„Wenn ein Mensch seine eigene Berufung entdeckt, dann wirkt sich das klärend auf alle seine Lebensbereiche aus. Seine Lebensaufgabe hilft ihm, weise zu werden, und hilft ihm, das, was die Entfaltung des Menschen behindert, zurückzudrängen.“
Jean Monbourquette
Jean Monbourquette (1933-2011) war ein kanadischer Tiefenpsychologe, klinischer Psychologe und Theologe. Außerdem war er Autor mehrerer Bücher, von denen einige in andere Sprachen übersetzt wurden.
Was wird geklärt?
Angenommen, die individuelle Berufung wurde schon entdeckt. Man weiß um seine Gaben und Fähigkeiten und um seine persönlichen Interessen und Visionen. Was ändert sich dann im Leben?
Menschen haben die Möglichkeit und Fähigkeit zur Gestaltung ihres Lebens, es sei denn, es bestehen schwerwiegende Einschränkungen, beispielsweise aufgrund von Behinderungen. Jeder Mensch ist für sein Leben selbst verantwortlich und will Bedürfnisse, die er hat, befriedigen. Dazu zählen u. a. die physiologischen Grundbedürfnisse (Essen, Trinken, Schlaf, Gesundheit usw.), das Bedürfnis nach Beziehung, und das Bedürfnis nach Kontakt und Zugehörigkeit.
Damit beispielsweise die physiologischen Grundbedürfnisse befriedigt werden können ist es erforderlich, die für Nahrungsmittel, Kleidung usw. benötigten finanziellen Mittel durch Arbeit, für die Zeit aufgewendet werden muss, zu erwirtschaften. Die Bedürfnisse nach Beziehung sowie Kontakt und Zugehörigkeit werden oft außerhalb der durch Arbeit gebundenen Zeit befriedigt. Auch für diese Bedürfnisse müssen Geld und Zeit eingesetzt werden. So ergeben sich mehrere Bereiche, in denen sich das Leben abspielt.
Welche Lebensbereiche gibt es eigentlich? Eine allgemeine Antwort ist nicht möglich, da es keine formale Festlegung dafür gibt. Alfred Adler, Arzt und Psychotherapeut, der zudem als der Begründer der Individualpsychologie gilt, unterscheidet drei zentrale Lebensaufgaben: Liebe, Arbeit und Gemeinschaft. Diese Aufgaben lassen sich auch in Lebensbereiche übersetzen. In Anlehnung an Alfred Adlers Konzept sind dies: Arbeit und Freizeit, Liebe und Partnerschaft, Gemeinschaft (im sozialen Netz).
Wenn eine bestimmte Ressource (z. B. Zeit) in mehreren Lebensbereichen benötigt wird, stellt sich die Frage, welchem Lebensbereich welches Maß an verfügbarer Zeit zugewiesen wird. Die Antwort auf diese Frage orientiert sich an den Fokussierungen des Lebens und auch daran, welcher Wert Beziehungen zugemessen wird.
Fokussierungen des Lebens
Die Fokussierungen des Lebens, das, worauf man das Leben ausrichtet, orientiert sich am eigenen Wertesystem. Welche Werte sind einem persönlich wichtig? Was gehört zum Wertesystem dazu? Sind es Ansehen, Reichtum, Lust, Verbundenheit …?
Wer würde sich beispielsweise nicht wünschen, in wunderschöner Umgebung den lieben langen Tag tun und lassen zu können, was man möchte? Und das Ganze bei bester Gesundheit, in bester Gesellschaft und ohne materielle Sorgen. Wie ließe sich ein solches Leben beschreiben? Es wäre lustfokussiert. Man würde einfach in den Tag hineinleben und es sich gut gehen lassen. Man würde schlicht das tun, worauf man gerade Lust hat.
Ein Gegenpol zum unbeschwerten lustfokussierten Leben wäre, als Beispiel, ein suchtfokussiertes Leben, das durch Zwänge getrieben wird. Eine Sucht verlangt nach Nachschub des Suchtmittels (z. B. Alkohol, Droge). Es muss immer wieder beschafft werden. Die Anstrengungen zur Wiederbeschaffung führen ebenfalls zu einer Fokussierung des Lebens. Man muss immer wieder überlegen, wie man die finanziellen Mittel aufbringt und wie man das Suchtmittel beschafft. Ein erheblicher Teil der Lebenszeit muss dafür eingesetzt werden.
