„Seit ich die Grenzen, die man mir setzte, nicht mehr anerkenne, nicht mehr als Grenze erlebe, spüre ich erst, wie stark ich bin…wie grenzenlos ich sein kann.“
Kristiane Allert-Wybranietz
Kristiane Allert-Wybranietz (1955-2017) war eine deutsche Schriftstellerin. Erlebnisse, Erfahrungen, Begegnungen und Probleme verarbeitete sie anfangs in kurzen Texten, die sie als sogenannte „Verschenktexte“ veröffentlichte und auf unterschiedliche Art und Weise auch tatsächlich verschenkte. Später wurden ihre Werke von Verlagen veröffentlicht.
Gesetzte Grenzen einfach nicht mehr anerkennen?
Thomas (Name geändert) hatte in seiner Kindheit das Empfinden, den Erwartungen seines Vaters nicht entsprechen zu können. Sein Vater war handwerklich sehr geschickt, Thomas war es nicht. Zumindest in den Augen seines Vaters war er es nicht. Vielleicht traute Thomas sich selbst zu wenig zu, vielleicht war er einfach zu langsam. Oder vielleicht ließ er sich zu schnell entmutigen, weil er dachte, es nie so gut wie sein Vater hinzubekommen. Heute kann er sich nicht mehr daran erinnern, was genau er dachte. Jedenfalls kam bei ihm als Botschaft seines ungeduldigen Vaters an: „Du kannst es nicht“. Und er fühlte sich als ein Nichtsnutz.
Thomas erlernte einen kaufmännischen Beruf, bildete sich in Sachen Informationstechnologie weiter und machte sich in diesem Bereich nach einigen Jahren des Angestelltendaseins selbstständig. Irgendwann ergab sich für Thomas die Gelegenheit, sich an handwerklichen Arbeiten zu versuchen. Er verlegte Wasserleitungen, lernte das Gewindeschneiden, und siehe da, es gelang. Auch das Verlegen von Elektroleitungen gelang ihm. Weitere Jahre später wurde es notwendig, den Garten umzugestalten. Thomas baute eine lange Mauer und gestaltete eine Sitzecke. Es gelang.
Thomas hatte Grenzen nicht mehr anerkannt. Und dadurch hatte er sich auf neues Territorium vorgewagt und auf ganz praktische Art und Weise erfahren, dass „er es kann“. Ein Gefühl der Stärke und der Zufriedenheit stellte sich ein.
Heute ist Thomas seinem längst verstorbenen Vater nicht mehr böse. Er stellt sich vor, dass, wenn sein Vater jetzt sähe, was er handwerklich hinbekommen hat, sein Vater sagen würde: „Du kannst es ja doch. Du bist halt langsam. Aber du versuchst, durchdacht und genau zu arbeiten“. Und dann würden sie beide herzhaft lachen.
Grenzen überwinden – Stärke spüren
So wie Thomas erging und ergeht es überaus vielen Menschen. In der ein oder anderen Form wurden von anderen Menschen oder von Umständen, wie beispielsweise körperlichen Behinderungen, Grenzen gesetzt. Und dann hat man erfahren, dass man die Grenzen überwinden kann. Es mögen relativ leicht zu überwindende Grenzen gewesen sein oder nur schwer und mit großer Willenskraft überwindbare Grenzen.
Wie auch immer es war: man hat Grenzen nicht mehr als Grenzen anerkannt. Und man spürt Stärke, wenn man Grenzen hinter sich lässt. Und auch eine gewisse Grenzenlosigkeit.
Es gibt viele mutmachende Geschichten von Menschen, die Grenzen nicht mehr anerkannt haben und über sie hinausgegangen sind. Sie haben sich ihre Stärken bewusst gemacht, sie eingesetzt und ihre Grenzen verschoben. Zwei davon seien hier herausgegriffen.
Helen Keller
Helen Adams Keller (1880-1968) war eine taubblinde US-amerikanische Schriftstellerin. Zwar wurde sie als gesundes Kind geboren, verlor jedoch im Alter von 19 Monaten durch eine unbekannte Krankheit ihr Seh- und Hörvermögen. Bald danach hörte sie mit dem Sprechen auf.
