„Die wichtigste Lektion, die wir alle lernen müssen, ist die bedingungslose Liebe, die nicht nur andere, sondern auch uns selbst einschließt.“
Elisabeth Kübler-Ross
Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004) war eine schweizerisch-US-amerikanische Psychiaterin. Sie gilt als eine Pionierin der modernen Sterbeforschung. Nach vielen Gesprächen mit Sterbenden war sie fest davon überzeugt, dass es keinen Tod gibt. Der Tod stelle lediglich einen Übergang zu einer anderen Existenz dar, in der es keinen Schmerz und keine Angst mehr gibt. Diese These stieß in der Wissenschaft vielfach auf Kritik.
Sie gilt außerdem als Mitbegründerin der weltweiten Hospizbewegung. Ihrer Initiative ist es zu verdanken, dass in den USA die ersten sogenannten „Hospices“ eingerichtet wurden, in denen todkranke Menschen bis zu ihrem Tod liebevoll gepflegt werden.
Vom Ende her denken
Elisabeth Kübler-Ross beschäftigte sich von Berufs wegen sehr intensiv mit dem Sterben und dem Tod. Sie sprach intensiv mit Sterbenden und naturgemäß dürfte der Rückblick auf das bisherige Leben des jeweiligen todkranken Menschen oft ein wichtiges Thema gewesen sein.
In ihrem 1969 erschienenen Buch „On Death and Dying“ (Titel der deutschen Ausgabe: „Interviews mit Sterbenden“, 1971) entwarf sie ein bis heute weithin anerkanntes, jedoch auch heftig kritisiertes Phasenmodell, mit dem sie das Denken, Erleben und Verhalten sterbender Menschen beschreibt. Sie ging außerdem davon aus, dass es ein Leben nach dem Tod gibt.
Was war im Rückblick wirklich wichtig?
Am Ende des Lebens stellen sich vielerlei Fragen. Was war im Leben wirklich wichtig? Was hätte man im Rückblick lieber anders gemacht? Oder was hat man bedauert oder gar bereut? Wie hätte man seine Zeit lieber anders eingesetzt? Solche und ähnliche Fragen beschäftigen todkranke Menschen, die noch die Gelegenheit haben, ihr Leben zu reflektieren.
In jüngerer Zeit wuchs der Fundus an Büchern, die sich damit auseinandersetzen, was todkranke Menschen bedauern oder bereuen, weiter an. In ihrem Buch „The Top Five Regrets of the Dying” (deutsch: „Die fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“) fasste Bronnie Ware, die als Krankenschwester auf der Palliativstation eines australischen Krankenhauses arbeitete, die Aussagen todkranker Menschen so zusammen: „Ich wünschte, ich hätte
- den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben“,
- nicht so viel gearbeitet“,
- den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken“,
- den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhalten“,
- mir mehr Freude gegönnt“.
Die US-amerikanische Hospizseelsorgerin Tenzin Kiyosaki, eine buddhistische Nonne, konzentrierte sich in ihrem Buch „The Three Regrets: Inspirational Stories and Practical Advice for Love and Forgiveness at Life’s End.“ auf drei Aspekte, die todkranke Menschen bedauern: „Ich habe
- mir meine Träume nicht erfüllt“,
- meine Liebe nicht ausgedrückt“,
- nicht vergeben“.
Die genannten Bücher basieren nicht auf breit angelegten wissenschaftlichen Untersuchungen. Sie geben Erfahrungen und Eindrücke wieder, die die Autorinnen in ihrem erreichbaren Umfeld gewinnen konnten. Dass die Aussagen Sterbender auf unterschiedlichen Kontinenten etwas voneinander abweichen, überrascht nicht. Und sicherlich spielen auch Interpretationen der Autorinnen vor dem Hintergrund persönlicher Überzeugungen eine Rolle.
Welchen Stellenwert hat die Liebe?
Der Aspekt, andere Menschen im Sinne von Nächstenliebe und außerdem auch sich selbst bedingungslos geliebt zu haben, wurde von den Menschen, mit denen die Buchautorinnen sprachen, nicht betont. Sie betrachteten jeweils ihr individuelles Leben.