Eine weitere Möglichkeit besteht in der Fokussierung auf die individuelle Berufung und Lebensaufgabe. Dies bedeutet: Der Lebensaufgabe als Verwirklichung der Berufung wird hohe Priorität gegeben. Sie wird als so wertvoll erachtet, dass man bereit ist, kostbare Lebenszeit dafür einzusetzen und auch seine Kräfte zu investieren. Und es wird als lohnend angesehen, alles, was der Lebensaufgabe im Weg steht, aufzugeben oder dem zumindest eine geringere Priorität zu geben.
Die Fokussierungen des Lebens wirken klärend auf alle Lebensbereiche, positiv wie negativ. Wer ein suchtfokussiertes Leben führt bzw. führen muss, wird seine Prioritäten – was den Einsatz von Zeit, Geld usw. anbelangt -, entsprechend setzen (müssen). Ein Süchtiger wird kaum dazu kommen, sich über seine Berufung und Lebensaufgabe Gedanken zu machen. Wer demgegenüber seine individuelle Lebensaufgabe erfüllen will, kann frei entscheiden, wie sich der Einsatz seiner Ressourcen auf seine Lebensbereiche auswirken soll.
Wird es, wenn man seine Lebensaufgabe lebt, im Leben überhaupt ein Vakuum geben können, das irgendwie kompensiert werden muss? Höchstwahrscheinlich nicht, denn das Leben ist in positiver Weise fokussiert und es ist mit Sinn erfüllt. Weshalb sollte man auch nur daran denken, beispielsweise zu Stoffen mit hohem Suchtpotenzial (z. B. Alkohol, Drogen) zu greifen?
Beziehungen
Ein Leben ist ohne zwischenmenschliche Beziehungen nicht vorstellbar. Sie sind in vielerlei Hinsicht gewissermaßen lebensnotwendig und durchziehen alle Lebensbereiche. Jeder Mensch ist darin frei, sich die Beziehungen zu suchen, die seinem Wertesystem entsprechen.
Im Hinblick auf Berufung und Lebensaufgabe weist die Fokussierung die Richtung, mit welchen Menschen Beziehungen geknüpft und vertieft werden. Es werden Menschen sein, mit denen man über die Berufung und Lebensaufgabe in der einen oder anderen Form verbunden ist.
Beziehungen werden gegenseitig bereichernd und von gegenseitiger Resonanz getragen sein. Resonanz hat mit „schwingen“ zu tun. Das Beispiel des Orchesters eignet sich sehr gut, um Resonanz zu veranschaulichen. Beim Dirigenten reflektieren alle Teile des Körpers die Musik: Hände, Nase, Füße, Augen. Doch auch bei den Musikern lässt sich Ähnliches beobachten. Nicht nur Töne werden „produziert“, auch die Körper „produzieren“ eine Botschaft. Musik ist das Abbild einer gelungenen Kommunikation zwischen dem Dirigenten und den Musikern. Aber nicht nur Dirigent und Musiker „schwingen“. Die Schwingungen übertragen sich auch auf das Publikum, und so schwingen letztlich alle. So wird auch das Publikum in die Kommunikation mit einbezogen und erfasst. Resonanz wird spürbar und erlebbar, und alle werden – wenn die Kommunikation gelingt – in ihrem Innersten berührt.
Im zwischenmenschlichen Bereich werden resonante Beziehungen ebenso erlebbar. Resonanz ist Ausdruck einer Art Seelenverwandtschaft. Man erlebt, dass es keinesfalls schwerfällt, sich lange zu unterhalten. Im Gegenteil: der Gesprächsstoff scheint nicht auszugehen. Gespräche bleiben auch nicht an der Oberfläche, sondern gehen in die Tiefe. Resonanzpartner empfinden Freude miteinander und aneinander. Selbst wenn sie einander eine Zeit lang nicht gesehen haben, scheint es ihnen, als hätte es die zeitliche Trennung nicht gegeben. Alles erscheint wieder frisch und doch vertraut. Dieser Resonanzeffekt lässt sich auch mittels biometrischer Daten, wie beispielsweise Herzfrequenz oder Hirnstrommessung, festhalten und belegen.