Da sie nicht wusste, wie sie sich verständigen sollte, zog sie sich immer mehr zurück. Um sich ihrer Umgebung verständlich zu machen, entwickelte sie Handzeichen. Diese wurden allerdings oft nicht verstanden. Bei Helen Keller löste dies verständlicherweise Frustration aus.
Ihre Eltern wandten sich an die für das Unterrichten von blinden Kindern ausgebildete Lehrerin Anne Sullivan. Diese ließ die kleine Helen einen Gegenstand berühren und buchstabierte ihr dessen Namen gleichzeitig in die freie Hand. Dabei verwendete sie ein Fingeralphabet, wie es zum Teil von Gehörlosen benutzt wird.
Später erlernte Helen Keller durch Anne Sullivan die von dem Franzosen Louis Braille entwickelte, auch als Brailleschrift bekannte Blindenschrift. Im Lauf der Zeit lernte sie, mehrere Fremdsprachen in Brailleschrift zu lesen und zu schreiben: Französisch, Deutsch, Griechisch und Latein. Außerdem eignete sie sich die Fähigkeit zum Schreiben auf einer Schreibmaschine an. Und schließlich versuchte Helen Keller auch, sprechen zu lernen.
Im Alter von etwa 20 Jahren begann Helen Keller mit dem Studium mehrerer Fremdsprachen, das sie erfolgreich abschloss. Nach ihrem Studium kümmerte sie sich selbst um blinde oder taube Menschen. Sie wurde in die Blindenkommission des US-Bundesstaats Massachussets berufen. In dieser Eigenschaft hielt sie viele Vorträge über das Leben mit einer Behinderung.
Als Pazifistin und Sozialistin – sie war Mitglied der Sozialistischen Partei Amerikas (SPA) – setzte sie sich auch für die Rechte Unterdrückter ein, so auch jener der schwarzen Bevölkerung. Auch der Gleichstellung von Mann und Frau wandte sie sich zu.
Helen Keller machte sich auch als sehr aktive Schriftstellerin einen Namen. Sie verfasste insgesamt 10 Bücher, in die sie ihre eigene Lebensgeschichte einwob.
Kurz vor ihrem Tod soll sie gesagt haben: „Ich bin blind, aber ich sehe; ich bin taub, aber ich höre.“. Helen Keller gilt als eine Kämpferin und mutige Frau, die ihr Schicksal annahm, für sich sorgte, gesetzte Grenzen sprengte und – bildlich gesprochen – ihr Territorium erweiterte. Noch heute gilt sie als „Engel der Blinden“.
Jacqueline Fritz
Ein Unfall veränderte im Alter von 15 Jahren das Leben von Jacqueline Fritz. Sie tanzte Ballett auf Leistungsniveau und hatte Freude an der Bewegung. Bei der Behandlung eines gerissenen Innenbands im Sprunggelenk traten nach einer Operation Komplikationen auf. Nach diversen Behandlungen ließ sich die Amputation des rechten Unterschenkels nicht mehr vermeiden. An Balletttanz war nicht mehr zu denken.
Während eines der vielen Reha-Aufenthalte in Bayern entdeckte sie etwas, das ihr neuen Mut machte: das Wandern in den Bergen. Freundschaften mit Einheimischen, die an den Wochenenden immer in den Bergen waren, ebneten dazu den Weg. Sie empfand Langeweile, während sie auf die Fertigstellung ihrer Prothese wartete. Und sie empfand, dass sie eine Aufgabe brauchte. So setzte sie sich zum Ziel, am Ende ihrer Zeit am Chiemsee mit ihren Freunden auf einen Berg zu gehen. Im Gespräch mit dem Magazin „Aktiv in den Alpen“ erzählte sie von den Anfängen ihrer Wanderleidenschaft und den Widerständen aufgrund ihrer Behinderung, die zu überwinden waren. Von Bedenken ließ sie sich nicht abhalten.
Eine schwere Operation am Rücken brachte einen heftigen Rückschlag mit sich. Aber in den Bergen kehrte ihre Willenskraft wieder zurück. Sie beschloss, wieder mit dem Wandern anzufangen. Auf dem Gipfel des Neunerköpfle bei Füssen spürte sie den überaus heftigen Impuls, weiterzumachen. Die Idee einer Alpenüberquerung war geboren.
