„Ich traue Menschen nicht, die sich selbst nicht lieben, aber mir sagen: »Ich liebe Dich«.“
Maya Angelou
Maya Angelou (1928-2014) war eine US-amerikanische Schriftstellerin, Professorin und Bürgerrechtlerin. Sie gilt als wichtige Persönlichkeit der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner in den USA.
Woher kommt das Misstrauen?
Was gibt es Schöneres als zu hören: „Ich liebe dich!“? Am Schönsten ist es natürlich, dies von der Person zu hören, die man auch selbst liebt.
Vielleicht bekommt man das ersehnte „Ich liebe dich!“ zu hören, aber da ist so ein komisches Bauchgefühl. Es bezieht sich auf die Person als Ganzes, die diese schönen Worte ausgesprochen hat. Kommt das „Ich liebe dich!“ wirklich aus dem Herzen oder ist es irgendwie unterschwellig „gefärbt“? Man kann diese „Färbung“ nicht greifen, denn sie ist Ausdruck des Unterbewusstseins des Anderen. Im Moment spürt man nur, dass da beim Anderen irgendwie etwas unecht wirkt, nicht stimmig ist. Es scheint so als ob der Andere nicht wirklich bei sich zu Hause ist.
Eine Geduldsgeschichte
Marie (*) und Thomas (*) können inzwischen auf mehr als 40 gemeinsame Ehejahre zurückblicken. Sie sind noch zusammen, aber es hätte auch anders kommen können.
Als die beiden heirateten, kannten sie einander noch nicht wirklich. Die „rosarote Brille“ in der Phase der Verliebtheit verdeckte die Frage, ob man wirklich zusammenpasst. Das Verbindende wurde gesehen, aber das Trennende wurde weniger wahrgenommen. Bevor sie einander klarer sehen konnten, Verhaltensmuster, Gewohnheiten, Eigenarten, Schwächen, Sorgen und Ängste tiefer wahrnehmen konnten, waren sie schon verheiratet.
Thomas hatte die Befürchtung, dass die Liebe irgendwann aufhören könnte. Zu Marie sagte er, dass sie einander in diesem Fall ja trotzdem treu bleiben könnten. Er hatte die Ehegeschichte seiner Eltern vor Augen. Bei ihnen war es auch einmal Liebe gewesen, aber dann ging der Vater irgendwann fremd. Die Mutter fand es heraus. Vater und Mutter blieben aber trotzdem zusammen. Nur war für den damals noch sehr jungen Thomas wahrnehmbar, dass die Eltern zwar zusammenlebten, sich aber nicht (mehr) liebten. Er sah beispielsweise nie, dass die beiden sich umarmten oder gar küssten.
Marie wuchs in behüteten Verhältnissen auf. Für sie war deutlich wahrnehmbar, dass ihre Eltern sich liebten, auch wenn sie dies nicht so sehr mit äußeren Zeichen zum Ausdruck brachten. Marie war sehr überrascht, ja sogar in gewisser Weise entsetzt, als sie Thomas davon reden hörte, dass die Liebe sterben könnte. Sie wollte und erwartete, dass die Liebe bleibt.
In seinen Jungerwachsenenjahren konnte Thomas nicht wirklich „Ja“ zu sich sagen. Er sah mehr auf seine Schwächen als auf seine Stärken. Er konnte sich nicht wirklich selbst lieben. Und diese mangelnde Selbstliebe brachte er in die Ehe mit.
Marie erlebte Thomas als einen Menschen, dem es sehr schwerfiel, sich zu öffnen. Konflikten und Auseinandersetzungen suchte er aus dem Weg zu gehen. Oft verkroch er sich, bildlich gesprochen, in seine Höhle. Dabei wollte Thomas, dass Marie in der Beziehung glücklich wird. Er wollte es „besser machen“ als sein Vater.
Es dauerte Jahre bis Thomas, angestoßen durch eine ehrenamtliche Tätigkeit, einen anderen Blick auf sich selbst bekam und ihn auch zuließ. Mit der Zeit lernte er buchstäblich, sich selbst zu lieben und konnte, wiederum bildlich gesprochen, zu sich nach Hause kommen. Sein neuer Blick auf sich selbst wirkte sich auch auf die Beziehung mit Marie aus. Die Beziehung gewann an Tiefe.
