„Ein Mensch, der seine Lebensaufgabe gefunden hat, findet darin Gründe, die das Leben lohnen und mit Freude erfüllen, ganz gleich, auf welche Hindernisse und Schwierigkeiten er stoßen oder was für Schweres ihm zugemutet werden mag.“
Jean Monbourquette
Jean Monbourquette (1933-2011) war ein kanadischer Tiefenpsychologe, klinischer Psychologe und Theologe. Außerdem war er Autor mehrerer Bücher, von denen einige in andere Sprachen übersetzt wurden.
Was liegt (noch) vor mir?
Diese Frage stellt sich wohl jeder Mensch nicht nur einmal im Leben. Sie stellt sich immer wieder, oft ausgelöst durch lebensprägende Ereignisse oder Erfahrungen.
Rainer (Name geändert) fragt sich, was er tun soll, wenn er aus dem Arbeitsleben ausscheidet. Er hätte schon längst in Rente gehen können, doch er will nicht. Finanzielle Gründe sind es nicht, die ihn hindern. Vielmehr fürchtet er sich davor, „in ein Loch zu fallen“. Was soll er mit seiner Lebenszeit anfangen, wenn er nicht mehr in seinem Beruf tätig sein kann, den er liebt und noch gut ausüben kann?
Helmut (Name geändert) ist schon lange glücklich verheiratet. In wenigen Jahren wird er, wenn nichts Unvorhergesehenes eintritt, mit seiner Frau die Goldene Hochzeit feiern können. Fünfzig gemeinsame Jahre mit seiner Frau, die er liebt, wären schon eine lange Wegstrecke. Gemeinsam gingen sie durch Höhen und Tiefen. Ihre Ehe erlebte auch schwierige Zeiten, doch beide wollten zusammenbleiben. Auch wenn in den schwierigen Zeiten in Helmuts Gedanken das Wort „Trennung“ durchaus vorkam, kann er sich ein Leben ohne seine Frau dennoch nicht vorstellen.
Die Befürchtung, dass seine Frau möglicherweise vor ihm sterben könnte, taucht in Helmuts Gedanken immer wieder auf. Was soll er mit seiner Lebenszeit anfangen, wenn er alleine zurückbleibt? Die Kinder haben schon längst eigene Familien und er will sich ihnen auch in keiner Weise aufdrängen. Eine neue Partnerin zu suchen kann er sich nicht vorstellen. Zu viel haben seine Frau und er gemeinsam erlebt, haben gegenseitig tiefes Vertrauen entwickelt. Helmut möchte nicht noch einmal von vorne anfangen.
Manche lebensprägenden Ereignisse oder Erfahrungen liegen noch in der Zukunft oder treten vielleicht überhaupt nicht ein. Rainer kann das Ausscheiden aus dem Beruf noch hinauszögern, aber eben nicht beliebig lange. Der Tag, an dem er zum letzten Mal zur Arbeit fährt, wird unweigerlich kommen. Helmut macht sich seine Gedanken vielleicht völlig unnötig, wenn nicht seine Frau ihn zurücklässt, sondern er seine Frau.
Andererseits haben viele Menschen schon lebensprägende Ereignisse oder Erfahrungen erlebt, die ihr Leben völlig ungeplant in eine andere Richtung gelenkt haben. Vielleicht war es eine Krankheit, die das Leben gewissermaßen „auf den Kopf gestellt“ hat. Nadine (Name geändert) arbeitete als Ärztin in einem Krankenhaus. Sie erkrankte an „Long COVID“ und war schließlich dazu gezwungen, ihre Arbeitsstelle aufzugeben. Vielleicht hat man im mittleren Alter die langjährige Arbeitsstelle verloren und gilt jetzt als nur noch schwer vermittelbar. Oder vielleicht ist man Opfer eines Naturereignisses geworden, das einem alles raubte, was man sich bisher erarbeitete.
„Was liegt jetzt (noch) vor mir?“ ist eine Frage, die weitere nach sich zieht. „Was macht das Leben, das vor mir liegt, lohnenswert?“ oder „Was kann mein Leben erfüllen?“ sind Beispiele für derartige Fragen.