Diese Idee der Alpenüberquerung von Garmisch-Partenkirchen nach Meran mit Krücken und ohne Prothese, runde 320 Kilometer und 35.000 Höhenmeter, wollte Jacqueline Fritz im Sommer 2015 in die Tat umsetzen. Die gesamte Strecke wollte sie einbeinig, nur mit Gehstützen, bewältigen. Auf die Nutzung von Bergbahnen sollte vollständig verzichtet werden. Ein derartiges Vorhaben hatte bis dahin noch kein solcherart behinderter Mensch versucht.
Zuvor suchte Jacqueline Fritz Sponsoren, musste aber zunächst die Erfahrung machen, dass man sie und ihre Pläne nicht sonderlich ernst nahm. Dadurch bedingt musste sie ihr Vorhaben um ein Jahr zurückstellen.
In der Zeit von Ostern bis Oktober 2015 unternahm sie viele Touren im Gebirge. Neben ihrem normalen Berufsalltag investierte sie praktisch jede freie Minute in ihr Vorhaben. Sie kümmerte sich weiter akribisch um Beziehungen zu Sponsoren und versuchte, die erforderlichen Mittel zu akquirieren.
Dann war es endlich soweit. Im Sommer 2016 konnte sie mit 15 kg Gepäck auf dem Rücken zu ihrer Alpenüberquerung aufbrechen. Begleitet wurde sie von einer Kamerafrau und ihrem Hund Loui. Vom Start bei Garmisch-Partenkirchen führte der Weg zunächst auf die Zugspitze, den höchsten deutschen Gipfel. Weiter ging es über Leutasch ins Stubaital und von dort über den Meraner Höhenweg nach Meran in Südtirol. Sie hielt sich abseits der bekannten Fernwanderwege und stieg im Hochgebirge bis auf eine Höhe von rund 3.300 Meter auf.
Nach ihrer erfolgreichen Alpenüberquerung folgten diverse weitere Vorhaben. Jacqueline Fritz steckte sich neue Ziele: Sie begann zu klettern und wurde Mitglied der Para-Nationalmannschaft. Außerdem nahm sie sich vor, das Skifahren zu lernen, um Skitouren gehen zu können.
Ihr Anliegen formulierte sie so: „Mit meinen Vorhaben will ich körperlich oder geistig eingeschränkten Menschen zeigen, was man mit eiserner Willenskraft erreichen kann, und sie motivieren sich für ihre eigenen Interessen mit der gleichen Energie einzusetzen!“. Und weiter: „Ich möchte inspirieren und motivieren und Berührungsängste zwischen gehandicapten und gesunden Personen abbauen.“.
Grenzen verschieben – eine Daueraufgabe?
In der einen oder anderen Form sind wir alle mit Grenzen, die uns gesetzt werden, konfrontiert, immer wieder. Es mögen Grenzen sein, die einem das Alter setzt. Vielleicht sind es auch Einkommensgrenzen. Oder vielleicht sind es die Meinungen und Ansichten anderer Menschen, auf die man hört, beispielsweise Freunde oder Bekannte. „Das schaffst du nie!“. „Das ist eine Nummer zu groß für dich!“. „Dafür bist du zu alt!“. So oder ähnlich mag es sich anhören. Doch damit lässt man sich Grenzen setzen.
Wenn man Grenzen nicht (mehr) anerkennt, bedeutet dies dann, Fakten einfach zu ignorieren? Gibt man sich dann dem Leichtsinn oder der Fahrlässigkeit hin? Keineswegs! Man verschafft sich vielmehr selbst Zugang zum Bewusstsein der eigenen Stärken. „Wie kann ich meine Stärken einsetzen, um meine Grenzen zu verschieben und damit mein Territorium auszudehnen?“, so oder ähnlich lautet dann die Frage. Und wenn man sich dann daran macht, sein Territorium zu erweitern, wird man bereichernde Erfahrungen machen – Erfahrungen, die man nie gemacht hätte, wenn man in seinen Grenzen geblieben wäre.
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