur ändern, wenn er es selbst wirklich will.

In Zwiegesprächen besteht die Möglichkeit, viel über den Anderen zu erfahren, seine Wirklichkeit kennenzulernen. Und indirekt erfährt man auch einiges über sich selbst. Wie spricht beispielsweise der Andere über die Beziehung? Fühlt er sich wertgeschätzt, ernstgenommen, akzeptiert, in seiner Individualität gesehen usw.?

Zwiegespräche haben sich als sehr fruchtbar und als hilfreich erwiesen, die Wahrheit zu zweit zu entdecken. Gibt es einen anderen Weg als im gemeinsamen Gespräch zu bleiben, völlig unabhängig davon, wie lange man schon ein Paar ist?

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Ich bin Dieter Jenz, Begleiter, Berater und Coach mit Leidenschaft. Über viele Jahre hinweg habe ich einen reichen Schatz an Kompetenz und Erfahrung erworben. Meine Themen sind die "4L": Lebensaufgabe, Lebensplanung, Lebensnavigation und Lebensqualität.