Die Lebensaufgabe bringt in Beziehungen mit anderen Menschen, mit denen man über seine Lebensaufgabe in der einen oder anderen Form verbunden bin. Sie bildet ebenfalls einen Resonanzkörper. Man „schwingt“ gewissermaßen mit seiner Lebensaufgabe. Damit schafft man beste Voraussetzungen, anderen Menschen zu begegnen, mit denen sich ein gemeinsamer Schwingungsrhythmus ergibt. Man kann resonante Beziehungen erleben und genießen.
Menschen, die resonante Beziehungen aufbauen können, sind in vielerlei Hinsicht im Vorteil. Manager haben als Führungskräfte mehr und nachhaltigeren Erfolg. Pädagogen, die Resonanz herstellen können, haben selbst mit problematischen Schülern weniger Probleme. Therapeuten erleben einen besseren und tieferen Zugang zu ihren Klienten bzw. Patienten. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Durch resonante Beziehungen hilft man sich selbst aber auch auf andere Weise. Ein gutes soziales Netz aus Freunden und Bekannten kann sogar schwer traumatisierende Erlebnisse mildern. Wenn man mit schwerwiegenden beruflichen oder familiären Problemen oder einem Schicksalsschlag zu kämpfen hat, kann man die tragende Kraft resonanter Beziehungen erfahren.
Was bedeutet es, weise zu werden?
Wenn man seine individuelle Lebensaufgabe nicht gerade durch eine Art „Erkenntnisblitz“ gefunden hat, ist man schon einen weiten Weg gegangen. Man hat sich viel mit sich selbst beschäftigt, in sich hineingehört und intensiv nachgedacht. Man hat sein Umfeld beobachtet und Schlüsse gezogen.
In gewisser Hinsicht ist man schon weise geworden und wird es noch mehr, wenn die Lebensaufgabe gelebt wird. Weise zu sein bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch: abgeklärt, gereift, wissend, lebenserfahren, klug sein. Wer in diesem Sinne weise ist, wird Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden können, sich abgrenzen können, Prioritäten setzen können. Man kennt seine Gaben und Fähigkeiten, man entwickelt sie weiter. Und man konzentriert sich darauf, seine Stärken auszuspielen, anstatt zu versuchen, mühsam Schwächen zu beheben.
Was behindert die Entfaltung?
Die Lebensaufgabe drängt zu Geradlinigkeit im Leben, wirkt gewissermaßen als Leitstrahl. Sie weist den Weg, wie man sich entfalten kann, und das Wissen um die Lebensaufgabe hilft auch dabei zu erkennen, was der Entfaltung im Weg steht.
Natürlich widmet sich niemand seiner Lebensaufgabe ohne Emotionen. Im Gegenteil: die Lebensaufgabe spiegelt wider, wofür man sich dauerhaft begeistern kann und wofür man brennt. Würde diese nachhaltige Begeisterung fehlen bestünde die reale Gefahr, dass man seine Lebensaufgabe aufgibt, sobald man auf Widerstände und Schwierigkeiten stößt.
Es mag durchaus sein, dass man sich für zu viel begeistert. In der Folge besteht die Gefahr, dass man sich verzettelt. Es könnte, bildlich ausgedrückt, zu Wildwuchs kommen. Vielleicht will man sogar etwas entfalten, was nicht entfaltet werden kann, d. h. man bräuchte eine Fähigkeit, die man nicht hat.
Wildwuchs lässt sich gut am Beispiel der Wassertriebe, die beispielsweise bei Weinreben auftreten, veranschaulichen. Wassertriebe wachsen am Rebstock schnell und tragen im Allgemeinen keine Frucht. Sie werden prinzipiell noch im Frühjahr zur Zeit des Austriebes entfernt, da sie eine wasser- und nährstoffentziehende Konkurrenz für das Wachstum der Fruchttriebe darstellen. In sinnentsprechender Weise hilft die Lebensaufgabe, das zurückzudrängen, was die Entfaltung behindert. Man wird darauf achten, sich nicht auf Nebenkriegsschauplätzen zu verlieren.
Freude ist angesagt
Wenn man seine Lebensaufgabe gefunden hat und sich ihr mit ganzem Herzen und innerer Überzeugung widmet, gibt man seinem Leben Struktur und Richtung. In jedem Fall wird man produktiv sein, Neues schaffen, in welcher Hinsicht auch immer dies geschehen mag. An diesem Geschaffenen darf man sich von Herzen freuen. Und man darf sich auch daran freuen, dass man seinem Leben mehr Tiefe gibt.
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