Die oben genannten Autorinnen, wie auch Elisabeth Kübler-Ross, nahmen eine Art Beobachterposition ein. Sie führten viele Gespräche mit todkranken Menschen und versuchten aus ihrer Sicht, Schlussfolgerungen zu ziehen und allgemein anwendbare Erkenntnisse zu gewinnen. Bei alledem ist es nur verständlich, wenn auch persönliche Überzeugungen und die persönliche Weltsicht mit einfließen.
Beide Perspektiven, einerseits die der todkranken Menschen, andererseits die der Sterbeforscherin bzw. der Sterbebegleiterinnen, treffen sich in dem Punkt des Loslassens und Zurücklassens. Ein Sterbender muss von sich aus gezwungenermaßen alles loslassen und zurücklassen. Aber bei den Mitmenschen bleibt etwas zurück: die Erinnerung an den dann Verstorbenen. Woran erinnern sich Mitmenschen, wenn sie an den Verstorbenen denken?
Spielt nicht das Thema „Liebe“ in der Erinnerung in der einen oder anderen Form immer eine zentrale Rolle? Wenn von einem Verstorbenen die Rede ist, ist beispielsweise „er war wirklich ein liebenswerter Mensch“ oder „er hat seine Familie geliebt“ zu hören. Manchmal mag dies wirklich aufrichtig gemeint sein, manchmal nicht. Aber der Aspekt der Liebe im weitesten Sinn wird immer mit dem Leben eines Verstorbenen verknüpft.
Elisabeth Kübler-Ross war davon überzeugt, dass es ein Leben nach dem Tod gibt und vertrat sogar die Auffassung, dass der Tod nicht existiert. Liebe hatte für sie einen sehr hohen Stellenwert. Am Ende ihrer Autobiografie (Das Rad des Lebens: Autobiographie. Knaur, 2002) schrieb sie: „Die schwerste Lektion ist die bedingungslose Liebe. Der Tod ist nichts, was du fürchten müsstest. Er kann zur schönsten Erfahrung deines Lebens werden. Alles hängt davon ab, wie du gelebt hast. Der Tod ist nur Übergang von diesem Leben zu einer anderen Existenz, in der es keinen Schmerz und keine Angst mehr gibt. Mit Liebe lässt sich alles ertragen.“.
Falls es ein Weiterleben nach dem Tod gibt – was sich (derzeit) wissenschaftlich weder belegen noch widerlegen lässt -, wäre dann die Liebe nicht ein verbindendes Element zwischen derzeitiger (zu Ende gehender) Existenzform und einer zukünftigen (beginnenden) Existenzform? Und müsste Liebe dann nicht bedingungslos sein?
Bedingungslose Liebe – eine heillose Überforderung?
Bedingungslose Liebe ist ein sehr hoher Anspruch. Können Menschen überhaupt bedingungslos lieben? Oder ist da eben doch irgendwo immer ein versteckter Hintergedanke, der auf den eigenen Nutzen oder Vorteil schielt? Oder gibt es irgendeine Einschränkung, vielleicht bezogen auf die Herkunft, auf den Lebensstil oder was immer es auch sei?
Der Begriff „bedingungslose Liebe“ bedarf einer Klärung. Welche Eigenschaften würde man bedingungsloser Liebe zuordnen? Folgende Gedanken könnten einem dazu in den Sinn kommen: Liebe ist geduldig, nicht selbstsüchtig, nicht nachtragend, nicht taktlos, nicht eingebildet, nicht überheblich, sucht nicht den eigenen Vorteil, kennt keinen Neid, verliert nicht die Beherrschung, bewahrt die Hoffnung, sie erträgt alles, hält allem stand. Diese Eigenschaften finden sich im Übrigen auch in der Bibel (Neues Testament, 1. Kor. 13). Sie gehören somit zu den Grundprinzipien einer christlichen Gemeinschaft. Warum sie in der realen Welt so oft nicht zu erkennen sind, steht auf einem anderen Blatt.
Bedingungslose Liebe ist nicht mit grenzenloser Liebe gleichzusetzen. Wenn man bedingungslos liebt, bedeutet dies nicht, dass man sich alles gefallen lassen und hinnehmen muss. Wenn jemand die eigenen Grenzen überschreitet, in welcher Form auch immer, muss dies nicht toleriert werden.