Selbstliebe = Selbstakzeptanz? – oder mehr?
Vielleicht steht man am Beginn einer Beziehung, vielleicht ist man schon mittendrin. Man nimmt wahr, dass der Andere – um im Bild zu bleiben – nicht wirklich bei sich zu Hause ist. Könnte es sein, dass der Andere sich selbst nicht liebt? Doch was bedeutet es überhaupt, sich selbst zu lieben?
Selbstliebe ist die bedingungslose Liebe zu sich selbst. Ja, die Liebe zu sich selbst ist an keine Bedingungen geknüpft, auch nicht an eine Einzige! Man kann sich so annehmen, wie man ist. Punkt!
Ist Selbstliebe gleichbedeutend mit bedingungsloser Selbstakzeptanz oder umfasst Selbstliebe noch mehr? Selbstakzeptanz könnte als etwas rein Rationales verstanden werden: Man akzeptiert sich selbst verstandesmäßig. Selbstliebe schließt jedoch auch die gefühlte Überzeugung mit ein, selbst liebenswert zu sein. Man ist sich seiner Würde bewusst, seiner Einzigartigkeit und ist überzeugt, mit allen Stärken und Schwächen, und vielleicht auch Einschränkungen, wertvoll zu sein. Man erlebt die Liebe zu sich selbst auch gefühlsmäßig. Kurzum: Selbstliebe ist Verstand und Gefühl.
Kann man lieben, wenn man sich selbst nicht liebt?
Kann man andere Menschen wirklich lieben, wenn man sich selbst nicht liebt und es auch nicht kann? Falls nein, hat dies entscheidende Auswirkungen auf die Qualität und Tiefe von Beziehungen.
In seinem Buch „Die Kunst des Liebens“, einem der erfolgreichsten Sachbücher aller Zeiten, schrieb der Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm: „Liebe ist grundsätzlich unteilbar; man kann die Liebe zu anderen Liebes-»Objekten« nicht von der Liebe zum eigenen Selbst trennen.“. Und er fasste die Konsequenz so zusammen: „[… ] wenn er [der Mensch] nur andere lieben kann, dann kann er überhaupt nicht lieben“.
Es mag sein, dass auch Selbstsucht eine Rolle spielt. Dann ergibt sich ein doppeltes Dilemma. Wiederum Erich Fromm brachte es auf den Punkt: „Es stimmt zwar, dass selbstsüchtige Menschen unfähig sind, andere zu lieben, aber sie sind auch nicht fähig, sich selbst zu lieben.“. Selbstsucht und fehlende Selbstliebe sind gewissermaßen eine unheilvolle Kombination.
Wie kann man mangelnde Selbstliebe erkennen?
Wenn es so ist, dass sich die Unfähigkeit, sich selbst lieben zu können, auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirkt, dann ist Selbstliebe ein entscheidend wichtiges Thema. Es ist insbesondere dann ein wichtiges Thema, wenn man beispielsweise jemand kennengelernt hat und an eine Beziehung denkt. Dann ist es hilfreich, frühzeitig zu erkennen, ob der Andere sich selbst lieben kann. Doch wie kann man erkennen, dass jemand sich selbst liebt oder eben nicht liebt? Welche Anzeichen deuten darauf hin?
Es gibt eine Fülle von Anzeichen. Sie lassen sich zu drei Hauptanzeichen verdichten: Mangelnde Selbstwertschätzung, chronische Unzufriedenheit und Verschlossenheit.
Mangelnde Selbstwertschätzung
Wenn man nicht von Herzen davon überzeugt ist, ein wertvoller Mensch zu sein, wird man von der Bewertung und dem Zuspruch anderer abhängig sein. Zugleich macht es die Einstellung „Ich bin nicht gut genug“ oder „Ich genüge nicht“ schwer, Anerkennung und Wertschätzung von Mitmenschen überhaupt annehmen zu können. Und man hält sich auch nicht für wert, geliebt zu werden.
Selbstwertschätzung ist auch ein Gradmesser dafür, welche Wertschätzung man anderen Menschen entgegenbringen kann. Kann man jemand anderes wertschätzen, sich selbst aber nicht? Wohl kaum!