Die Frage nach dem individuellen Lebenssinn
Die Fragen, was das Leben als „lohnenswert“ erscheinen lässt und was das Leben erfüllen kann, führen unweigerlich hin zu der Frage: „Was gibt meinem Leben Sinn?“ oder, etwas anders formuliert: „Welchen Sinn hat mein Leben?“. Ausgangssituation für die Beantwortung sind die realen Lebensumstände, nicht Wünsche und Vorstellungen.
Welchen Sinn hat Rainers Leben, wenn der Tag gekommen ist, an dem er zum letzten Mal von der Arbeitsstelle nach Hause fährt? Welchen Sinn hätte Helmuts Leben, wenn er Witwer werden würde? Und welchen Sinn hat das Leben der noch jungen Ärztin Nadine, die unter heftigen Krankheitssymptomen leidet und vielleicht keine Chance mehr hat, wieder in ihren Beruf zurück zu kehren? Standardantworten sind nicht möglich.
Jede dieser Personen muss bzw. müsste den individuellen Lebenssinn für sich finden. Dieser individuelle Lebenssinn kann nicht von irgendjemand vorgegeben, gewissermaßen verordnet, werden. Es wird auch kein Zettel vom Himmel fallen, auf dem geschrieben steht: „Der Sinn deines Lebens ist …“. Es führt kein Weg daran vorbei: man muss ihn selbst finden. Viktor Frankl, Neurologe und Psychiater, drückte es so aus: „Sinn kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden.“
Vielleicht wird einige Zeit benötigt bis der individuelle Lebenssinn gefunden ist. Schließlich muss er als stimmig empfunden werden. Er muss mit den eigenen Werten übereinstimmen und mit voller innerer Überzeugung verinnerlicht werden können. Er muss belastbar sein, denn im weiteren Leben könnte es zu existenziellen Herausforderungen kommen, die einen an seine Grenzen bringen.
Möglicherweise werden im Findungs- und Klärungsprozess aber auch bisherige Grundüberzeugungen und Werte infrage gestellt. Dann führt dies zu einer „Neujustierung“ des Überzeugungs- und Wertesystems.
Die Frage nach der individuellen Lebensaufgabe
Viele Menschen haben sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ob sie eine Lebensaufgabe haben, und falls ja, welche dies konkret sein könnte. Aber irgendwann im Leben stellt sich bei vielen mehr oder weniger direkt so oder ähnlich die Frage: „Was erfüllt eigentlich mein Leben?“ oder auch – im Blick auf das bisherige Leben – „Was hat eigentlich meinem bisherigen Leben wirkliche Erfüllung gegeben?“.
Die Frage, was das Leben erfüllen könnte, führt zur Frage nach der Lebensaufgabe. Wie der Begriff schon andeutet, handelt es sich um eine Aufgabe, der eine Person ihr ganzes Leben oder zumindest einen bedeutenden Teil ihrer Lebenszeit widmet. Dieser Person ist diese Aufgabe so wichtig, dass sie ihre kostbare Lebenszeit dafür einsetzt, über mehrere Jahre hinweg.
Zwischen Lebensaufgabe und Erfüllung besteht eine Wechselbeziehung. Hat man eine Lebensaufgabe, die einen jedoch nicht erfüllt, wird man sich dieser Aufgabe sicherlich so bald als möglich wieder entledigen. Erfüllt die Lebensaufgabe, besteht demgegenüber ein Anreiz, sich dieser Aufgabe noch intensiver hinzugeben.
Manchmal ist der Einwand zu hören: „Brauche ich überhaupt eine Lebensaufgabe?“ Rein „technisch“ gesehen brauchen Menschen keine Lebensaufgabe. Es gibt auch keine wie auch immer geartete Verpflichtung, seine individuelle Lebensaufgabe zu finden. Menschen kommen im Leben auch ohne Lebensaufgabe zurecht, können privat glücklich und beruflich erfolgreich sein.
Wenn man jedoch seine Lebensaufgabe gefunden und geklärt hat, wird man unzweifelhaft feststellen, dass sie dem Leben Struktur und Zielstrebigkeit, aber auch Widerstandskraft gibt. Man übernimmt Verantwortung für sich selbst, bestimmt sein Leben selbst und lässt sich nicht Ziele und Aufgaben von anderen vorgeben.
