Wahre Liebe ist die uneigennützige Aufgabe, Raum zu schaffen …Lesezeit: 8 Min.

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„Wahre Liebe ist die uneigennützige Aufgabe, Raum zu schaffen, damit der andere sein kann, wer er ist.“

Jorge Bucay
Wahre Liebe ist die uneigennützige Aufgabe, J. Bucay - Gestaltung: privat
Gestaltung: privat

Jorge Bucay (geb. 1949) ist ein argentinischer Psychiater, Gestalttherapeut und Autor. Mit dem Titel „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“ gelang ihm der internationale Durchbruch als Autor. Bucays Bücher wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und haben sich weltweit über zehn Millionen Mal verkauft. Neben Paulo Coelho ist er einer der meistgelesenen Autoren Lateinamerikas.

Wahre Liebe – es gibt sie

Im September 2019 wurde in vielen Medien über ein äußerst seltenes Ereignis berichtet. Unter anderem widmete ihm auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Artikel. Charlotte und Ludwig Piller konnten in diesem Monat die Eichenhochzeit feiern, den 80. Jahrestag ihrer Heirat. Ludwig Piller stand kurz vor seinem 105. Geburtstag. Charlotte Piller war 98 Jahre alt.

Wer die Goldene Hochzeit, die für 50 gemeinsame Ehejahre steht, schon hinter sich hat, wird auf manche Höhen und Tiefen, auf gute und auf schlechte Zeiten zurückblicken. Die Beziehung hat auch die Tiefen, die schlechten Zeiten, überstanden. Die beiden Partner sind trotz allem beieinandergeblieben.

Wer sonst als langjährig verheiratete Paare könnte etwas Substanzielles darüber sagen, was wahre Liebe ausmacht? Dabei wird implizit davon ausgegangen, dass gegenseitige Liebe die Beziehung trägt und dass sich die Partner nicht im Zeitverlauf auseinandergelebt haben und nun wie Bruder und Schwester in einer Art Wohngemeinschaft miteinander leben.

Gibt es ein Rezept für eine langjährige glückliche Beziehung?

Wenn man die durchaus vielen Rückblicke langjährig verheirateter Paare auf ihr gemeinsames Leben, bildlich gesprochen, nebeneinanderlegt und nach Gemeinsamkeiten hinsichtlich der „Erfolgsfaktoren“ für eine langjährige, glückliche Beziehung sucht, wird man fündig. Diese Gemeinsamkeiten können als Zutaten für ein Rezept verstanden werden. Für dieses Rezept sind nach den Erfahrungen langjährig verheirateter Paare insbesondere drei Zutaten absolut unverzichtbar:

  • Vertrauen,
  • Hingabe,
  • Toleranz.

Zu einem Rezept, beispielsweise einem Rezept für eine Sachertorte, gehören nicht nur die Zutaten, sondern auch eine Verfahrensbeschreibung. In welcher Reihenfolge und wann sollen welche Zutaten eingebracht und wie sollen sie verarbeitet werden, damit das gewünschte Ergebnis erzielt wird?

Für eine Beziehung kann es allerdings keine allgemeine Verfahrensbeschreibung geben. Schließlich ist jeder der Partner für sich eine Persönlichkeit mit individuellen Charaktereigenschaften. Und beide Partner entwickeln sich im Lauf ihres Lebens auch unabhängig voneinander weiter. Es kann nur der Kreativität beider Partner überlassen bleiben, auf dem Fundament der Grundzutaten ihr Miteinander dynamisch so zu gestalten, dass eine langjährige, glückliche Beziehung gelingen kann. Dieses dynamische Gestalten – ist „Wachstumsprozess“ nicht der treffendere Begriff?

Die Grundzutaten

Vertrauen, Hingabe und Toleranz sind, wir schon erwähnt, nach den Erfahrungen langjährig glücklich verheirateter Paare in einer Beziehung unverzichtbar. Doch was genau bedeuten diese Begriffe für eine Beziehung?

Vertrauen

Vertrauen bezeichnet in einer Beziehung die subjektive und vorbehaltlose Überzeugung von der Richtigkeit, Wahrheit von Handlungen, Einsichten und Aussagen bzw. der Redlichkeit des Anderen. Der Begriff „Vertrauen“ alleine beschreibt nach den Erfahrungen der langzeitverheirateten Paare trotzdem noch nicht hinreichend, welche Art Vertrauen für eine langjährige, glückliche Beziehung notwendig ist. „Blindes Vertrauen“ ist wohl der geeignetere Begriff.