Chronische Unzufriedenheit
Unzufriedenheit mit sich selbst kann sich auf sehr unterschiedliche Weise äußern. Es mag beispielsweise die Unzufriedenheit mit dem Aussehen sein. Man empfindet sich vielleicht ungünstig proportioniert oder sonst etwas stört an der körperlichen Erscheinung. Oder es mag eine aus pathologischem Vergleichen mit Anderen herrührende Unzufriedenheit sein. Bei diesen Vergleichen mit Menschen, die vermeintlich bessergestellt sind oder mehr können, scheint man immer den Kürzeren zu ziehen.
Die Unzufriedenheit bezieht sich nicht auf ein einmaliges Ereignis oder auf gelegentliche Vergleiche. Vielmehr ist es eine chronische und oft auch allgemeine Unzufriedenheit, die sich nicht leicht überwinden lässt.
Verschlossenheit
Wer sich selbst nicht lieben kann, wird zur Verschlossenheit neigen. Man hat immer die eigenen Schwächen im Blick und mit denen möchte man sich ungerne auseinandersetzen. Man fühlt sich schnell persönlich angegriffen und kann mit Kritik nicht gut umgehen. Auch dass man schnell in die Opferrolle flüchtet, überrascht nicht.
Die Dünnhäutigkeit fördert den inneren Rückzug. Jemand, der sich nicht selbst lieben kann, hat Schwierigkeiten, sich zu öffnen, gewissermaßen sein Herz zu zeigen. Schließlich erwartet man ja überhaupt nicht, geliebt werden zu können. Deshalb verharrt man, so gut es geht, in seiner Komfortzone.
Was könnte geschehen, wenn man eine Beziehung eingeht?
Man hat jemand kennengelernt und kann sich vorstellen, dass sich mehr daraus entwickelt. Vielleicht hat man sich auch schon einige Male getroffen und das „Ich liebe dich!“ gehört. Aber man hat auch Anzeichen entdeckt, dass dieser Jemand sich selbst nicht liebt. Jetzt ist man sich vielleicht unsicher, ob man wirklich eine Beziehung eingehen möchte. Ist man übertrieben vorsichtig oder tut man diesem Jemand vielleicht sogar Unrecht?
Was könnte geschehen, wenn man sich auf eine Beziehung einlässt? Der Jemand wird davon ausgehen, dass er nicht geliebt werden kann – weil er sich auch selbst nicht lieben kann. Und er kann nur so viel Liebe, Wertschätzung und Toleranz entgegenbringen wie sich selbst gegenüber. Das „Ich liebe dich!“ drückt wahrscheinlich mehr Faszination aus als echte Liebe aus. Die gestörte Beziehung zu sich selbst beeinträchtigt auch die zwischenmenschliche Beziehung.
Eine Beziehung zwischen zwei Menschen, von denen einer sich selbst lieben kann, der andere jedoch nicht, wird keine Beziehung auf Augenhöhe sein können. Damit ist nicht gesagt, dass die Beziehung scheitern muss. Aber sie verlangt ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Toleranz.
Wenn man seinem Partner helfen will, sich (endlich) selbst lieben zu können, übernimmt man in gewisser Weise sogar eine Art Therapeutenrolle. Es kann gelingen, dass der Partner sein Bild von sich und seine Einstellung zu sich verändert und dann auch Augenhöhe erreicht wird.
Auch Marie übernahm ungewollt eine Therapeutenrolle. Sie liebte Thomas, auch so wie er war, und sie wollte die Beziehung. Es war über lange Zeit keine Beziehung auf Augenhöhe, aber später wurde es eine. Thomas war in der Beziehung im Grunde der Schwächere, aber das änderte sich. Die Beziehung gewann an Tiefe. Im Nachhinein ließe es sich so formulieren: Wäre Thomas früher „zu sich gekommen“ und hätte sich selbst von Herzen lieben gelernt, hätte die Beziehung schon viel früher bereichert werden können.
Maya hatte recht, zu misstrauen. Misstrauen ist gewissermaßen Selbstschutz vor Enttäuschung. Es könnte schließlich auch anders ausgehen als in der Beziehung von Marie und Thomas.
* Name(n) geändert
Anmerkung: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt. Dies ist nicht geschlechtsspezifisch gemeint.
* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)