Im realen Leben gibt es Hindernisse, welche die Liebe, und erst recht die bedingungslose Liebe, unmöglich machen. Ein Hauptfaktor ist die Angst. Wenn man Angst vor jemandem hat, kann man nicht gleichzeitig Liebe für diese Person empfinden. Im Gegenteil: man empfindet Hass, mehr oder weniger stark, ob man sich dies nun eingesteht oder nicht.
Um lieben zu können – und schließlich auch bedingungslos -, müsste man die Angst besiegen. Durch Angst drückt man aus, dass man sich nicht sicher oder sogar bedroht fühlt. Doch wie kann es gelingen, die Angst zu besiegen?
Ein Weg führt über die Stärkung des Selbstwertgefühls, zumindest wenn ein Gefühl der Unterlegenheit mitschwingt. Eine andere Person kann man nicht schwächer machen, aber man kann sich selbst stärker machen. Sich selbst annehmen, sich selbst wertschätzen, sich seiner Würde und Wertigkeit bewusstwerden, sind konkrete Schritte auf diesem Weg.
Bedingungslose Liebe kann eine heillose Überforderung sein, aber sie muss es nicht bleiben.
Weshalb bedingungslose Selbstliebe?
Das Zitat von Elisabeth Kübler-Ross betont auch den Aspekt der bedingungslosen Selbstliebe. Für sie gehört beides zusammen, die Liebe zu anderen Menschen und die Selbstliebe. Wenn schon bedingungslose Liebe gegenüber Mitmenschen, weshalb dann nicht auch bedingungslose Selbstliebe?
Viele Menschen können sich selbst nicht lieben. Aber welche Maßstäbe legen sie an sich selbst an, um zu diesem Urteil über sich selbst zu gelangen? Hat Selbstliebe etwas mit Leistung zu tun, mit dem Bankkonto, mit Fehlern und Irrwegen in Vergangenheit oder Gegenwart, mit …?
Wenn Selbstliebe tatsächlich etwas mit Messgrößen (Höhe des Einkommens, Bildungsabschluss, berufliche Position, sozialer Status, Höhe des Vermögens usw.) zu tun hätte, wäre sie nur dann gerechtfertigt, wenn eben ein bestimmtes Niveau erreicht ist. Doch was wäre, solange das gewünschte Niveau noch nicht erreicht ist? Und was wäre, wenn man beispielweise mitten im beruflichen Aufstieg einen Unfall erleidet und man das erstrebte Niveau objektiv nicht mehr erreichen kann? Und was wäre, wenn man vom erreichten Niveau „abstürzt“, beispielsweise durch einen folgenschweren beruflichen Fehltritt? Wäre in allen diesen Fällen Selbstliebe ausgeschlossen bzw. ungerechtfertigt?
Selbstliebe schaut nicht auf Leistung, in welcher Form auch immer. Jeder Mensch hat Würde und ist ein einmaliges, unverwechselbares Individuum. Dies gilt völlig unabhängig von irgendwelchen Leistungskriterien. Und jeder Mensch ist von Vornherein liebenswert. Das gilt natürlich auch für einen selbst. Deshalb kann sich jeder Mensch auch so annehmen, wie er ist, mit allen seinen Stärken und Schwächen. Selbstliebe ist bedingungslos.
Weshalb ist es so wichtig, sich selbst zu lieben? Für Erich Fromm, Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe, ist Selbstliebe die Grundlage, um andere Menschen lieben zu können. In seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ formulierte er es so: „Liebe zu meinem Selbst ist untrennbar mit der Liebe zu allen anderen Wesen verbunden.“. Und Meister Eckhart, spätmittelalterlicher Theologe und Philosoph, drückt es so aus: „Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst. Solange du einen einzigen Menschen weniger lieb hast als dich selbst, so hast du dich selbst nie wahrhaft liebgewonnen.“.
Elisabeth Kübler-Ross bewegt sich auf dieser Linie, wenn sie Selbstliebe und die Liebe zu allen Menschen miteinander verknüpft. Und sie lenkt den Blick auf das Lernen. Vom Ende her betrachtet erachtete sie es sogar als ein „lernen müssen“.
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