„Wer zu sich selbst finden will, darf andere nicht nach dem Weg fragen.“
Paul Watzlawick
Paul Watzlawick (1921-2007) war ein österreichisch-amerikanischer Kommunikationswissenschaftler, Psychotherapeut, Philosoph und Autor. Er entwickelte verschiedene gesprächsanalytische Theorien und gilt als einer der populärsten Theoretiker der menschlichen Kommunikation. Seine Arbeiten hatten Einfluss auf die Familientherapie und allgemeine Psychotherapie.
Von einem, der auszog, sich selbst zu finden
„Von einem, der auszog …, so beginnt ein bekanntes Märchen der Gebrüder Grimm. Es erzählt die Geschichte eines nicht für sonderlich intelligent gehaltenen jungen Mannes. Dieser macht sich auf die Suche nach einer Gelegenheit oder einem Ort, wo er sich fürchten konnte. Zuhause gab es für ihn keine Gelegenheit dazu.
Peter (Name geändert) hatte seine Lebensmitte schon längst überschritten. Für ihn begann mit dem Ausscheiden aus der beruflichen Tätigkeit und dem Beginn des Rentnerdaseins ein neuer Lebensabschnitt. Es war eine Zäsur. Wie sollte es weitergehen? Sich einfach auf die „faule Haut“ legen, das wollte er nicht. Doch was wollte er? Konnte er diese Frage wirklich beantworten, ohne sich selbst zu kennen, ohne zu wissen, wer er gerade war?
Wenn Peter wirklich wissen wollte, wer er gerade war, musste er zu sich selbst finden – wieder einmal. Schon früher gab es bei bestimmten Weichenstellungen im Leben dafür immer wieder Anlässe. Aber er hatte nie viel Zeit und Überlegung investiert. Er hatte einfach versucht, die Möglichkeiten zu nutzen, die sich ihm boten.
In Peters bisherigem Leben war bei weitem nicht alles glatt gelaufen. Hätte er intensiver nachgedacht, sich mehr Zeit genommen, hätte er vielleicht, den ein oder anderen Irrweg vermeiden können. Aber diese Gedanken waren jetzt müßig, denn die Vergangenheit ließ sich im Nachhinein nicht mehr verändern.
Natürlich hätte sich Peter dem „(wieder) zu sich selbst finden“ auch entziehen können. Doch was hätte es gebracht? Er wäre gewissermaßen stehengeblieben, hätte die Nachlässigkeiten der Vergangenheit wiederholt, und hätte darüber hinaus für seinen weiteren Lebensweg nichts gewonnen. Also ließ er sich auf das „(wieder) zu sich selbst finden“ ein.
Zu sich selbst finden wollen bedeutet, dass man akzeptiert, dass man sich noch nicht wirklich kennt. Und man akzeptiert auch, dass das Kennen mehr oder weniger immer nur eine Momentaufnahme ist. Karl Jaspers, Psychiater und Philosoph, formulierte es so: „Der Mensch ist immer mehr, als er von sich weiß. Er ist nicht, was er ein für alle Mal ist, sondern er ist Weg.“.
„Von einem, der auszog, sich selbst zu finden“ – so ließ sich Peters Aufbruch zur Reise zu sich selbst charakterisieren. Es war ein Aufbruch, ein Auszug, der ihn zu sich selbst führte. In gewisser Weise war es sogar, wie sich bei ihm noch zeigen sollte, eine Reise ins Ungewisse.
Zu sich selbst finden – wie kann man beginnen?
Die Reise zu sich selbst muss irgendwo beginnen. Wie kann man einen guten Anfangspunkt finden, wenn man zu sich selbst finden will? Mögliche Ansatzpunkte sind die Fragen: „Was habe ich schon?“ und „Was bewegt mich?“.
Was habe ich schon?
Bei diesem Ansatz geht es vor allem darum, die eigenen Ressourcen (Begabungen, Fähigkeiten und Kompetenzen), Überzeugungen und Werte gewissermaßen gedanklich zu inventarisieren. Was schon da ist, hat sich im Lauf der eigenen Geschichte entwickelt und ergeben.