Zum blinden Vertrauen gehört auch, die Überlegungen, Vorhaben, Pläne usw.  des Partners auf der Basis bester Absicht zu deuten. Auch wenn noch nicht klar ist, worauf der Andere hinauswill – die Erwartung ist positiv.

Auf dieser Vertrauensgrundlage kann sich eine konstruktive Streitkultur entwickeln. Man kann auch schwierige Themen miteinander besprechen, ohne Angst davor zu haben, dass sich der Andere beleidigt zurückzieht. Jeder weiß vom Anderen, dass er es gut meint.

Blindes Vertrauen schafft Raum in einer Beziehung. Man steht nicht unter dauernder Beobachtung und man kontrolliert auch den Anderen nicht ständig. Welchen Anlass, beispielsweise für die Kontrolle des Smartphones des Partners, sollte es bei blindem Vertrauen denn geben? Auch Eifersucht hat bei blindem Vertrauen keinen Platz.

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Erfolg ist nichts Endgültiges, W. Churchill - Gestaltung: privat
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Hingabe

In einer Beziehung wird unter Hingabe eine rückhaltlose Hinwendung zu einer Person verstanden. Diese Person, der Partner, ist für einen von höchstem persönlichem Wert. Es verwundert deshalb nicht, wenn Hingabe in einer Beziehung auch mit dem Attribut der Exklusivität verknüpft wird. Man möchte sich in einer Liebesbeziehung nur einer Person hingeben. Der Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm drückte es aus einem etwas anderen Blickwinkel so aus: „Liebe heißt, dass wir uns dem Anderen ganz ohne Garantie ausliefern.

Rückhaltlose Hinwendung – mit anderen Worten: totale Hingabe – bedeutet in diesem Kontext auch, den ganzen Menschen zu lieben, den Partner auch mit allen seinen Fehlern und seinen Schwächen zu lieben. Die Hingabe gilt einem Partner, der nicht vollkommen ist, dem immer wieder Fehler und Irrtümer unterlaufen.

Hat Hingabe in der Konsequenz auch zur Folge, immer wieder zum Verzeihen und Neuanfangen bereit zu sein? Würde diese Bereitschaft fehlen, wäre der Hingabe der Boden weggezogen. Wenn man sich einer Person rückhaltlos hinwendet, aber nicht zum Verzeihen und Neuanfangen bereit ist, entzieht man zwangsläufig seine Hingabe.

Toleranz

Unter Toleranz wird im Allgemeinen verstanden, dass man die Überzeugungen sowie die Handlungs- und Verhaltensweisen des Anderen gelten lässt. In einer Ehe wird Toleranz jedoch oft auf eine harte Probe gestellt. Schließlich lernten die Partner in ihren jeweiligen Elternhäusern höchstwahrscheinlich unterschiedliche Überzeugungen und ebenso unterschiedliche Handlungs- und Verhaltensweisen kennen. Diese bringen sie gewissermaßen in die Ehe mit.

Wie können die Partner mit den unweigerlichen Konflikten umgehen, die sich aus ihrem unterschiedlichen Aufwachsen und Werden ergeben? Eine – allerdings fatale – Möglichkeit besteht darin, um die Meinungs- und Deutungshoheit zu kämpfen und den Partner auf seine Seite ziehen – oder besser gesagt: zerren – zu wollen. Dann stellt einer der Partner Normen auf, denen sich der Andere zu fügen und zu unterwerfen hat.

Die andere Möglichkeit besteht darin, sich gegenseitig Freiräume einzuräumen und diese auch zu bewahren. Doch wie weit sollen Freiräume reichen? Sicherlich fällt es beispielsweise leichter, mit den andersartigen politischen Überzeugungen des Partners umzugehen als mit dessen andersartigen Verhaltensweisen, die man selbst als problematisch ansieht.

Ist es dann nicht Sache beider Partner, ein Maß maximal möglicher gegenseitiger Toleranz auszuhandeln? Wenn die Grenzen möglichst weit gesteckt werden, finden beide Partner Freiraum für ihre jeweils eigene Weiterentwicklung. Schließlich entwickelt sich jeder der Partner auch für sich weiter und bleibt nicht bei der Persönlichkeit stehen, die sie bzw. er einmal war.