Wie kommt man zur individuellen Lebensaufgabe?
Genauso wenig wie der individuelle Lebenssinn steht die individuelle Lebensaufgabe auf einem Zettel, der vom Himmel herunter langsam vor die Füße schwebt. Man muss sie selbst herausfinden. Aber der Lohn ist die Mühe wert.
Die individuelle Lebensaufgabe steht in einem Zusammenhang mit der Berufung. Wozu ist man im Leben berufen? Die Antwort findet man, wenn man sich über seine Gaben, Fähigkeiten, Interessen und Visionen Gedanken macht.
Falls man sich über seine persönliche Berufung noch nicht im Klaren ist, wird es hilfreich sein, sich mit der Frage der persönlichen Berufung zu beschäftigen. Dies erweist sich als spannend und bereichernd.
Ist die persönliche Berufung bekannt, weist sie den Weg zur persönlichen Lebensaufgabe, der Verwirklichung der Berufung im Leben. Dies erweist sich als relativ kleiner Schritt. Berufung und Lebensaufgabe werden immer im Einklang miteinander stehen und sich nie widersprechen.
Gründe finden, dass sich das Leben lohnt
Menschen können in Grenzsituationen geraten, in denen sie dem Punkt nahekommen, an dem sie den Lebensmut verlieren. In derartigen Situationen ist es für Menschen, die um ihren Lebenssinn und ihre Lebensaufgabe wissen, leichter, ein „Warum“ zu finden: ein „Warum“ es sich lohnt, durchzuhalten.
Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl, Begründer der Logotherapie (unterstützt bei der sinnorientierten Lebensgestaltung), erlebte die Frage des „Warum“ ganz existenziell. Er wurde 1944 vom Ghetto Theresienstadt in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Schon 1941 begann er die Arbeit an seinem Buch „Ärztliche Seelsorge“, das die Grundlagen seines psychotherapeutischen Systems darlegt. Das Manuskript nähte er vor der Deportation nach Auschwitz in einen Mantel ein. Der Mantel wurde ihm jedoch abgenommen und so ging das schon druckreife Manuskript verloren. Viktor Frankl hatte gehofft, dass das Manuskript ihn überleben würde, falls er selbst in Auschwitz sterben sollte. Die Chance, in Auschwitz zu überleben, lag nach seinen späteren Recherchen bei etwa 1:29 (mit anderen Worten: nur etwa 3,5 Prozent der Häftlinge überlebten das Vernichtungslager).
Ausgerechnet dieser Verlust des Manuskripts gab ihm das „Warum“. Er beschrieb es so: „Und das war es: Ein Warum zu überleben! Nun galt es, das Manuskript zu rekonstruieren. Ich stürzte mich in meine Arbeit. Es wurde meine Habilitationsschrift.“
Heute sind Grenzsituationen völlig anders geartet. Konzentrationslager gibt es nicht mehr, zumindest nicht in der Bundesrepublik Deutschland. Die typischen Ursachen für Grenzsituationen sind in der Gegenwart eine lebensbedrohliche Krankheit, eine Naturkatastrophe, der Tod eines nahen Angehörigen, die Trennung vom Partner bzw. der Partnerin oder der Arbeitsplatzverlust.
Vielleicht sagt man sich in Anlehnung an Viktor Frankl: „Ich habe etwas zu sagen und es ist wichtig, dass ich es sage. Deshalb tue ich alles dafür, dass ich es auch sagen kann und dass es gehört oder gelesen werden kann.“ Vielleicht sagt man sich auch: „Ich tue etwas und es ist wichtig, dass es getan wird. Deshalb tue ich auch alles dafür.“
Wenn man für sich ein „Warum“ findet, verhilft man sich selbst zu mehr Lebensqualität und Erfüllung. Das Leben wird mit Freude erfüllt, denn man sieht Früchte, und seien sie auch noch so klein. Und man unterstützt sich selbst dabei, seine Potenziale zu entfalten.
Rainer, Helmut und Nadine befinden sich in völlig unterschiedlichen Lebenssituationen. Doch sie können ihre jeweils ganz individuelle Antwort auf ihr „Warum“ finden und ihr Leben durch eine Lebensaufgabe erfüllen.
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