Jeder Mensch verfügt über ein Bündel an Begabungen, Fähigkeiten und Kompetenzen. Was in diesem Bündel steckt, lässt sich weiterentwickeln. Weshalb also nicht bewusst auf das blicken, was an Ressourcen schon angelegt und da ist? Zu sich selbst finden, bedeutet auch, seine Ressourcen zu „ent-decken“. Und es bedeutet auch, ein volles und uneingeschränktes „Ja“ zu ihnen zu finden. Dies ist vor allem dann notwendig, wenn man mit seinen Ressourcen nicht (ganz) zufrieden ist und gerne andere oder stärker ausgeprägte hätte.
Zu den eigenen Ressourcen gesellen sich die persönlichen Überzeugungen und Werte hinzu. Zu den persönlichen Werten zählen beispielsweise Integrität, Zuverlässigkeit, Spontaneität, Unabhängigkeit, Gerechtigkeit, Fairness, Aufrichtigkeit usw.
Dieser Ansatz krankt an der Lücke zwischen „Haben“ und „Sein“. Was man an Ressourcen, Überzeugungen und Werten schon hat, hat sich nicht zufällig so ergeben. Manche persönlichen Überzeugungen und Werte sind vielleicht das Ergebnis schmerzhafter Erfahrungen. Wie auch immer – man kann auf etwas bauen und es weiterentwickeln. Aber man kann nicht sagen: „Ich bin meine Ressourcen, Überzeugungen und Werte“.
Was bewegt mich?
Die Gefühle sind es, die bei diesem Ansatz die wichtigste Rolle spielen. Gefühle weisen darauf hin, was einem wirklich wichtig ist, wofür das Herz schlägt. „Wofür will ich von Herzen einstehen?“, „Was ist meine tiefste Sehnsucht“, „Was liebe ich aus tiefstem Herzen?“, „Was macht mich sofort hellwach?“ und „Was setzt in mir Energie frei?“ zählen zu den geeigneten Ausgangsfragen, damit Gefühle erspürt werden können.
Den positiv bewegenden Gefühlen stehen hemmende Gefühle entgegen. Auch sie gilt es zu erspüren. „Was macht mich zutiefst wütend?“, „Was macht mir Angst?“, „Was löst bei mir Neid aus?“ und „Was raubt mir meine Energie“ zählen hier zu den geeigneten Ausgangsfragen. Die negativen Gefühle möchte man natürlich gerne vermeiden. Da sie aber zum Leben dazugehören, darf man sie nicht einfach ausblenden.
Jeder Mensch wird mehr oder weniger bewusst von seinen Gefühlen gesteuert. Sie wirken auch auf die persönlichen Überzeugungen und Werte. Deshalb ist es durchaus gerechtfertigt, den Weg über die Gefühle zum Königsweg zu erheben.
Zu sich selbst finden – was kommt dabei heraus?
Es ist nur natürlich, sich die Frage zu stellen: „Was kommt dabei heraus, wenn ich zu mir selbst finde?“. Würde man von vornherein erwarten, dass nichts dabei herauskommt, könnte man sich die Zeit dafür sparen. Wenn man aber erwartet, dass man nur gewinnen kann, kann man sich mit Elan auf den Weg der Selbstfindung machen.
Der Weg ist nicht unbedingt leicht und kann auch mit Schmerz verbunden sein, der sich beim Beschäftigen mit der eigenen Geschichte und der Auseinandersetzung mit sich selbst bemerkbar macht. Aber dieser Schmerz muss ausgehalten werden und das Aushalten lohnt sich auch.
Wer die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ findet, schafft für sich eine Basis, die Zukunft aktiv zu gestalten. Man weiß
- Was man im Leben wirklich möchte
- Was einem guttut und was nicht
- Wofür man einstehen und kämpfen will
- Was einem wirklich wichtig ist
- Was einen motiviert und antreibt
- Weshalb man sich so verhält, wie man sich verhält
- Weshalb man so reagiert, wie man reagiert
Wenn man sich selbst gefunden hat, kann man sich so akzeptieren, wie man gerade ist, Man fühlt sich bei sich selbst zu Hause und ist mit sich selbst im Reinen. Man erkennt, wann man authentisch ist. Und dann gewinnt man auch das Urteilsvermögen, ob schon getroffene und für die Zukunft angedachte Entscheidungen zu einem passen.