Der Wachstumsprozess

Angelika und Franz (Namen geändert) waren ineinander verliebt. Etwa drei Jahre nach ihrem Kennenlernen heirateten die beiden. Angelika war damals knapp 20 Jahre alt. Franz feierte im Jahr der Hochzeit seinen 25. Geburtstag.

Im Rückblick wurde insbesondere Franz klar, mit welcher Leichtfertigkeit er sich damals für die Heirat mit Angelika entschied. Er war „unsterblich“ in Angelika verliebt und wollte seine Zukunft unbedingt mit ihr verbringen. Aber Franz war damals nicht wirklich und in letzter Konsequenz bewusst, worauf er sich mit der Ehe einließ. Er ging davon aus, dass sie es in ihrer Beziehung schon schaffen würden. Schließlich liebten sie sich ja.

Wie wohl jedes andere Ehepaar auch, gingen auch Angelika und Franz in ihrer Beziehung über holprige Wegstrecken. Doch an den drei Grundzutaten fehlte es bei beiden nie. Und sie stellten fest, dass sich Vertrauen, Hingabe und Toleranz nicht voneinander trennen lassen. Beispielsweise fällt Toleranz ohne Vertrauen schwer.

Für Angelika und Franz war es auch eine Sache des Willens, an ihrer Beziehung festzuhalten. Ihnen wurde bewusst, dass sie sich auf einen Wachstumsprozess einließen. So konnte sich ihre Liebe zueinander entwickeln und reifer werden. Sie nahmen wahr, dass sich die Liebe nicht von alleine entwickelt, genauso wenig, wie beispielsweise ein Baum von alleine wächst. Ein Baum benötigt für ein gesundes Wachstum einen geeigneten Lebensraum und natürlich Nährstoffe.

Angelika und Franz wurde außerdem eine Paradoxie bewusst. Einerseits hielten sie eng zusammen, andererseits ließen sie einander Raum, ihre jeweilige Persönlichkeit zu entfalten und auch Aktivitäten nachzugehen, die ihnen am Herzen lagen.

Gutes und Sinnvolles tun – ganz praktisch

Geschenk mit Text - Gestaltung: privat
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Wahre Liebe – eine Aufgabe?

Führt der Wachstumsprozess der Liebe von der besitzergreifenden Liebe hin zur raumschaffenden Liebe? Als Franz sich in Angelika verliebte, wollte er sie „haben“. Er stellte sich die Zukunft mit ihr vor und wollte sie gemeinsam mit ihr verbringen.

Wenn Franz bei der besitzergreifenden Liebe stehen geblieben wäre, hätte er Angelika gewissermaßen auf ein Objekt reduziert. Er hätte sie auf ein Bild festgelegt, dem sie zu entsprechen hat. Was aber geschieht, wenn sich Angelika weiterentwickelt und verändert? Ist sie dann weiterhin liebenswert und wird sie weiterhin geliebt?

Eine besitzergreifende Liebe hat stets auch den Charakter einer einengenden Liebe. Es verwundert nicht, dass eine einengende Liebe immer wieder den Impuls provoziert, aus der Enge – vielleicht ist sie schon zum Gefängnis geworden – auszubrechen. Man will nicht (mehr) dem Bild entsprechen, das sich der Andere gemacht hat.

Die raumgewährende Liebe lässt dem Anderen Spielraum, sich weiterzuentwickeln. Sie fordert nicht und setzt nicht unter Druck. Sie lässt den Anderen sein, wie er ist. Und sie akzeptiert den Anderen als ein Gegenüber auf Augenhöhe und hat das Wohl des Anderen im Blick. Und obwohl sie den Anderen freigibt, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass der Andere die Freiheit missbraucht. Im Gegenteil: die Bindung wird sogar enger.

Reicht es aus, Raum zu gewähren oder ist es sogar die Aufgabe, Raum zu schaffen? Raum wird passiv gewährt; Raum zu schaffen bedingt jedoch aktives Handeln. Man lässt nicht nur etwas zu, sondern man setzt sich aktiv für etwas ein. Der Andere soll sein volles Potenzial ausschöpfen können und man setzt sich dafür ein, dass er es kann. In diesem Sinn ist wahre Liebe tatsächlich eine uneigennützige Aufgabe.

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Ich bin Dieter Jenz, Begleiter, Berater und Coach mit Leidenschaft. Über viele Jahre hinweg habe ich einen reichen Schatz an Kompetenz und Erfahrung erworben. Meine Themen sind die "4L": Lebensaufgabe, Lebensplanung, Lebensnavigation und Lebensqualität.