Fühlt man sich bei sich selbst zu Hause, kann man daraus Stärke entwickeln und sich selbst verwirklichen. Man gibt keine Macht über sich (mehr) ab, denn man ist nicht von der Anerkennung und Bestätigung anderer Menschen abhängig. Man lässt auch viel weniger zu, dass andere über die Gefühle bestimmen und damit das Verhalten gewissermaßen fremdsteuern. Wenn man auf andere Menschen hört, dann geschieht dies, weil man es wirklich möchte. Und nicht zuletzt übernimmt man die volle Verantwortung für sich.
Weshalb muss man ganz alleine zu sich finden?
Peter machte sich auf die Reise zu sich selbst. Er wollte es so. Wenn er in seiner Zukunft ein erfülltes Leben haben wollte, dann musste er zu sich selbst finden. Schließlich konnte er keiner anderen Person eine Verantwortung für sich zuweisen. Für sein zukünftiges Leben war alleine er verantwortlich. Hätte er sich der Reise entzogen, hätte er die Verantwortung für sich nicht übernommen. Und hätte er seine Reise auf später verschoben, hätte er sich selbst um ein Stück bewusst gelebter Zukunft gebracht.
Weshalb durfte Peter niemand nach dem Weg zu sich selbst fragen? Natürlich wäre es naheliegend gewesen, seine Ehefrau zu fragen. Schließlich kannte sie ihn schon viele Jahre, wusste um seine Charaktereigenschaften, seine Vorlieben und Abneigungen, seine Stärken und Schwächen. Darüber hinaus hätte es sich für Peter auch angeboten, seine Freunde zu befragen. Auch sie kannten ihn schon einige Jahre.
Welche Hinweise hätte Peter bekommen, hätte er tatsächlich seine Ehefrau und seine Freunde befragt? Sowohl seine Ehefrau als auch seine Freunde hätten nur ihre jeweilige subjektive Sicht beitragen können. Ihre Hinweise wären mit ihren subjektiven Wünschen und Erwartungen gefärbt gewesen. Hinter dem „Ich hätte dich gerne so“ hätte durchaus kein böser Wille oder eine böse Absicht gestanden. Es wäre ihnen nicht darum gegangen, Peter zu manipulieren. Sie hätten es durchaus gut mit ihm gemeint und hätten ihm das, was sie gut für ihn hielten, kommuniziert.
Würde man andere Menschen nach dem Weg für sich fragen und sich tatsächlich nach deren Wünschen und Erwartungen richten, würde man höchstwahrscheinlich in einen inneren Konflikt geraten. Das was andere wollen, will man selbst nicht. Man sieht es anders. Wäre es überhaupt denkbar, dass sich Eigen- und Fremdsicht vollkommen decken? Wohl kaum!
Um eine derartige Konfliktsituation zu bereinigen, müsste man sich abgrenzen, etwa so: „Danke, dass du mir das gesagt hast. Aber ich bin nicht auf der Welt, um so zu sein, wie du mich gerne hättest“. Wenn man sich aber abgrenzen muss, kann man es sich von vornherein ersparen, andere nach dem Weg zu fragen. Wie sollten sie ihn auch wissen können? Wenn man immer mehr ist als man über sich selbst weiß, sind andere erst recht überfordert.
Wird die Reise jemals zu Ende sein?
Peter machte sich auf die Reise zu sich selbst. Doch wird diese Reise jemals zu Ende sein? Sie ist dann zu Ende, wenn er sich nicht mehr verändert. Mit anderen Worten: mit Peters Tod.
Bis dahin wird sich Peter im Lauf seines weiteren Lebens verändern. Beispielsweise mögen sich seine persönlichen Überzeugungen und Werte verändern, vielleicht auch ausgelöst durch einschneidende Ereignisse.
Selbstfindung ist ein andauernder Prozess, eine Reise, die während des Lebens nie zu Ende sein wird. Es ist eine Reise, die einem möglicherweise viel abverlangt. Aber es ist auch eine Reise, die bereichert. Man lernt, nahe bei sich selbst zu sein, sich selbst ernst zu nehmen und sich selbst treu zu bleiben.
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